Zeugen Jehovas sollen Aufzeichnungen über sexuellen Missbrauch einer Teenagerin vernichtet haben.
Laut Anklage wurde eine Frau im Alter von 15 Jahren von anderen Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft sexuell missbraucht.
Ein Bericht von David Gambacorta vom 9. Juli 2023 im „The Philadelphia Inquirer“.
Übersetzt von JZ Help
Sarah Brooks wurde als Zeugin Jehovas erzogen. Als Teenager in York wurde sie zwei Jahre lang von zwei anderen Mitgliedern der Organisation sexuell missbraucht und dann gemieden, weil sie über ihren Missbrauch gesprochen hatte.
Sie brauchte jemanden, der sie rettet.
Als Sarah Brooks 15 Jahre alt war und 2003 mit ihrer Familie in York lebte, begannen zwei Erwachsene in ihrem Leben sie sexuell zu missbrauchen. Es waren Menschen, von denen sie dachte, sie könne ihnen vertrauen – Glaubensbrüder der Zeugen Jehovas.
Der Missbrauch dauerte mehr als ein Jahr an, bis Sarah zusammenbrach und sich ihren Eltern anvertraute. Diese alarmierten die Ältesten im Königreichssaal, in dem die Familie ihre Gottesdienste abhielt. Die Ältesten sind das Äquivalent zu Pfarrern.
Sarah hatte das getan, was man Kindern beibringt, wenn ihnen jemand wehtut. Und dann wurde ihr Trauma noch schlimmer.
Ein Ältester warnte Sarah, dass sie „Schande“ über den Namen Jehovas bringen würde, wenn sie sich an die Polizei wende. So heißt es in einer Klage, die sie im Juni vor dem Philadelphia Common Pleas Court gegen die Watchtower Bible and Tract Society of New York, der Führung der Zeugen Jehovas, eingereicht hat.
Andere Älteste, die Sarahs Behauptungen ebenfalls untersuchten, schrieben in einer öffentlichen Mitteilung an den Königreichssaal der Versammlung Yorkana*, dass sie „zurechtgewiesen“ worden sei, was im Sprachgebrauch der Zeugen bedeutete, dass sie etwas Falsches getan hat und es bereut.
(*Yorkana ist ein Bezirk in York County – Familie Brooks war der Gemeine der Zeugen Jehovas in Yorkana angegliedert)
Familienmitglieder und Freunde mieden Sarah, die daraufhin in Depressionen verfiel
Sie zeigte den Missbrauch dennoch bei den Behörden an und löste damit 2013 eine Dringlichkeitssitzung der Ältesten der Zeugen Jehovas aus. Diese wurde einberufen, als die Ältesten erfuhren, dass die Staatsanwaltschaft von York County eine Untersuchung eingeleitet hatte und Unterlagen über Sarahs Missbrauch anfordern würde.
„Wir haben einen Schredder gekauft“, sagte ein Ältester aus York County laut der Klage, „und die Zentrale hat uns gesagt, wir sollen die Unterlagen zu diesem Fall schreddern.“
[Ebenso geschehen in Australien. Siehe: Ältester der Zeugen Jehovas bestätigt Vernichtung von Unterlagen – Royal Commission of Australia! Anm. JZ Help]
Die Watchtower Bible and Tract Society of New York verlangt von allen Ältesten der Versammlungen, dass sie ein sorgfältiges Verfahren befolgen, um Informationen über sexuellen Kindesmissbrauch zu sammeln. Ihre erworbenen Erkenntnisse sollen in speziellen Dokumenten, den so genannten S-77-Formularen, zusammengestellt und Kopien an den Hauptsitz der Wachtturm-Organisation in New York geschickt werden.
In der Klage zu Sarahs Fall werden die Ältesten beschuldigt, viele der Unterlagen zu ihrem Fall vernichtet zu haben – und das Gesetz zum Schutz von Kindern in Pennsylvania zu ignorieren, das die Leiter von Kirchen oder religiösen Organisationen verpflichtet, mutmaßlichen Kindesmissbrauch den Behörden zu melden.
