Norwegen: Zeugen Jehovas fühlen sich nach Urteil diskriminiert

BEZIRKSGERICHT OSLO
Die ehemaligen Zeugen Jehovas, Jan Frode Nilsen und Rakel Fjelltvedt, sind erleichtert, dass das Bezirksgericht zugunsten des Staates entschieden hat. Die Zeugen Jehovas erwägen eine Berufung.

Große Erleichterung nach Urteilsverkündung

Rakel Lima Fjelltvedt ist eine ehemalige Zeugin Jehovas. Sie wurde aus der Religionsgemeinschaft ausgeschlossen, nachdem sie beschlossen hatte, aus ihr auszutreten. Heute hat sie kaum noch Kontakt zu ihrer Familie. Sie lebt in Pollestad in der Gemeinde Klepp mit ihrem Sohn Matheo und ihren beiden Hunden.

„Die Zeugen Jehovas sind gigantisch. Man kann sich klein fühlen, aber mit dem Staat ist man ein bisschen größer und stärker“, sagt Rakel Lima Fjelltvedt, ehemalige Zeugin Jehovas.

Artikel von Ingvild Sandnes Kessel, Journalistin und Tove Bø, Leiterin der Sicherheitsabteilung
Veröffentlicht: 04/03/2024 17:09 Zuletzt aktualisiert: 04/03/2024 21:47
Übersetzt von JZ Help e.V.

Der Staat wird vom Osloer Bezirksgericht im Fall der Zeugen Jehovas freigesprochen. „Für uns ist das eine unglaublich große Erleichterung. Der Fall war für alle Beteiligten sehr emotional“, sagte ein gerührter Jan Frode Nilsen gegenüber Vårt Land. Er ist ein ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas und war einer von mehreren, die vor dem Osloer Bezirksgericht aussagten, wie er aus seiner früheren Religionsgemeinschaft ausgeschlossen wurde.

Urteil wie erwartet!

Er ist von dem Urteil des Bezirksgerichts nicht überrascht: „Es ist wie erwartet. Die Sache ist juristisch gesehen felsenfest, und zwar von Anfang bis Ende“, sagt Nilsen.

Rakel Lima Fjelltvedt (Foto: Caroline Teinum Gilje)

Rakel Lima Fjelltvedt (26) stimmt Jan Frode Nilsen zu.
Fjelltvedt gehörte ebenfalls zu den ehemaligen Zeugen, die in dem Prozess über ihre Erfahrungen mit den Zeugen Jehovas sprachen. Es ist jetzt drei Jahre her, dass sie die Religionsgemeinschaft verlassen hat: „Es scheint ein sehr gründliches Urteil zu sein. Ich bin erleichtert, dass sie das hervorgehoben haben, was meiner Meinung nach in der Ausgrenzungspraxis problematisch war, und das Ausmaß der sozialen Kontrolle.“
Rakel Lima Fjelltvedt wurde aus der Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen, nachdem sie selbst beschlossen hatte, aus ihr auszutreten. Heute hat sie nur noch minimalen Kontakt zu ihrer Familie.
Sie lebt in Pollestad in der Gemeinde Klepp mit ihrem Sohn Matheo und ihren beiden Hunden.

Schutz der Kinder steht im Vordergrund

Fjelltvedt findet es richtig, dass den Zeugen Jehovas sowohl die Registrierung als Religionsgemeinschaft als auch die finanzielle Unterstützung weiterhin vorenthalten wird, weist aber darauf hin, dass das Geld wahrscheinlich keine Motivation für die Religionsgemeinschaft gewesen ist: – Sie haben eine starke Wirtschaft, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene, und sie schicken auch Geld aus dem Land. Es ist also nicht so, dass es von staatlicher Unterstützung abhängt, ob sie die Organisation betreiben können oder nicht. „Ich unterstütze das Recht eines jeden, zu glauben, was er will, und das gilt auch für uns alle, die wir in diesem Prozess ausgesagt haben. Aber wofür wir als Gesellschaft unsere Steuergelder ausgeben, sagt etwas über die Art von Einstellungen und Praktiken aus, die wir fördern wollen.“ Fjelltvedt selbst wollte sich in erster Linie auf die problematischen Erfahrungen von Kindern in der Religionsgemeinschaft konzentrieren.

Aussage gegen Zeugen Jehovas vor Gericht emotionale Belastung

Rakel Lima Fjelltvedt sagte im Januar dieses Jahres vor dem Osloer Bezirksgericht gegen die Zeugen Jehovas aus. „Es war schwierig, vor Gericht zu erscheinen, und hat mich emotional mehr gekostet, als ich dachte. Die Zeugen Jehovas sind eine riesige Religionsgemeinschaft mit mehreren Millionen Mitgliedern. Man kann sich sehr klein fühlen. Zusammen mit dem Staat waren wir eindeutig stärker. Das ist eine große Anerkennung in dem Urteil, das wir jetzt erhalten haben.“ Sie glaubt, dass es einen besonderen Grund gibt, warum die Zeugen Jehovas heute unzufrieden sind: „Es geht um den Ruf. Das ist klar. Es war schwierig, vor Gericht zu erscheinen, und hat mich emotional mehr gekostet, als ich gedacht hatte.“

Wie Nilsen hält auch Fjelltvedt es für wahrscheinlich, dass die Zeugen Jehovas in Berufung gehen werden – „In diesem Fall werden wir eine neue Gelegenheit haben, auf diese negativen Praktiken hinzuweisen, die auch Kinder und Jugendliche betreffen.“

Der Fall der Zeugen Jehovas

Der Streit zwischen den Zeugen Jehovas und dem Staat wurde vom 8. bis 19. Januar dieses Jahres vor dem Bezirksgericht Oslo verhandelt. Die Zeugen Jehovas hatten gegen den Staat geklagt, nachdem der Gouverneur von Oslo und Viken den Zeugen Jehovas die staatliche Subvention und die Registrierung als Religionsgemeinschaft im Jahr 2022 entzogen hatte.
Das Urteil wurde am Montag, dem 4. März, vom Bezirksgericht Oslo verkündet:
Der Staat wird freigesprochen. Die Zeugen Jehovas werden zur Zahlung von Prozesskosten in Höhe von 1.140.505 NOK [99.580,46 €, Stand 05.03.2024 – Anm. JZ Help e.V.] verurteilt. Keine Entscheidung in der Berufung.

In zivilrechtlichen Streitigkeiten ist es üblich, dass die unterlegene Partei die Prozesskosten der anderen Partei tragen muss. Die Zeugen Jehovas wurden nun zur Zahlung von Prozesskosten in Höhe von mehr als 1,1 Millionen NOK verurteilt. Die Zeugen Jehovas haben Klage eingereicht, nachdem die Behörden beschlossen hatten, ihnen die Eintragung als Religionsgemeinschaft und damit auch die damit verbundene staatliche Subvention zu entziehen. Die norwegischen Behörden glauben, dass sie dazu in der Lage waren, weil sie die Ausschlusspraktiken der Zeugen Jehovas als Verstoß gegen das Gesetz über Religionsgemeinschaften betrachten.

BEZIRKSGERICHT OSLO

Rechtsanwalt Anders Ryssdal vertrat die Zeugen Jehovas in dem Gerichtsverfahren gegen den Staat, das im Januar dieses Jahres stattfand. „Wir sind natürlich enttäuscht über das Ergebnis“, sagt der Anwalt der Zeugen Jehovas, Anders Stray Ryssdal, gegenüber Vårt Land, „wir werden das Urteil nun sorgfältig prüfen und entscheiden, ob wir vor Ablauf der Frist Berufung einlegen.“

Zeugen Jehovas fühlen sich von Urteil diskriminiert

Die Berufungsfrist beträgt wegen Ostern nur etwas mehr als einen Monat. Jørgen Pedersen, Sprecher der Zeugen Jehovas, schreibt in einer E-Mail, dass das Bezirksgericht mit diesem Urteil „die diskriminierenden Entscheidungen des Gouverneurs von Oslo und Viken und des Ministeriums für Kinder und Familienangelegenheiten gegen die Zeugen Jehovas nicht korrigiert“. Wir sind natürlich enttäuscht – Anders Stray Ryssdal, Anwalt der Zeugen Jehovas Vårt Land ist es nicht gelungen, am Montagabend eine Stellungnahme des Gouverneurs von Oslo und Viken, Valgerd Svarstad Haugland, zu erhalten. Das Ministerium für Kinder und Familien schrieb in einer E-Mail an Vårt Land, dass es „zur Kenntnis genommen hat, dass in dem Fall ein Urteil ergangen ist, und dass dem Staat Recht gegeben wurde“.

Beweise wurden vor Gericht nicht ignoriert

Jan Frode Nilsen ist der Meinung, dass wenig darauf hindeutete, dass die Zeugen Jehovas den Prozess gewinnen würden. „In diesem Fall hätte das Gericht die gesamte Literatur der Religionsgemeinschaft außer Acht lassen müssen. Aber das hieße, die Beweise zu ignorieren. Ich hatte also keinen Zweifel daran, dass dies ein offensichtlicher Fall war.“

Jan Frode Nilsen ist erleichtert über die jüngste Nachricht und sagt, er werde sich etwas Zeit nehmen, um die Freude und Erleichterung zu verarbeiten – „Es ist sehr wichtig, dass die Richter uns glauben, so wie die Ministerien und der Staatsverwalter uns geglaubt haben.“ Nilsen sagt, es sei schwierig gewesen, vor Gericht zu erscheinen.
„Die Tatsache, dass uns jetzt geglaubt wird, und dass wir nicht bis zum Herbst und dem Berufungsverfahren warten müssen, um geglaubt zu werden, ist eine große Erleichterung.“

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RNZ-Untersuchung enthüllt 11 mutmaßliche Sexualstraftäter, die bei den Zeugen Jehovas aktiv sind

Die Zeugen Jehovas haben eine Reihe von Pädosexuellen in ihren Reihen, von denen die meisten Menschen in der Kirche nichts wissen.

Neu bei „Radio New Zealand“

Online-Artikel in der RNZ – Radio New Zealand vom 14.08.2023
Von Anusha Bradley


Übersetzt von JZ Help

Die Zeugen Jehovas haben eine Reihe von Pädosexuellen in ihren Reihen, von denen die meisten Menschen in der Kirche nichts wissen.
(Anm. JZ Help: Pädosexualität bezeichnet ein strafbares Verhalten, Pädophilie eine sexuelle Ausrichtung. Aus diesem Grund wird von Pädosexuellen und nicht wie im englischen Artikel von Pädophilen gesprochen.)