Aus einigen internen Unterlagen der Organisation geht hervor, dass die Leiter der Wachtturm-Organisation die Ältesten jahrzehntelang angewiesen haben, Missbrauchsvorwürfe stattdessen der Rechtsabteilung der Organisation zu melden. Ebenfalls wurden die Ältesten aufgefordert, die Mitarbeit bei Durchsuchungsbefehlen der Polizei zu verweigern.
„Ein unangemessener Gebrauch der Zunge durch einen Ältesten kann zu ernsthaften rechtlichen Problemen für die Person, die Gemeinde und sogar die Gesellschaft führen“, heißt es in einem Wachtturm-Memo vom Juli 1989.
Ein Sprecher der Zeugen Jehovas ging nicht direkt auf die Anschuldigungen in Sarahs Klage ein, schrieb aber in einer per E-Mail gesendeten Erklärung, dass die Organisation von den Nachrichten über sexuellen Missbrauch angewidert sei.
„Insbesondere der sexuelle Missbrauch von Kindern ist ein abartiger Akt des Bösen“, heißt es in der Erklärung. „Jeder, der Opfer geworden ist, hat die volle Unterstützung der Gemeinde, um die Angelegenheit den Behörden zu melden.“
Sarah, die heute 35 Jahre alt ist, möchte, dass die Verantwortlichen der Organisation zur Rechenschaft gezogen werden.
„Ich habe mich mit dem, was mir passiert ist, abgefunden und mein Leben Stück für Stück wieder zusammengesetzt“, sagte sie dem ‚Inquirer‘. „Manchmal tue ich nur das, was ich tun muss, um zu überleben. Manchmal ist mein Rückgrat stärker und ich habe das Gefühl, dass ich diesen Kampf kämpfen kann.“
Ihre Klage kommt für die Wachtturm-Organisation zu einem heiklen Zeitpunkt.
Seit 2019 untersucht die Generalstaatsanwaltschaft von Pennsylvania den Umgang der Organisation mit Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch. Am Freitag hat die Behörde fünf Personen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen angeklagt. Neun weitere Mitglieder der Organisation wurden im Frühjahr und Herbst verhaftet.
„Es gibt eine Zeit zum Schweigen!“
Wie viele ehemalige Zeuginnen hat Sarah Jahre damit verbracht, sich von der isolierten Kultur und den Regeln der Organisation zu lösen. Einige dieser Regeln schützen die Sexualstraftäter.
Die Führer der Religion, die in den 1870er Jahren in Allegheny County gegründet wurde, lehren seit langem, dass das Jüngste Gericht bald bevorsteht und dass nur Zeugen Jehovas, die einen guten Ruf haben, wieder auferstehen werden.
Exzentrische Beschränkungen betonten die Kluft zwischen den Zeugen Jehovas und der restlichen Welt noch weiter: Den Anhängern ist es verboten, Geburtstage oder Feiertage zu feiern, sie dürfen nicht wählen oder Bluttransfusionen erhalten.
Sarahs Familie waren gläubige AnhängerInnen der Religion. Mit 14 Jahren begann sie jedoch zu spüren, dass die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas nicht der sichere Ort ist, den sie sich vorgestellt hatte.
Joshua Caldwell, ein 25-jähriger Freund der Familie, und Jennifer McVey, die damalige Schwägerin von Sarah, begannen der Klage zufolge, Sarah mit Alkohol gefügig zu machen. Ein Jahr später gingen sie dann dazu über, sie angeblich* sexuell zu missbrauchen. Mal in einem Pickup, ein anderes Mal in verlassenen Häusern, die Caldwell winterfest gemacht hatte.
(*“angeblich“, da das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist.)
Zwei Älteste, die Sarah zu den Übergriffen befragten, sind mit Caldwell verwandt.
Später entschied ein Komitee der Ältesten, dass Sarah „zugab, an sexuellen Aktivitäten teilgenommen zu haben“ und getadelt werden musste, so die Klageschrift – und übersah dabei völlig die Tatsache, dass Sarah zum Zeitpunkt der Übergriffe minderjährig war und von Erwachsenen ausgenutzt wurde.
Caldwell und McVey wurden aus der Gemeinde ausgeschlossen, Caldwell wurde später jedoch wieder aufgenommen.