Eine RNZ-Untersuchung hat ergeben, dass 11 aktive Zeugen Jehovas wegen sexuellen Kindesmissbrauchs verurteilt sind oder schwerwiegende Anschuldigungen gegen sie erhoben wurden. Die meisten Mitglieder der Religionsgemeinschaft scheinen keine Ahnung zu haben, wer die Täter sind.
(Anm. JZ Help: In Neuseeland gibt es ein sog. Child Sex Offender Register. Verurteilte Täter oder Täterinnen können darin für einen definierten Zeitraum auch nach Verbüßen der Strafe aufgeführt werden.)

Die Identität der Männer und die Gemeinden, denen sie angehören, werden von der RNZ nicht genannt, um die Opfer zu schützen. In allen Fällen hat die RNZ entweder mit dem Opfer oder einem nahen Familienmitglied gesprochen oder Unterlagen der Zeugen Jehovas eingesehen, die die Verurteilungen oder Geständnisse des Missbrauchs bestätigen.

Aus den Berichten der RNZ geht hervor, dass die meisten Mitglieder der Gemeinden, die die Männer derzeit besuchen, keine Ahnung von deren Verurteilungen oder Geständnissen haben bzw. von den Anschuldigungen ihnen gegenüber wissen.

Vier der Männer haben wegen ihrer Straftaten, die vom Besitz von Kinderpornografie bis hin zu Übergriffen auf ein Kind reichen, im Gefängnis gesessen. Gegen sechs weitere Männer wurden schwere Vorwürfe erhoben, darunter Vergewaltigung inzestuöser Art, Kindesmissbrauch, sexuelle Belästigung einer Minderjährigen und Geschlechtsverkehr mit einer Minderjährigen. Die mutmaßlichen Opfer geben an, dass die Kirchenältesten – vergleichbar mit einem Priester oder Pfarrer – von den Vorwürfen wussten, dennoch wurde keiner der mutmaßlichen Täter jemals bei der Polizei angezeigt.

Zwei der beschuldigten Männer sind inzwischen selbst Älteste oder Dienstamtgehilfen, d.h. Ältester in Ausbildung, geworden.

Die Zeugen Jehovas Australasia, die für die neuseeländischen Gemeinden zuständig sind, antworteten nicht auf die Fragen der RNZ, erklärten aber in einer Stellungnahme, dass sie Kindesmissbrauch verabscheuen und als Verbrechen betrachten.

„In allen Fällen haben die Opfer (und ihre Eltern, wenn sie minderjährig sind) das Recht, den Vorwurf des Kindesmissbrauchs bei den Behörden anzuzeigen. Daher werden die Opfer, ihre Eltern oder andere Personen, die den Ältesten eine solche Anschuldigung melden, von den Ältesten klar darüber informiert, dass sie das Recht haben, die Angelegenheit den Behörden zu melden. Die Ältesten kritisieren niemanden, der sich dazu entschließt, eine solche Anzeige zu machen“, sagte der Sprecher der Kirche, Tom Pecipajkovski.

In Neuseeland gibt es etwa 20.000 Anhänger und Anhängerinnen der Religion der Zeugen Jehovas, die sich auf etwa 170 Gemeinden verteilen. Die Anhängerinnen und Anhänger dieses christlichen Glaubens verehren Jehova als Gott und glauben, dass wir in den letzten Tagen vor dem Ende der Menschheit, wie wir sie heute kennen, leben. Ein Leitungsgremium von neun Männern in New York gibt der Kirche weltweit „die Richtung vor“.

Ich habe nach ihm gesucht und war entsetzt

Ein derzeitiges Mitglied einer Gemeinde auf der Südinsel sagte, sie fühle sich nicht mehr sicher, wenn sie an Kirchentreffen teilnehme, nachdem sie vor einigen Monaten erfahren habe, dass ein verurteilter Pädosexueller ein aktives Mitglied sei.

Janet*, die in die Religion hineingeboren wurde, war nach dem Umzug in eine andere Stadt neu in der Gemeinde.
Sie sagte, sie habe erst von der Vergangenheit des Mannes erfahren, als eine enge Freundin, die wusste, dass Janet als Kind von einem anderen Kirchenmitglied belästigt worden war, sie darauf aufmerksam machte.

„Ich habe recherchiert und war entsetzt“, sagte Janet.
Der Mann hatte einige Zeit im Gefängnis verbracht, weil er ein junges Mädchen aus seiner früheren Gemeinde sexuell missbraucht hatte. Nach seiner Verurteilung wurde er exkommuniziert, ist aber inzwischen wieder in die Kirche eingetreten.

Der Name des Pädosexuellen, Janets richtiger Name und die Gemeinde, die beide besuchen, werden nicht genannt, um Janet zu schützen, die befürchtet, aus der Kirche ausgeschlossen und geächtet zu werden.
Sie äußerte sich jedoch, weil sie es für falsch hielt, dass die meisten Gemeindemitglieder nichts von der Vergangenheit des Mannes wussten.

„Es gibt kleine Kinder in der Gemeinde, und ich habe ein Kind“.
Letzten Monat sprach sie ihre Bedenken gegenüber zwei Ältesten an, die sie fragten, warum sie nicht mehr zu den Versammlungen komme.
„Ich sagte ihnen, dass ich bei dem Gedanken, zur Versammlung zu gehen, körperlich zittere. Es macht mich körperlich krank. Ich sagte, dass die Treffen ein Zufluchtsort sein sollten.“
Die Ältesten bestanden darauf, dass die Treffen ein sicherer Ort seien und zitierten Bibelstellen, wonach sie dem Mann vergeben müsse, sagte sie. „Sie sagten mir, dass er das Richtige tue und dass er jedes Recht habe, an den Treffen teilzunehmen, und dass ich meinen Glauben verloren hätte, weil ich nicht an den Treffen teilgenommen hätte.“
„Ich fühlte mich sehr unbehaglich und schutzlos.“
Janet sagte, die Ältesten hätten ihr gesagt, dass der Rest der Gemeinde nur dann von der Vergangenheit des Mannes erfahren würde, wenn es notwendig sei.
„Sie sagten mir: Gehst du mit deinen Kindern einkaufen? Du weißt nicht, wer dort einkaufen geht, diese Leute sind überall“.

Es gab keine Beweise dafür, dass der Mann erneut straffällig geworden war, aber sie machte sich Sorgen, dass junge Familien in ihrer neuen Gemeinde nicht sicher sein könnten. „Jeder sollte es wissen. Würden Sie wollen, dass ein Pädosexueller an Ihre Tür klopft?“

Sie nahmen ihn mit offenen Armen auf

Ein anderer Mann, der beschuldigt wird, in den 1990er Jahren drei junge Mädchen belästigt zu haben, bekleidet heute eine leitende Position in einer Versammlung.

Der Vater der Mädchen, John*, sagte, seine älteste Tochter sei zum Zeitpunkt der mutmaßlichen Übergriffe neun Jahre alt gewesen.
Der Mann war ein Verwandter, der mehrere Jahre lang bei der Familie gelebt hatte. John sagte, er habe erst einige Jahre später davon erfahren, als seine älteste Tochter ihm und seiner Frau Jane erzählte, der Mann habe sie sexuell missbraucht. Sie sprachen den Mann an und er gestand, so John. „Er musste das Haus verlassen und wir bekamen Hilfe für unsere Tochter.“

John verließ bald darauf die Kirche und trennte sich von seiner Frau, die in der Religion blieb. Der mutmaßliche Täter verließ die Kirche für mehrere Jahre, so John. „Aber schließlich kehrte er in die Kirche zurück, und sie nahmen ihn mit offenen Armen auf.“

Im Jahr 2010 schloss sich der Mann einer anderen Gemeinde an. Ein ehemaliger Ältester dieser Gemeinde, dessen Namen die RNZ nicht nennen will, sagt, er habe einen Brief aus der alten Gemeinde des Mannes gelesen, in dem seine Vergangenheit beschrieben wurde.
„In dem Brief stand, dass er Mitte der 1990er Jahre als Teenager drei Mädchen belästigt hatte. Er hatte gestanden, und die Ältesten wussten davon. In dem Brief stand, dass es einvernehmlich war. Ich weiß noch, dass ich dachte, wie kann das einvernehmlich sein? Wie können Kinder so etwas zustimmen?“

Besorgt wandten sich die Ältesten an den australischen Hauptsitz der Kirche und baten um Rat, aber man sagte ihnen, dass die Übergriffe in der Vergangenheit stattgefunden hätten und kein Problem mehr darstellten, so der ehemalige Älteste.
Das Problem habe ihn jedoch veranlasst, die Politik der Kirche in Frage zu stellen, und er sei schließlich 2013 ausgetreten, sagte er.
Der Missbrauchstäter sei nun ein Dienstamtgehilfe, behauptete er.

Einige Jahre später, so John, habe er herausgefunden, dass der Mann auch seine beiden anderen Töchter missbraucht habe, aber seine Ex-Frau habe es ihm verschwiegen.

Eine Menge Unheimlichkeiten

Eine ehemalige Zeugin sagte, dass sie von den Ältesten ihrer Gemeinde in Waikato ständig „umarmt und an wirklich unangemessenen Stellen berührt“ wurde.

„Ich weiß, dass andere Leute das sehen würden, aber sie waren höher gestellt und man stellt sie einfach nicht in Frage“, sagte Lisa*, die die Religion vor fünf Jahren verließ, als sie ein Teenager war.
„Viele der Älteren waren sehr unheimlich. Das war etwas, das mir und meinen Schwestern sehr unangenehm war. Sie kamen ganz nah an dich heran und hielten dich knapp über deinem Hintern fest und berührten dich dort, oder sie küssten dich und kamen deinen Lippen ganz nahe.“

Als ein Mann in ihrer Gemeinde anfing, sie zu verfolgen und ihr unangemessene SMS zu schicken, bat sie zwei Älteste um Hilfe, aber sie unternahmen nichts, sagte sie.
„Man hat sich einfach nicht darum gekümmert. Ich wurde einfach allein gelassen, um damit fertig zu werden. Es ist wirklich beängstigend, vor allem als junges Mädchen, wenn man um Hilfe bittet und keine kommt.“

Der Code

Brad Miller, ein ehemaliger Zeuge, der die Kirche im November 2021 verließ, sagte, dass es einen „Code“ gab, um Eltern bei Anwesenheit eines Sexualstraftäters in einer Versammlung von Gemeinden in Te Kuiti und einigen anderen zu warnen. Er wurde durch eine Durchsage übermittelt, in der die Eltern aufgefordert wurden, „ihre Kinder auf dem Gelände zu begleiten“, so Miller.

„Das hörte man ziemlich oft.“
Manchmal habe auch ein älteres Gemeindemitglied die Aufgabe, bei diesen Treffen ein Auge auf einen bekannten Sexualstraftäter zu werfen, sagte er.
Die meisten Gemeindemitglieder hätten nicht gewusst, was die Nachricht bedeutete, und er habe es nur herausgefunden, weil sein Vater und sein Großvater Älteste waren und es einmal verraten hatten.
In seiner eigenen Gemeinde habe es einen Mann gegeben, der mindestens zwei Mädchen missbraucht haben soll, was aber nie der Polizei gemeldet worden sei, so Miller. Der Mann ist inzwischen verstorben, aber als Kind erinnerte sich Miller daran, dass er zu gesellschaftlichen Anlässen in seinem Haus war.

„Wenn ich jetzt daran denke, macht es mich wütend. Dass wir in solch unsichere Situationen gebracht wurden.“

Die Zeugen Jehovas antworten

Die Kirche lehnte es ab, interviewt zu werden und beantwortete keine Fragen zu einzelnen Fällen.
„Wenn Sie Informationen haben, von denen Sie glauben, dass sie der ‚Königlichen Untersuchungskommission‘ für Missbrauch bei der Erfüllung ihres Mandats helfen, vertrauen wir darauf, dass Sie sie mit ihr teilen werden“, sagte Pecipajkovski in einer Erklärung.

„Ebenso vertrauen wir darauf, dass Sie, wenn Sie glauben, dass Gefahr besteht, dass ein Kind geschädigt wird, die Angelegenheit den Behörden melden werden.“

* Einige Namen wurden geändert, um die Sicherheit und das Wohlergehen der betroffenen Personen zu schützen.


Hier finden Sie Hilfe zum Thema sexualisierte Gewalt an Kindern.

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„ETWAS BÖSES“

„Die letzten Worte meiner Mutter, als ich zur Tür hinausging, waren:
‚Ich liebe Jehova mehr als dich!'“

Was passiert, wenn Menschen von den Zeugen Jehovas geächtet werden.

Ein Onlineartikel, erschienen bei „Radio New Zeeland“ am 10. August 2023
Von Investigativ-Reporterin Anusha Bradley
Übersetzt von JZ Help


WARNUNG: In dieser Geschichte geht es um schwere psychische Probleme, Depressionen und Suizid.


„Ich hatte den Ruf, eine sehr fleißige, besonnene, kritische Schwester in der Gemeinde zu sein … und dann wurde ich buchstäblich über Nacht zu etwas Bösem, etwas Schmutzigem, etwas, vor dem man Angst haben musste.“
*

Für Rachel Jackson ist binnen zwei Wochen alles vorbei.
Nach 22 Jahren bei den Zeugen Jehovas spürt sie, wie sich ihre gesamte Identität innerhalb von zwei Wochen auflöst, nachdem sie Zweifel an der Religion gestand.

Warum, so hatte sie gefragt, werden nur wir Armageddon überleben? Es gibt so viele andere gute Menschen. Warum nicht auch sie?
Sie begann, die Leitende Körperschaft der Religion, die als Sprachrohr Gottes gilt, in Frage zu stellen.

„Ich wurde von jemandem aus der Versammlung gemeldet“, sagt Rachel. „Ich sagte etwas zu ihr, woraufhin sie sehr wütend auf mich wurde und mich bei den Ältesten der Versammlung anzeigte.“
Zwei Älteste versuchten sie umzustimmen, aber ohne Erfolg. Sie sagten ihr, sie solle austreten oder rausgeschmissen werden – ‚disfellowshipped‘ [ausgeschlossen, Anm. JZ Help]- sagt sie.

Aber Rachel, die vom Katholizismus konvertiert war, weigerte sich. Ein Komitee [Ausschuss] der Ältesten wurde gebildet, um zu entscheiden, was mit ihr geschehen sollte. „Ich traf mich mit drei Ältesten und sie warfen mir Abtrünnigkeit vor, weil ich nicht akzeptierte, dass die leitende Körperschaft die Männer sind, die Jehova nutzt.“ Sie sagt, ihr wurde gesagt, dass ihr Ausschluss in zwei Wochen der Gemeinde mitgeteilt würde.

„Zwei Wochen später lösten sich alle meine Freundschaften der letzten 25 Jahre in Rauch auf.“ Niemandem wurde gesagt, warum Rachel ausgeschlossen wurde, aber alle mieden sie.


In der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas darf mit keinen Personen gesprochen werden, welche die Kirche verlassen oder aus ihr ausgeschlossen werden. Sie werden ausgestoßen, um ihr Leben ohne die wichtige Unterstützung derjenigen fortzusetzen, die weiterhin Zeugen sind.

Weltweit gibt es 8,7 Millionen Anhängerinnen und Anhänger, darunter 20.000 in Aotearoa [Aotearoa ist der indigene Name Neuseelands und bedeutet „Land der langen weißen Wolke“].

Viele, die die Gruppe verlassen haben – wie Rachel – sagen, dass allein die Androhung des Ausschlusses langfristig ernsthaften Schaden verursacht. Und die Praxis, so sagen sie, ist eine Verletzung der Menschenrechte.

Alle 19 ehemaligen oder aktuellen Zeugen Jehovas, mit denen wir für diese Geschichte gesprochen haben, wollen, dass das Ächten aufhört, entweder indem die Religion ihre Haltung aufweicht oder indem die Regierung diese schädlichen Auswirkungen erkennt und eingreift.

„Wenn man aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird, wird einem die Stimme genommen“, sagt Rachel. „Man wird zum Schweigen gebracht und kann sich gegenüber den Menschen, die man liebt, nicht verteidigen, weil man geächtet wird. Das fühlt sich extrem grausam und ungerecht an, und es bedroht deine ganze Identität“.
„Ich hatte den Ruf, eine sehr fleißige, besonnene, kritische Schwester in der Gemeinde zu sein… und dann wurde ich buchstäblich über Nacht von dieser Person zu etwas Bösem, etwas Schmutzigem, etwas, vor dem man Angst haben muss. Wenn ich jemanden sah, den ich aus der Gemeinde kannte, z. B. im Supermarkt, sahen sie weg und ich konnte fast die Angst sehen, als wäre ich etwas Gefährliches für sie.“

Rachel ist sehr frustriert darüber, dass ihre Freunde nicht erfahren werden, warum sie weggegangen ist.
„Ich weiß noch, wie ich mich fragte: Wer bin ich? Und was sind meine Werte? Was mag ich überhaupt? Denn meine ganze Identität war damit verknüpft, dass ich zu den Zeugen Jehovas gehöre.“

Quelle: jw.org – Screenshot eines weiteren Videos zum Thema Ächtung


Eine junge Frau starrt auf die Sprachnachricht ihrer verstoßenen Mutter, die auf ihrem Telefon abgespielt wird. „Elsa, bitte geh ran… ich vermisse dich so sehr!“, fleht die Mutter. Die junge Frau legt den Hörer auf und geht weg, aber als sie sich später Fotos ihrer Mutter ansieht, fragt sie sich: „Was kann es schaden, sie ab und zu anzurufen und mit ihr zu plaudern? Vielleicht kann ich ihr sogar helfen, zu Jehova zurückzukehren?“
Dieselbe Frau sitzt später in einem Königreichssaal, wo ihr gesagt wird, dass Jehova sie mit einer neuen „geistigen“ Mutter belohnen wird, wenn sie geduldig ist.

Die Szenen stammen aus zwei offiziellen Videos der Zeugen Jehovas, die bis vor kurzem auf ihrer weltweiten Website zu sehen waren und in denen genau gezeigt wird, wie ausgeschlossenen Anhängern der Weg abgeschnitten werden sollte. Im Juni wurden die Videos gelöscht, nur wenige Tage nach ihrer Veröffentlichung.
Doch die Anhängerinnen und Anhänger der Religion wissen genau, wie sie sich gegenüber denjenigen verhalten sollen, die den Glauben verlassen. Auf der offiziellen Website der Organisation finden sich mehrere andere Videos und sogar ausdrückliche Anweisungen, wie man enge Verwandte meiden soll.
In Online-Lehrbüchern und -Zeitschriften, die von den Anhänger und Anhängerinnen mehrmals pro Woche studiert werden sollen, wird die Meidung als „liebevolle Maßnahme“ bezeichnet, da die Bibel den Anhängerinnen und Anhängern vorschreibt, reuelose Sünderinnen und Sünder aus ihrer Mitte zu entfernen.
[Siehe auch Religionsrecht der Zeugen Jehovas – Anm. JZ Help]


Die Religion, die im späten 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten gegründet wurde, stützt sich in hohem Maße auf eine wörtliche Übersetzung dieser Bibel, die sie „Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift“ nennen und die das Ende der Welt vorhersagt. Nur diejenigen, die zu dem gehören, was sie „die Wahrheit“ nennen, werden Armageddon überleben und im Paradies leben.

Genaue Daten, wann die Welt untergehen wird, werden nicht mehr genannt – Armageddon wurde seit 1914 mindestens fünfmal falsch vorhergesagt -, aber die Gläubigen werden in Studienmaterialien und Predigten häufig daran erinnert, dass sie in den „letzten Tagen der letzten Tage“ leben und das Ende „unmittelbar bevorsteht“.
Ein Großteil dieser Materialien stammt aus dem weltweiten Hauptquartier der Religion in Warwick, New York, wo eine „Leitende Körperschaft“, bestehend aus neun Männern, die angeblich vom Heiligen Geist ernannt wurden, um mit den Gläubigen zu kommunizieren, die Richtlinien und Praktiken der Organisation festlegt. Die Organisation hat eine hoch organisierte globale Struktur, bei der jede Gemeinde einem „Kreisaufseher“ unterstellt ist – ähnlich einem reisenden Pastor, der mehrere Gemeinden betreut -, der wiederum einem örtlichen Zweigbüro untersteht. Alle neuseeländischen Gemeinden sind dem australasiatischen Zweigbüro unterstellt, das seinen Sitz in einem Vorort von Sydney hat.