Älteste, so schrieb der Wachtturm in dem Memo von 1989, seien verpflichtet, ihre Herde zu hüten. Aber sie sollten auch „vorsichtig sein, Informationen über persönliche Angelegenheiten nicht an Unbefugte weiterzugeben“.
„Es gibt eine Zeit, in der man schweigen muss“, heißt es in der Botschaft weiter, wobei die Heilige Schrift zitiert wird.
Ein späteres Memo aus dem Jahr 1997 wies die Ältesten an, der Wachtturm-Organisation Informationen über bekannte Pädophile mitzuteilen, diese Informationen aber den Gemeinden vorzuenthalten. Eine andere Richtlinie verlangt, dass die Opfer sexueller Übergriffe einen Augenzeugen haben müssen [Zwei-Zeugen-Regel, Anm. JZ Help], der ihre Behauptungen bestätigen kann, bevor die Ältesten disziplinarische Maßnahmen ergreifen können.
„Sie sehen nicht, dass sie die Kinder in Gefahr bringen. Die Regeln, die sie aufgestellt haben, sind immer noch in Kraft“, sagte Sarah. „Ich wünschte nur, dass ihnen die Augen aufgehen würden, dass sie einen erstklassigen Nährboden für Pädophile schaffen und nichts für ihre Opfer tun, nachdem es passiert ist.“
Im Jahr 2013 erhielt Sarah etwas Gerechtigkeit. Die Staatsanwaltschaft von York County verhaftete Caldwell und McVey, die sich beide der Verführung Minderjähriger schuldig bekannten.
Caldwell und McVey werden auch in Sarahs Klage genannt, die sie als finalen Schritt in ihrem Versuch bezeichnet, den Schaden, den die Zeugen Jehovas in ihrem Leben angerichtet haben, wiedergutzumachen.
Jeffrey Fritz, Sarahs Anwalt in Center City, hat bereits andere ehemalige Zeugen Jehovas vertreten, die Opfer von Übergriffen wurden.
Fritz sagte, dass Sarah versucht, Veränderungen innerhalb der Organisation anzustoßen, „um alle Kinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen, der in der Geheimhaltung, die die Organisation fordert, schwelt“.
„Die Organisation Jehovas muss sauber gehalten werden!“
In der Öffentlichkeit betonen die Sprecher der Zeugen Jehovas oft, dass sie sexuellen Kindesmissbrauch verabscheuen und versuchen, Kinder zu schützen.
Und in Sarahs Klage wird darauf hingewiesen, dass die Wachtturm-Organisation in einer Veröffentlichung von 1986 einräumt, von pädophilen Vorfällen unterrichtet worden zu sein.
„So schockierend es auch ist, dass sogar einige prominente Mitglieder der Organisation Jehovas unmoralischen Praktiken verfallen sind“, heißt es darin.
Weiter heißt es, dass mehr als 36.000 Zeugen wegen unmoralischen Verhaltens ausgeschlossen worden seien und es wird hinzugefügt: „Jehovas Organisation muss sauber gehalten werden!“
Dennoch hat die Organisation ihr Wissen über interne Missetäter so gut gehütet, dass sie Gerichtsgebühren in Höhe von 2 Millionen Dollar in Kauf nahm, anstatt Akten herauszugeben, die von den Anwälten eines ehemaligen Zeugen Jehovas angefordert wurden, der in Kalifornien wegen sexuellen Missbrauchs durch einen Ältesten geklagt hatte.
Und 2018 schrieb der ‚Inquirer‘ über einen Schulungsleiter der Zeugen Jehovas, Shawn Bartlett, der auf Video aufgenommen wurde, wie er Älteste bei einem Seminar aufforderte, Dokumente zu vernichten, die der Organisation in einem Rechtsstreit schaden könnten.
„Nun, wir wissen, dass sich die Szene dieser Welt verändert und wir wissen, dass Satan hinter uns her ist, und er wird uns auf legale Weise angreifen“, sagt Bartlett in dem Video, das von einem anonymen Insider ins Netz gestellt wurde.
„Viele dieser Ältesten wissen nicht einmal, dass das, was sie tun, falsch ist“, sagte Brooks. „Ich möchte, dass die Beteiligten an den Punkt gelangen, an dem sie verstehen: ‚Heilige Scheiße, was haben wir getan?‘ und damit klarkommen.“
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