Es gibt nur zwei Gründe, warum ein Mitglied geächtet wird: Erstens, wenn es „ausgeschlossen“ wird, oder zweitens, wenn es „ausgegrenzt“ wird [aus freien Stücken geht, Anm. JZ Help].
Ein Gemeinschaftsentzug bedeutet, dass ein Mitglied exkommuniziert und ausgeschlossen wird – in der Regel als Strafe für das Begehen einer schweren Sünde. Eine Person, die aus freien Stücken austritt, in der Regel durch einen Brief, in dem sie die Religion verlässt, wird als „selbst ausgeschlossen“ bezeichnet.

Unabhängig von der Art des Austritts bleibt die Strafe dieselbe: In einer Versammlung der Gemeinschaft wird bekannt gegeben, dass eine Person nicht länger Zeuge Jehovas ist – es wird nie gesagt, warum – und niemand darf jemals wieder mit ihr sprechen. Wer sich nicht an die Regeln hält, muss damit rechnen, selbst ausgestoßen zu werden.
Die Regeln, zumindest offiziell, sind etwas anders für die ausgeschlossenen Verwandten, die im gleichen Haushalt wie die Gläubigen leben. Die Zeugen Jehovas sagen, dass bei ausgeschlossenen Familienmitgliedern nur die religiösen Bindungen gekappt werden, die familiäre Beziehung sich aber „nicht ändert“.

Ehemalige Zeugen sagen, dass dies eher die seltene Ausnahme als die Norm ist, und fragen, warum, wenn ausgeschlossenen Familienmitgliedern erlaubt wird, im Haus zu bleiben, es dieses Video auf der eigenen Website der Religion gibt, das einen Vater zeigt, der seine ausgeschlossene Tochter aus dem Haus wirft.

Im Alter von 20 Jahren erlebte Brad Miller die reale Version dieses Videos auf der Website der Zeugen Jehovas, als er wegen vorehelichen Geschlechtsverkehrs vor einen Rechtskomitee gestellt wurde. „Das Komitee stellte mir sehr detaillierte Fragen“, sagt Brad. „Als wollten sie jedes intime Detail wissen, was ich getan hatte. Es war furchtbar.“

Er heiratete schnell seine Freundin, um ihr die Tortur zu ersparen, die er durchgemacht hatte. „Die Ältesten mussten mich um Erlaubnis bitten, wenn sie bei der Versammlung mit meiner Frau sprechen wollten. Ich erlaubte ihnen, kurz mit ihr zu sprechen, aber ich stellte sicher, dass ich alle ‚detaillierten‘ Fragen beantworten konnte, damit ich ihr das Schlimmste der Befragung ersparen konnte. Ich habe ihr System gegen sie verwendet.“

Nachdem er ausgeschlossen worden war, sagte Brad, sein Vater habe ihm gesagt, er könne nur bei der Familie bleiben, wenn er versuche, zu Jehova zurückzukehren. „Er sagte mir, dass ich nicht bleiben dürfe, wenn ich nicht versuche, [zur Religion] zurückzukehren.“ Brad und seine neue Frau fanden eine eigene Wohnung und er wurde schließlich wieder in die Kirche aufgenommen. Aber die Saat der Zweifel an seiner Religion hatten zu wachsen begonnen. Er versuchte, die Zweifel zu ignorieren, denn als Zeuge der dritten Generation wusste er, dass ein Austritt bedeuten würde, alles und jede:n zu verlieren. Er würde geächtet werden.

„Es war beängstigend“, sagt Brad.
„Ich wusste, dass ich jede Person, die mir in meinem Leben zur Seite gestanden war, verlieren würde, sobald ich den Schritt wagte, die Organisation zu verlassen.“

„Wenn man als Zeuge erzogen wird, darf man keine Freunde außerhalb der Zeugen haben, du darfst nichts gesellschaftlich unternehmen, was nicht Zeugen-bezogen ist. Ich dachte … was soll ich nur tun?“
Wenn einer seiner besten Freunde die Religion verließ, sah er, wie sie von seiner Gemeinde angesehen wurden. „Sie überzeugten mich, dass er ein böser Mensch war, der sich für Satan statt für Gott entschieden hatte. Als ich älter wurde sah ich, wie immer mehr Menschen schließlich verschwanden und weggingen, und das Gleiche geschah.“

„Sie nehmen dir deine Identität, sobald du weg bist. Du bist kein Mensch mehr, du bist dieses böse Ding.“

Als er schließlich ein paar Monate später ging, wurden seine schlimmsten Befürchtungen wahr. Er flehte seine Frau an, mit ihm zu kommen, aber sie weigerte sich. Seine Frau, Freunde, Familie und schließlich sogar seine Eltern verweigerten jeglichen Kontakt zu ihm.
Zwei Jahre später leidet Brad immer noch unter der „tiefen Trauer und Einsamkeit“, die er durch die Ablehnung erfahren hat, und er leidet unter Angstzuständen und Depressionen, während er versucht, sich ein neues Leben in einer fremden Welt aufzubauen.

Cassie und Brad aus Neuseeland
Something Evil | What it’s like to be shunned from the Jehovah’s Witnesses | RNZ

„Es fühlt sich an, als wären alle, die ich je gekannt habe, am selben Tag gestorben“.

Brads Cousine, Cassie Dean, weiß genau, was er durchmacht.
Die beiden wuchsen zusammen im ländlichen Waikato auf, besuchten oft gemeinsam Königreichssaal-Versammlungen und predigten jeden Samstag an den Haustüren in Te Kuiti und Ōtorohanga.

Im Alter von 17 Jahren verließ Cassie jedoch ihr Zuhause und ging nicht mehr zu den Versammlungen, um einem „toxischen“ Leben zu Hause zu entkommen. Obwohl sie erst nach einigen Jahren offiziell aus der Religion austrat, wurde sie von ihren Eltern dennoch geächtet.
Ihre Mutter sagte ihr, sie könne sich nicht mehr mit ihr abgeben, „wegen dem, was sie getan hat“.
„Meine Mutter meinte damit, dass ich mit meinem Freund, der kein Zeuge ist, Sex hatte. Dafür hätte ich mich schuldig fühlen müssen, habe es aber nie getan.“
Ein Jahrzehnt später sind die Auswirkungen des Verlusts ihrer Familie immer noch deutlich zu spüren.

„Eine ganze Familie zu haben ist alles, was ich mir jemals gewünscht habe… eine Umarmung von meiner Mutter, eine Umarmung von meinem Vater… daran denke ich jeden Tag.“

„Es zermürbt einen innerlich. Es ist wie eine lebendige Trauer.“

PODCAST HÖREN: Cassie und Brad erzählen ihre ganze Geschichte in einer Sonderfolge des Detail-Podcasts, der am Samstag, den 12. August erscheint:
-> hier!


Die Drohung, Menschen zu ächten, übt eine enorme Kontrolle aus, sagt die amerikanische Psychologin Marlene Winell, die als fundamentalistische Christin aufgewachsen ist und heute Menschen hilft, die aus Religionen mit hoher Kontrolle [High-control-Gruppen, Anm. JZ Help] ausgetreten sind.
„Es hält die Menschen in der Religion und sie bleiben viel länger drin, als sie es eigentlich müssten. Manchmal bleiben sie und tun so, als würden sie mitmachen, weil sie den Gedanken nicht ertragen können.“

Die Bedrohung ist so stark, dass es sogar einen gebräuchlichen Begriff gibt, mit dem Zeugen, die austreten wollen, es aber nicht tun, ihre Situation beschreiben: „PIMO“. Es bedeutet „Physically In, Mentally Out“ und bezieht sich auf diejenigen, die in der Religion bleiben und vorgeben zu glauben, um ihre Familien nicht zu verlieren.


So beschreibt sich Naomi* selbst.

Sie ist derzeit Mitglied einer Gemeinde auf der Nordinsel.
*Ihr richtiger Name und ihre Gemeinde werden nicht genannt, um ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen zu schützen.

Naomi sagt, sie wolle die Gemeinschaft verlassen, aber sie wolle nicht geächtet werden. Sie war seit Monaten nicht mehr in einer Versammlung und erhält nun täglich Anrufe, mehrere SMS und Besuche von Gemeindemitgliedern, die sich nach ihr erkundigen wollen.
„Ich weiß, dass sie aus Liebe zu mir kommen… sie sagen, dass sie sich Sorgen um mich machen oder dass sie an mich denken und nicht wollen, dass ich Jehova verlasse.“
„Aber ich kann verstehen, warum die Leute einen Brief schreiben, um sich selbst auszuschliessen, weil ich belästigt werde und es stressig ist. Ich möchte nur, dass sie mich in Ruhe lassen.“

Naomi möchte sich nicht offiziell von der Religion distanzieren, weil sie ihre Familie nicht verlieren möchte. Sie weiß auch, wie schädlich die Ächtung sein kann. Sie glaubt, dass ihr 19-jähriger Bruder sich selbst umgebracht hat, weil er Angst hatte, ausgeschlossen zu werden.

Er beging Selbstmord, wenige Tage bevor er vor einem „Rechtskomitee“ der Ältesten erscheinen sollte, weil er zu viel Alkohol getrunken und Horrorfilme gesehen hatte.
„Er hatte Angst vor den Konsequenzen und davor, in Schwierigkeiten zu geraten. Meine Mutter und mein Vater waren in ihrer Kindheit sehr überzeugte Zeugen Jehovas, man musste schon tot sein, um ein Treffen zu verpassen.“

„Zu diesem Zeitpunkt rauchte er bereits Zigaretten, was ein großes Tabu war, und die Ältesten wussten nichts davon. Mein Bruder hätte sich also in die Hose gemacht, wenn er vor dem Gericht gestanden hätte.“


Danny de Hek kennt dieses Gefühl. Mit 23 Jahren wurde er wegen vorehelichen Geschlechtsverkehrs aus der Kirche ausgeschlossen. In seiner Verzweiflung, wieder aufgenommen zu werden, saß er schluchzend ganz hinten in seinem Königreichssaal in Christchurch.
„Ich verbrachte vier Monate damit, dreimal pro Woche in den Königreichssaal zu gehen. Bei jedem Treffen saß ich hinten und heulte mir die Augen aus dem Kopf, weil ich mich so sehr darüber schämte, was ich verloren hatte“, sagt er.
Er wurde gemieden und niemand in der Gemeinde wollte mit ihm sprechen. Nach vier Monaten wurde er wieder aufgenommen, nur um ein Jahr später erneut ausgeschlossen zu werden, weil er erneut vorehelichen Sex hatte. Und wieder verbrachte er Monate mit dem Versuch, wieder aufgenommen zu werden.

Und warum?

„Weil ich alles verloren habe. Und die Einsamkeit. Sie verhandeln mit deiner Familie und deinen Freunden“, sagt Danny.
Seine Mutter weigerte sich, mit ihm zu kommunizieren, als er ausgeschlossen wurde, und er verlor sein Geschäft, weil sein Geschäftspartner ebenfalls ein Zeuge war.
„Ich habe auch alle verloren, mit denen ich aufgewachsen bin, weil uns gesagt wurde, wir dürften nie zum Sport gehen, nie in einen Verein eintreten, nie etwas mit der Welt zu tun haben.“

Mit 25 Jahren versuchte de Hek schließlich nicht mehr, in die Organisation zurückzukehren. Dreißig Jahre später hat er immer noch keinen Kontakt zu seiner Mutter und sagt, er habe Selbstmordgedanken gehabt und unter extremer Einsamkeit gelitten, als Folge seines Ausschlusses.

„Die letzten Worte meiner Mutter, als ich zur Tür hinausging, waren:
‚Ich liebe Jehova mehr als dich‘.“

Eine kleine Studie über ehemalige Zeugen Jehovas, die Anfang dieses Jahres in der Fachzeitschrift „Pastoral Psychologie“ veröffentlicht wurde, legt nahe, dass sich die Ächtung „langfristig nachteilig auf die psychische Gesundheit, die beruflichen Möglichkeiten und die Lebenszufriedenheit“ auswirkt. In der Studie werden mehrere Fälle von Menschen angeführt, die in den Selbstmord getrieben wurden, nachdem sie gemieden wurden.

Der australische Zweig der Zeugen Jehovas, der um eine Stellungnahme zu der Studie gebeten wurde, sagt, dass ihm „keine empirischen oder sonstigen Beweise“ bekannt sind, die die Behauptung stützen, dass der Ausschluss aus der Gemeinschaft oder die Meidung zu Selbstmord führen kann.
„Wir weisen die Behauptung kategorisch zurück, dass die biblisch begründete Praxis des Ausschlusses von der Gemeinschaft Menschen dazu bringt, Selbstmord zu begehen“, sagt Sprecher Tom Pecipajkovski in einer Erklärung.

Er sagt, dass Ex-Mitglieder, die als „Apostaten“ [Abtrünnige – Anm. JZ Help] bekannt sind, keine verlässlichen Informationsquellen sind und zitiert das Zentrum für Studien über neue Religionen, Massimo Introvigne, der auf seiner Website Bitter Winter schreibt, dass Medien und Gerichte „gut daran täten, zu bedenken, dass Apostaten nicht repräsentativ für das größere Universum der Ex-Mitglieder neuer religiöser Bewegungen sind.“

„Die Annahme, dass das, was die Apostaten berichten, ‚die Wahrheit‘ über eine neue religiöse Bewegung ist, wäre vergleichbar mit der Beurteilung des moralischen Charakters einer geschiedenen Person auf der Grundlage des Zeugnisses eines verärgerten Ex-Ehepartners oder der Wahrnehmung dessen, worum es in der katholischen Kirche geht, auf der Grundlage des alleinigen Zeugnisses verärgerter Ex-Priester“, schreibt Introvigne.

Pecipajkovski sagt, dass sich die Zeugen Jehovas „entschieden gegen jede Andeutung wehren, dass die Praxis des Ausschlusses schädlich ist“.


Der amerikanische Berater für psychische Gesundheit und Sektenexperte Steven Hassan ist da anderer Meinung.

Er ist der Meinung, dass die Ächtung und die strengen Regeln der Religion, wie man sich zu verhalten hat, wie man sich zu kleiden hat und mit wem man verkehren darf, die Kennzeichen einer Sekte sind. Seiner Meinung nach passt die Religion in den „schlimmsten Teil“ seines „BITE“-Modells der autoritären Kontrolle. BITE steht für „Behaviour, Information, Thought and Emotional Control“ (Verhaltens-, Informations-, Gedanken- und Gefühlskontrolle), und das Modell wird verwendet, um zu analysieren, wie kontrollierend eine Gruppe oder Organisation ist.

Diesem Kontinuum zufolge lassen gesunde Organisationen am einen Ende freies Denken zu, fördern Authentizität und ziehen die Führungskräfte zur Rechenschaft. Am anderen Ende schaffen schädliche Organisationen Abhängigkeit und Gehorsam, und ihre Leitenden haben absolute Autorität.

Die Konsequenz eines Lebens unter solch autoritärer Kontrolle ist, dass die Anhänger und Anhängerinnen sich der Ächtung fügen, auch wenn dies verheerende Auswirkungen hat, sagt Hassan.
„Psychologinnen und Psycholgen nennen das eine dissoziative Störung. Man ist so sehr von seinen eigenen Gedanken, Gefühlen und seinem Gewissen abgeschnitten, dass man nur noch das tut, was die Gruppe für richtig hält.“


Sara Rahmani, Dozentin für Religionswissenschaften an der Victoria University of Wellington, ist nicht der Meinung, dass das Wort „Sekte“ auf die Zeugen Jehovas zutrifft, sagt aber, dass die Ächtung zweifellos ein „äußerst schmerzhafter Prozess“ für Anhänger sein kann, die die Religion verlassen, unabhängig davon, ob sie ausgeschlossen werden oder freiwillig gehen. „Man kann Trauer empfinden, Einsamkeit, Schuldgefühle, Verzweiflung, all diese Emotionen“.

Rahmani, die die Erfahrungen von Menschen beim Verlassen von Religionen untersucht, sagt, dass es bei dieser Praxis darum geht, die Schuld und die emotionale Belastung auf die Person zu schieben, die die Religion verlässt.
„Die Meidung ist eine Möglichkeit, die Erzählung zu kontrollieren“, sagt Rahmani. „Sie sagen zum Beispiel, dass diese Person gegangen ist, weil sie böse ist, weil sie eine Sünderin bzw. ein Sünder ist. Es ist ein ziemlich strategischer und manipulativer Versuch, diese harte Insider-Outsider-Grenze zu schaffen. Entweder man ist drin oder man ist draußen.“
„Es soll auch eine Botschaft an die bestehenden Mitglieder senden und die Verbreitung kontroverser Verhaltensweisen verhindern.“

Die Angst, gemieden zu werden, spielt auch mit den grundlegenden Instinkten des Menschen und der Furcht, aus der Gruppe ausgestoßen zu werden, sagt Marlene Winell.

Sie bezeichnet diese Praxis als „massiv grausam“.

„Wir wollen von unseren Eltern, von unserer Familie akzeptiert und geliebt werden. Man muss sich das einmal evolutionär vorstellen, wir sind Stammesmenschen. Die Vorstellung, isoliert zu sein, die Vorstellung, allein zu sein, aus der Höhle, aus dem Stamm herausgeschmissen zu werden, ist das Erschreckendste.“

Winell prägte in den 1990er Jahren den Begriff „Religiöses Trauma-Syndrom“ (RTS), um den emotionalen und körperlichen Schaden zu beschreiben, den eine Religion mit hoher Kontrolle, wie die Zeugen Jehovas, anrichten kann. Obwohl es sich nicht um eine offizielle Diagnose im psychiatrischen Handbuch DSM-5 handelt, sagt sie, dass die Symptome des RTS denen der Posttraumatischen Belastungsstörung ähnlich sind.

„Religion kann wirklich definieren, wer man ist… und dann ist es, als würde einem der Teppich unter den Füßen weggezogen. Man fühlt sich ziemlich verloren“, sagt Winell.


Ein kleines Mädchen sitzt auf der Couch zwischen ihren Eltern und blättert in einem Fotoalbum. „Ich habe eine Frage“, sagt sie zu ihrem Vater, „wie wird man getauft?“
Es handelt sich um die neueste Folge der Zeichentrickserie der Zeugen Jehovas für Kinder, Philip und Sophia. „Du kannst so jung sein wie deine Mutter“, erklärt Sophias Vater. „Wichtig ist nur, dass du Jehova liebst.“

Die Folge löst bei ehemaligen Zeugen im Internet Empörung aus. Sie sagen, dass der Druck, sich taufen zu lassen – wodurch ein Kind ein offizielles Mitglied der Religion wird und dem Ausschluss aus der Gemeinschaft und der Ächtung ausgesetzt ist – unmoralisch ist und zu früh beginnt.

Cassie Dean und Brad Miller stimmen dem zu. Cassie bedauert, dass sie dem Druck nachgegeben hat und sich mit 13 Jahren taufen ließ. „Ich hatte definitiv meine Zweifel, aber es war das Einzige, was meine Eltern stolz auf mich machen würde“, sagt Cassie. „Jetzt werde ich dafür bestraft, dass ich diese Entscheidung mit 13 Jahren getroffen habe, um sie glücklich zu machen. Jetzt bin ich ausgeschlossen, ich habe keine Beziehung zu meinen Eltern wegen dieser Entscheidung, die ich getroffen habe… diesem Vertrag, den ich unterschrieben habe.“
Cassie ist der Meinung, dass sich Kinder unter 18 Jahren nicht taufen lassen sollten.

Brad, der mit 10 Jahren getauft wurde, stimmt dem zu. „Ich denke, es ist gefährlich, Kinder in diesem Alter zu einer solchen Verpflichtung zu bewegen, weil sie die Konsequenzen nicht verstehen können.“
Er sagt, die Angst vor dem drohenden Armageddon werde von den Gläubigen benutzt, um die Menschen davon abzuhalten, die Gemeinschaft zu verlassen, und sie dazu zu bringen, sich taufen zu lassen.
„Denn sie glauben, dass nur die Getauften überleben und ins Paradies kommen werden. Das ist der Grund, warum kleine Kinder ermutigt werden, sich taufen zu lassen, damit sie Armageddon überleben“.

Brad weiß jedoch, dass es unwahrscheinlich ist, dass eine Altersgrenze für die Taufe jemals von der Kirche angenommen oder ihr aufgezwungen wird. Juliet Chevalier-Watts, eine Dozentin für Rechtswissenschaften an der Universität Waikato, stimmt ihm zu.

Watts, die sich auf Religion und Recht spezialisiert hat, sagt, die Frage sei, ob ein Kind in der Lage sei, eine rationale Entscheidung zu treffen, und die Rechtsprechung zeige, dass es kein festes Alter für einen solchen Test gebe.
„Einige 10-jährige Kinder sind durchaus in der Lage, zu verstehen, was von ihnen verlangt wird oder was mit ihnen geschieht, während dies bei 16-Jährigen nicht der Fall ist“, sagt Chevalier-Watts.
„Es gab eine Reihe von Fällen im Zusammenhang mit elterlichen Anordnungen, in denen Eltern ihre Kinder daran hindern wollten, sich einem bestimmten Glauben anzuschließen oder sich taufen zu lassen, und die Gerichte in Neuseeland haben das Kind für mündig befunden und gesagt: ‚Wir können Ihr Kind nicht daran hindern, diesem Wunsch nachzuleben.'“

Der Sprecher der Religionsgemeinschaft, Pecipajkovski, sagt, dass die Anhängerinnen und Anhänger getauft werden, wenn sie alt genug sind, um zu verstehen, was die Bibel lehrt. „Deshalb taufen die Zeugen Jehovas keine Säuglinge, wie es viele Religionen tun“, sagt er. „Wir wehren uns entschieden gegen die Behauptung, dass irgendjemand, auch Minderjährige, unter Druck gesetzt oder gezwungen werden, sich taufen zu lassen.“
„Wir glauben, dass diejenigen, die Gott anbeten, dies freiwillig und von Herzen tun müssen, sonst ist diese Anbetung ungültig. Das gilt auch für Kinder, deren Eltern Zeugen Jehovas sind.“
„Während sie heranwachsen, müssen sie eine persönliche Entscheidung treffen, ob sie lernen, akzeptieren und anwenden wollen, was die Bibel lehrt, bevor sie sich für die Taufe qualifizieren können.“


Lisa* war nicht einmal getauft, wurde aber trotzdem von ihrer Mutter, einer Zeugin Jehovas, gemieden, als sie entdeckte, dass sie einen Freund hatte. „Sie behandelte mich, als wäre ich eine getaufte Zeugin“, sagt Lisa.
Im Alter von 17 Jahren wurde sie von zu Hause weggeschickt.

Fünf Jahre später ist ihr Freund jetzt ihr Ehemann und sie leben in einer anderen Stadt. Zu ihrer Mutter hat sie keinen Kontakt, und sie macht sich Sorgen, dass die jüngere Schwester, die sie zurückgelassen hat, sich unter Druck gesetzt fühlen könnte, sich taufen zu lassen.
„Es gibt viele Kinder, denen es einfach aufgezwungen wird, sie haben nicht wirklich eine Wahl. Sie haben mit mir und meinen Schwestern offen darüber gesprochen, dass sie das lieber nicht tun würden.“

Auch Lisa wünscht sich ein Ende der Ächtung.
„Das könnte ich meiner Tochter nie antun. Meidung ist einfach so unnötig. Es bricht vielen Menschen das Herz.“


Ehemalige Zeugen behaupten, dass die Ächtung eine Verletzung der Menschenrechte darstellt, aber diese Klage war vor ausländischen Gerichten – mit Ausnahme eines einzigen – nicht sehr erfolgreich und wurde in Neuseeland nie geprüft.

Gerichte in mehreren Ländern haben entschieden, dass das Lehren und Praktizieren von Ächtung zwar möglicherweise schädlich ist, aber entweder durch die Religionsfreiheit geschützt ist oder dass es nicht Sache der Gerichte ist, sich in religiöse Angelegenheiten einzumischen.

Norwegen ist das einzige Land, das den Schaden anerkennt, den die Praxis der Ächtung der Zeugen Jehovas verursacht. Letztes Jahr wurde der Religion in diesem Land wegen dieser Angelegenheit die offizielle Registrierung entzogen.
Zwar steht es den Menschen in Norwegen immer noch frei, die Religion zu praktizieren, doch der Verlust der offiziellen Registrierung ist ein großer Einschnitt, sagt der ehemalige norwegische Zeuge und heutige Aktivist Jan Frode Nilsen. „Es hindert sie daran, jedes Jahr etwa 17 Millionen norwegische Kronen (2,6 Millionen Dollar) an staatlichen Zuschüssen zu erhalten, und hindert die Religion daran, legale Trauungen durchzuführen.“

Die Zeugen Jehovas haben gegen das Urteil Berufung eingelegt, und es wird erwartet, dass der Fall im Januar verhandelt wird.

Die norwegische Regierung ist der Ansicht, dass die von den Zeugen Jehovas praktizierte Ächtung einen Verstoß gegen die Gesetze des Landes zur Religionsfreiheit darstellt, und ist besonders besorgt über die Auswirkungen auf Minderjährige.

Der ehemalige Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Paulo Pinto de Albuquerque, argumentiert jedoch in einem Papier vom Juni, dass Norwegen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen hat und nicht umgekehrt.
„Ich bin der festen Überzeugung, dass die Regierung diese fundamentale Grenze tatsächlich überschritten hat, da die drei angefochtenen Verwaltungsentscheidungen eine Form der direkten Diskriminierung darstellen, die auf einem der grundlegenden religiösen Prinzipien der Zeugen Jehovas und damit auf einem identifizierbaren Merkmal der betroffenen Gemeinschaft, ihrer Religion, beruht, das durch Artikel 14 der EMRK geschützt ist“, schreibt er.

Ehemalige Zeugen, mit denen die RNZ hierzulande gesprochen hat, würden es gerne sehen, wenn Neuseeland dem Beispiel Norwegens folgen würde, aber Chevalier-Watts sagt, dass die beiden Länder unterschiedliche Gesetze und Rechtssysteme haben, so dass es „keine klare Antwort“ darauf gibt, ob dies geschehen könnte.

„Es gibt eine Reihe von Gesetzen in Neuseeland, die in die eine oder andere Richtung in Konflikt geraten könnten“, sagt sie.

Die neuseeländische Bill of Rights [Der New Zealand Bill of Rights Act 1990 ist ein Gesetz, das die Menschenrechte und Grundrechte in Neuseeland bestätigen, schützen und fördern soll Anm. JZ Help] ermöglicht es jeder Person, ihre Religion oder Weltanschauung zu bekunden, und gewährt Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, während das Menschenrechtsgesetz verbietet, dass religiöse Überzeugungen ein Grund für Diskriminierung sind. In der Bill of Rights ist auch das Recht verankert, nicht gefoltert, grausam behandelt oder erniedrigend oder unverhältnismäßig hart behandelt oder bestraft zu werden.

„Man hat also das Recht, seinen Gottesdienst, seine Religion oder seinen Glauben auszuüben, aber auch das Recht, nicht gefoltert oder grausam behandelt zu werden.“
„Aber dann muss man definieren, was man unter Folter oder grausamer Behandlung oder erniedrigender oder schwerer Bestrafung versteht, aber gleichzeitig muss man auch berücksichtigen, was mit unverhältnismäßig schwerer Behandlung oder Bestrafung gemeint ist.
Wenn also eine Religion oder ein Glaubenssystem eine Methode hat, ihre Mitglieder auf irgendeine Weise zu „bestrafen“, ist das dann unverhältnismäßig im Hinblick auf ihren besonderen Glauben? Oder zur gesellschaftlichen Moral unseres Landes?“

Obwohl das Argument in Neuseeland noch nicht getestet wurde, glaubt Chevalier-Watts, dass es schwer zu beweisen sein könnte.

„Denn es gibt ein fest verankertes Recht auf eine religiöse Überzeugung, die in keiner Weise beeinträchtigt werden darf.“

Es sei denn, es gäbe eine Gesetzesänderung, die das Ächten illegal macht, so wie die Konversionstherapie im letzten Jahr illegal gemacht wurde, aber damit könnte man in ein Wespennest stechen, meint sie.

„Wenn man eine Religion verurteilt, muss man über alle Religionen urteilen, und viele Religionen haben Praktiken, die Menschen außerhalb dieser Religionen möglicherweise als unangenehm empfinden würden. Katholiken, die Amish, einige Muslime, Scientology und die Kirche der Heiligen der Letzten Tage haben alle irgendeine Form von dem, was wir möglicherweise als Ächtung bezeichnen könnten.“

Der Menschenrechtsanwalt Tony Ellis stimmt zu, dass Fälle des Common Law in den USA, Kanada und Großbritannien zeigen, dass die Gerichte „sehr, sehr zurückhaltend sind, wenn es darum geht, in das Recht auf Religionsausübung einzugreifen, denn wo könnte es als nächstes hinführen?“
Er sagt jedoch, dass die spezielle Formulierung im Bill of Rights Act, die es jeder Person erlaubt, ihre Religion „in Gemeinschaft mit anderen“ zu praktizieren, dazu führen könnte, dass „die Möglichkeit besteht, dies zu nutzen, um zu argumentieren, dass die Ächtung ungesetzlich ist“.


Ehemalige Zeugen Jehovas fragen sich auch, wie die Religionsgemeinschaft als Wohltätigkeitsorganisation registriert werden kann – mit all ihren steuerfreien Vorteilen -, wenn ihre Ächtungspraktiken und eine Geschichte des Verschweigens von Kindesmissbrauch so viel Schaden angerichtet haben.
Auch hier ist das Gesetz in Neuseeland noch nicht auf die Probe gestellt worden, sagt Chevalier-Watts.

Die Kirchen können registriert werden, weil sie „die Religion fördern“. Die Charities Services und das Independent Charities Services Board erhielten 2017 eine Beschwerde über die Praxis des „Shunnings“ [Ächtung – Anm. JZ Help] der Zeugen Jehovas, untersuchten diese aber nicht.

„Die Charities Services konzentrieren ihre Ressourcen auf schweres Fehlverhalten, Angelegenheiten mit hohem Risiko und Angelegenheiten, die sich darauf auswirken können, ob eine Wohltätigkeitsorganisation weiterhin für die Registrierung in Frage kommt. Die in der Beschwerde aufgeworfenen Fragen fielen nicht in diese Bereiche“, sagt Charlotte Stanley, Generaldirektorin der Abteilung für Wohltätigkeitsorganisationen bei Internal Affairs.

Hassan vertritt die Auffassung, dass die Wohltätigkeits- und Menschenrechtsgesetze mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen über den von einigen Religionen verursachten Schaden Schritt halten müssen.

In seiner Doktorarbeit aus dem Jahr 2020 argumentiert er, dass sein BITE-Modell der autoritären Kontrolle als Rahmen für das Rechtssystem verwendet werden könnte, um zu erkennen, was „unethisch oder unzulässige Beeinflussung ist, wenn es um Bewusstseinskontrolle und Gehirnwäsche“ durch bestimmte Organisationen geht.

„Es ist ähnlich wie bei der körperlichen Züchtigung. Aus bildgebenden Untersuchungen des Gehirns wissen wir heute, dass die Gehirne von Kindern und ihre Entwicklung durch körperliche Züchtigung geschädigt werden. Sie ist in vielen zivilisierten Ländern illegal, weil wir wissen, dass sie Schaden anrichtet.“

„Nur weil etwas vor 1000 Jahren im Alten Testament gelehrt wurde, sollten wir es nicht zulassen, wenn wir wissen, dass es den Menschen schadet.“

„Wenn es um unzulässige Beeinflussung geht, denke ich, dass dies von Seiten der Gesetzgebung überdacht werden muss.“


„Anstatt die Menschenrechte zu verletzen, halten die Zeugen Jehovas sie aufrecht und respektieren sie“, sagt der Sprecher der Organisation Pecipajkovski. „Das liegt daran, dass internationale Menschenrechtserklärungen und -pakte, die Gedanken- und Religionsfreiheit schützen und das Recht auf Vereinigung garantieren, was auch die Entscheidung einschließt, sich nicht mit anderen zusammenzuschließen“, so Pecipajkovski.

„Dies ist eine Ausübung der Menschenrechte“, sagt er.
„Es ist wirklich nichts Besonderes, dass die Zeugen Jehovas ein religiöses Verfahren zum Ausschluss von Anhängerinnen und Anhängern haben, die reuelos eine schwere Sünde begehen, wie Ehebruch, Alkohol- und Drogenmissbrauch, häusliche oder andere Gewalt oder Diebstahl.“
„Auch Berufsverbände wie Anwälte und Ärzte haben vorgeschriebene Standards, die Mitglieder erfüllen müssen, und die Nichterfüllung dieser Standards kann dazu führen, dass die Person als Mitglied ausgeschlossen wird.“


„Es ist eine Tatsache, dass ein großer Prozentsatz der Familien in der modernen Gesellschaft beschließt, den Kontakt zu einem Familienmitglied aufgrund eines ‚Wertekonflikts‘, der in den meisten Fällen nichts mit religiösen Überzeugungen zu tun hat, vollständig abzubrechen.“


„Im Gegensatz dazu ist der Ausschluss eines Zeugen Jehovas in der Regel nur von relativ kurzer Dauer. Darüber hinaus ist eine ausgeschlossene (oder getrennte) Person willkommen, an unseren Gottesdiensten teilzunehmen, dort gemeinsam religiöse Lieder zu singen, religiöse Veröffentlichungen zu erhalten und sich mit den Ältesten zu treffen, um seelsorgerische Hilfe zu erhalten.“

„Wenn die betreffende Person Reue zeigt, kann sie beantragen, wieder als Zeuge Jehovas aufgenommen zu werden. Viele, die ausgeschlossen wurden oder sich von den Zeugen Jehovas distanziert haben, wurden später wieder aufgenommen und gaben an, dass der Ausschluss ihnen geholfen hat, ihre Beziehung zu Gott wiederherzustellen.“


Brad und Cassie sagen, dass sie niemals zur Religion zurückkehren werden und sich stattdessen darauf konzentrieren, ihr neues Leben „draußen“ neu aufzubauen. Nach einem holprigen Start sieht der Weg, der vor ihnen liegt, für beide ein wenig besser aus.

Sie sind dankbar, dass sie einander haben, und haben hart daran gearbeitet, eine neue Familie von Freunden aufzubauen, die sie unterstützen. Cassie hat eine Karriere in der Lebensmittelbranche, die sie liebt, und Brad macht seinen Highschool-Abschluss, während er im Gastgewerbe arbeitet, in der Hoffnung, nächstes Jahr ein Studium zu beginnen.

„Es wird von Tag zu Tag einfacher, und ich fange an, Freunde zu finden“, sagt Brad, „ich habe erkannt, dass mir die Welt zu Füßen liegt. Meine Einstellung hat sich von Angst zu Begeisterung gewandelt.“

Aber der Schmerz über den Verlust seiner Familie wegen der Religion verblasst nie.

„“Wenn etwas Gutes oder auch etwas Schlimmes passiert und man die Menschen, an die man sich normalerweise wendet, anruft, in der Art: ‚Ich werde es Mama oder Papa erzählen‘, dann denke ich: ‚Oh, warte, ich kann nicht‘.“

„Ich weiß, dass ich draußen besser dran bin, aber das tut trotzdem weh.“


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Unsere Aktion „Ich fühle mich als Opfer der Zeugen Jehovas, weil…“ -> hier!

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„Wir haben einen Schredder gekauft“

Zeugen Jehovas sollen Aufzeichnungen über sexuellen Missbrauch einer Teenagerin vernichtet haben.

Laut Anklage wurde eine Frau im Alter von 15 Jahren von anderen Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft sexuell missbraucht.
Ein Bericht von David Gambacorta vom 9. Juli 2023 im „The Philadelphia Inquirer“.
Übersetzt von JZ Help

Sarah Brooks wurde als Zeugin Jehovas erzogen. Als Teenager in York wurde sie zwei Jahre lang von zwei anderen Mitgliedern der Organisation sexuell missbraucht und dann gemieden, weil sie über ihren Missbrauch gesprochen hatte.

Sie brauchte jemanden, der sie rettet.

Als Sarah Brooks 15 Jahre alt war und 2003 mit ihrer Familie in York lebte, begannen zwei Erwachsene in ihrem Leben sie sexuell zu missbrauchen. Es waren Menschen, von denen sie dachte, sie könne ihnen vertrauen – Glaubensbrüder der Zeugen Jehovas.

Der Missbrauch dauerte mehr als ein Jahr an, bis Sarah zusammenbrach und sich ihren Eltern anvertraute. Diese alarmierten die Ältesten im Königreichssaal, in dem die Familie ihre Gottesdienste abhielt. Die Ältesten sind das Äquivalent zu Pfarrern.
Sarah hatte das getan, was man Kindern beibringt, wenn ihnen jemand wehtut. Und dann wurde ihr Trauma noch schlimmer.

Ein Ältester warnte Sarah, dass sie „Schande“ über den Namen Jehovas bringen würde, wenn sie sich an die Polizei wende. So heißt es in einer Klage, die sie im Juni vor dem Philadelphia Common Pleas Court gegen die Watchtower Bible and Tract Society of New York, der Führung der Zeugen Jehovas, eingereicht hat.
Andere Älteste, die Sarahs Behauptungen ebenfalls untersuchten, schrieben in einer öffentlichen Mitteilung an den Königreichssaal der Versammlung Yorkana*, dass sie „zurechtgewiesen“ worden sei, was im Sprachgebrauch der Zeugen bedeutete, dass sie etwas Falsches getan hat und es bereut.

(*Yorkana ist ein Bezirk in York County – Familie Brooks war der Gemeine der Zeugen Jehovas in Yorkana angegliedert)

Familienmitglieder und Freunde mieden Sarah, die daraufhin in Depressionen verfiel

Sie zeigte den Missbrauch dennoch bei den Behörden an und löste damit 2013 eine Dringlichkeitssitzung der Ältesten der Zeugen Jehovas aus. Diese wurde einberufen, als die Ältesten erfuhren, dass die Staatsanwaltschaft von York County eine Untersuchung eingeleitet hatte und Unterlagen über Sarahs Missbrauch anfordern würde.

„Wir haben einen Schredder gekauft“, sagte ein Ältester aus York County laut der Klage, „und die Zentrale hat uns gesagt, wir sollen die Unterlagen zu diesem Fall schreddern.“

[Ebenso geschehen in Australien. Siehe: Ältester der Zeugen Jehovas bestätigt Vernichtung von Unterlagen – Royal Commission of Australia! Anm. JZ Help]

Die Watchtower Bible and Tract Society of New York verlangt von allen Ältesten der Versammlungen, dass sie ein sorgfältiges Verfahren befolgen, um Informationen über sexuellen Kindesmissbrauch zu sammeln. Ihre erworbenen Erkenntnisse sollen in speziellen Dokumenten, den so genannten S-77-Formularen, zusammengestellt und Kopien an den Hauptsitz der Wachtturm-Organisation in New York geschickt werden.

In der Klage zu Sarahs Fall werden die Ältesten beschuldigt, viele der Unterlagen zu ihrem Fall vernichtet zu haben – und das Gesetz zum Schutz von Kindern in Pennsylvania zu ignorieren, das die Leiter von Kirchen oder religiösen Organisationen verpflichtet, mutmaßlichen Kindesmissbrauch den Behörden zu melden.

Aus einigen internen Unterlagen der Organisation geht hervor, dass die Leiter der Wachtturm-Organisation die Ältesten jahrzehntelang angewiesen haben, Missbrauchsvorwürfe stattdessen der Rechtsabteilung der Organisation zu melden. Ebenfalls wurden die Ältesten aufgefordert, die Mitarbeit bei Durchsuchungsbefehlen der Polizei zu verweigern.

„Ein unangemessener Gebrauch der Zunge durch einen Ältesten kann zu ernsthaften rechtlichen Problemen für die Person, die Gemeinde und sogar die Gesellschaft führen“, heißt es in einem Wachtturm-Memo vom Juli 1989.

Ein Sprecher der Zeugen Jehovas ging nicht direkt auf die Anschuldigungen in Sarahs Klage ein, schrieb aber in einer per E-Mail gesendeten Erklärung, dass die Organisation von den Nachrichten über sexuellen Missbrauch angewidert sei.
„Insbesondere der sexuelle Missbrauch von Kindern ist ein abartiger Akt des Bösen“, heißt es in der Erklärung. „Jeder, der Opfer geworden ist, hat die volle Unterstützung der Gemeinde, um die Angelegenheit den Behörden zu melden.“

Sarah, die heute 35 Jahre alt ist, möchte, dass die Verantwortlichen der Organisation zur Rechenschaft gezogen werden.

„Ich habe mich mit dem, was mir passiert ist, abgefunden und mein Leben Stück für Stück wieder zusammengesetzt“, sagte sie dem ‚Inquirer‘. „Manchmal tue ich nur das, was ich tun muss, um zu überleben. Manchmal ist mein Rückgrat stärker und ich habe das Gefühl, dass ich diesen Kampf kämpfen kann.“

Ihre Klage kommt für die Wachtturm-Organisation zu einem heiklen Zeitpunkt.

Seit 2019 untersucht die Generalstaatsanwaltschaft von Pennsylvania den Umgang der Organisation mit Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch. Am Freitag hat die Behörde fünf Personen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen angeklagt. Neun weitere Mitglieder der Organisation wurden im Frühjahr und Herbst verhaftet.

„Es gibt eine Zeit zum Schweigen!“

Wie viele ehemalige Zeuginnen hat Sarah Jahre damit verbracht, sich von der isolierten Kultur und den Regeln der Organisation zu lösen. Einige dieser Regeln schützen die Sexualstraftäter.

Die Führer der Religion, die in den 1870er Jahren in Allegheny County gegründet wurde, lehren seit langem, dass das Jüngste Gericht bald bevorsteht und dass nur Zeugen Jehovas, die einen guten Ruf haben, wieder auferstehen werden.

Exzentrische Beschränkungen betonten die Kluft zwischen den Zeugen Jehovas und der restlichen Welt noch weiter: Den Anhängern ist es verboten, Geburtstage oder Feiertage zu feiern, sie dürfen nicht wählen oder Bluttransfusionen erhalten.

Sarahs Familie waren gläubige AnhängerInnen der Religion. Mit 14 Jahren begann sie jedoch zu spüren, dass die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas nicht der sichere Ort ist, den sie sich vorgestellt hatte.

Joshua Caldwell, ein 25-jähriger Freund der Familie, und Jennifer McVey, die damalige Schwägerin von Sarah, begannen der Klage zufolge, Sarah mit Alkohol gefügig zu machen. Ein Jahr später gingen sie dann dazu über, sie angeblich* sexuell zu missbrauchen. Mal in einem Pickup, ein anderes Mal in verlassenen Häusern, die Caldwell winterfest gemacht hatte.

(*“angeblich“, da das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist.)

Zwei Älteste, die Sarah zu den Übergriffen befragten, sind mit Caldwell verwandt.

Später entschied ein Komitee der Ältesten, dass Sarah „zugab, an sexuellen Aktivitäten teilgenommen zu haben“ und getadelt werden musste, so die Klageschrift – und übersah dabei völlig die Tatsache, dass Sarah zum Zeitpunkt der Übergriffe minderjährig war und von Erwachsenen ausgenutzt wurde.

Caldwell und McVey wurden aus der Gemeinde ausgeschlossen, Caldwell wurde später jedoch wieder aufgenommen.

Älteste, so schrieb der Wachtturm in dem Memo von 1989, seien verpflichtet, ihre Herde zu hüten. Aber sie sollten auch „vorsichtig sein, Informationen über persönliche Angelegenheiten nicht an Unbefugte weiterzugeben“.
„Es gibt eine Zeit, in der man schweigen muss“, heißt es in der Botschaft weiter, wobei die Heilige Schrift zitiert wird.

Ein späteres Memo aus dem Jahr 1997 wies die Ältesten an, der Wachtturm-Organisation Informationen über bekannte Pädophile mitzuteilen, diese Informationen aber den Gemeinden vorzuenthalten. Eine andere Richtlinie verlangt, dass die Opfer sexueller Übergriffe einen Augenzeugen haben müssen [Zwei-Zeugen-Regel, Anm. JZ Help], der ihre Behauptungen bestätigen kann, bevor die Ältesten disziplinarische Maßnahmen ergreifen können.

„Sie sehen nicht, dass sie die Kinder in Gefahr bringen. Die Regeln, die sie aufgestellt haben, sind immer noch in Kraft“, sagte Sarah. „Ich wünschte nur, dass ihnen die Augen aufgehen würden, dass sie einen erstklassigen Nährboden für Pädophile schaffen und nichts für ihre Opfer tun, nachdem es passiert ist.“

Im Jahr 2013 erhielt Sarah etwas Gerechtigkeit. Die Staatsanwaltschaft von York County verhaftete Caldwell und McVey, die sich beide der Verführung Minderjähriger schuldig bekannten.
Caldwell und McVey werden auch in Sarahs Klage genannt, die sie als finalen Schritt in ihrem Versuch bezeichnet, den Schaden, den die Zeugen Jehovas in ihrem Leben angerichtet haben, wiedergutzumachen.

Jeffrey Fritz, Sarahs Anwalt in Center City, hat bereits andere ehemalige Zeugen Jehovas vertreten, die Opfer von Übergriffen wurden.
Fritz sagte, dass Sarah versucht, Veränderungen innerhalb der Organisation anzustoßen, „um alle Kinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen, der in der Geheimhaltung, die die Organisation fordert, schwelt“.

„Die Organisation Jehovas muss sauber gehalten werden!“

In der Öffentlichkeit betonen die Sprecher der Zeugen Jehovas oft, dass sie sexuellen Kindesmissbrauch verabscheuen und versuchen, Kinder zu schützen.

Und in Sarahs Klage wird darauf hingewiesen, dass die Wachtturm-Organisation in einer Veröffentlichung von 1986 einräumt, von pädophilen Vorfällen unterrichtet worden zu sein.
„So schockierend es auch ist, dass sogar einige prominente Mitglieder der Organisation Jehovas unmoralischen Praktiken verfallen sind“, heißt es darin.
Weiter heißt es, dass mehr als 36.000 Zeugen wegen unmoralischen Verhaltens ausgeschlossen worden seien und es wird hinzugefügt: „Jehovas Organisation muss sauber gehalten werden!“

Dennoch hat die Organisation ihr Wissen über interne Missetäter so gut gehütet, dass sie Gerichtsgebühren in Höhe von 2 Millionen Dollar in Kauf nahm, anstatt Akten herauszugeben, die von den Anwälten eines ehemaligen Zeugen Jehovas angefordert wurden, der in Kalifornien wegen sexuellen Missbrauchs durch einen Ältesten geklagt hatte.

Und 2018 schrieb der ‚Inquirer‘ über einen Schulungsleiter der Zeugen Jehovas, Shawn Bartlett, der auf Video aufgenommen wurde, wie er Älteste bei einem Seminar aufforderte, Dokumente zu vernichten, die der Organisation in einem Rechtsstreit schaden könnten.
„Nun, wir wissen, dass sich die Szene dieser Welt verändert und wir wissen, dass Satan hinter uns her ist, und er wird uns auf legale Weise angreifen“, sagt Bartlett in dem Video, das von einem anonymen Insider ins Netz gestellt wurde.

„Viele dieser Ältesten wissen nicht einmal, dass das, was sie tun, falsch ist“, sagte Brooks. „Ich möchte, dass die Beteiligten an den Punkt gelangen, an dem sie verstehen: ‚Heilige Scheiße, was haben wir getan?‘ und damit klarkommen.“

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Hilfe bei sexuellem Kindesmissbrauch

Anklagen gegen weitere fünf Personen im Zusammenhang mit sexuellem Kindesmissbrauch bei den Zeugen Jehovas in Pennsylvania

Artikel veröffentlicht am 7. Juli 2023 bei NBC Philadelphia
Ein Bericht von Maryclaire Dale – Übersetzt von JZ Help

Ein großes Geschworenengericht in Pennsylvania, das den sexuellen Missbrauch von Kindern in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas untersucht, hat fünf weitere Personen wegen Vergewaltigung oder Belästigung von Kindern bereits im Alter von 4 Jahren angeklagt – die jüngsten Entwicklungen in einer laufenden Untersuchung, die 14 Verdächtige identifiziert hat. 

Die Generalstaatsanwältin von Pennsylvania, Michelle Henry, sagte auf einer Pressekonferenz am Freitag, dass das Fehlverhalten zwar Jahre oder sogar Jahrzehnte zurückliege, aber „das Trauma für die Opfer andauere“

Henry ging nicht auf den Umgang der Organisation mit den Beschwerden ein, sagte aber, die Ermittlungen würden fortgesetzt. 

Der US-Zweig der Zeugen Jehovas, Wallkill, NY, gab die folgende Erklärung ab: 
„Es ist uns gesetzlich nicht gestattet, uns zu bestimmten Angelegenheiten zu äußern, die sich aus den Ermittlungen der Grand Jury ergeben. Dennoch macht uns die Nachricht, dass jemand sexuell missbraucht wurde, sei es ein Kind oder ein Erwachsener, krank. Vor allem der sexuelle Missbrauch von Kindern ist ein abartiger Akt des Bösen. Deshalb bemühen sich die Zeugen Jehovas seit Jahrzehnten, Eltern durch unsere Veröffentlichungen, Versammlungen und unsere Website darüber aufzuklären und zu warnen, wie sie ihre Kinder in den verschiedensten Situationen schützen können. Wir sind auch schnell dabei die Betroffenen zu unterstützen und ihnen seelsorgerischen Beistand zu leisten, während wir uns dafür einsetzen, dass reuelose Täter aus der Versammlung entfernt werden. Jeder, der Opfer geworden ist, hat die volle Unterstützung der Gemeinde um die Angelegenheit den Behörden zu melden.“

Kritiker sagen, dass die Ältesten der Zeugen Jehovas den sexuellen Missbrauch von Kindern eher als Sünde denn als Verbrechen behandelt haben, indem sie Beschwerden in internen Akten dokumentierten, sie aber nicht den Behörden meldeten. Und sie sagen, die Glaubensgemeinschaft verlange oft einen zweiten Zeugen, um eine Beschwerde zu untermauern – was kaum je möglich ist, wenn die Täter ihre Opfer isolieren. 

Mark Haugh aus York Haven, Pennsylvania, ein ehemaliger Ältester, der 2016 aus der Glaubensgemeinschaft austrat und sich jetzt für Überlebende von Missbrauch in der Organisation einsetzt, lobte die Ermittler. 
„Ich hoffe, dass die Ältesten verhaftet werden, die von dem Kindesmissbrauch wussten und ihn vertuschten. Dann ist es wieder passiert.“, sagte Haugh, der vor der Grand Jury über die Struktur der Glaubensgemeinschaft und über den Missbrauch seiner eigenen Tochter in einer Versammlung der Zeugen Jehovas aussagte. 

Er hofft auch, dass die Leiter der Organisation zur Rechenschaft gezogen werden, „weil es nicht nur ein Problem in Pennsylvania ist, sondern ein nationales Problem“

Der Sprecher der Zeugen Jehovas, Jarrod Lopes, hat die Kritik zurückgewiesen und gesagt, dass die Ältesten die Meldepflicht erfüllen und dass es den Mitgliedern auch freisteht, sexuelle Übergriffe den Behörden zu melden. Er sagte aus, dass die Regel des zweiten Zeugen nur für interne disziplinarische Maßnahmen gelte.  

Lopes antwortete am Freitag nicht sofort auf eine Nachricht, in der er um eine Stellungnahme gebeten wurde. 

Die Untersuchung der Zeugen Jehovas durch die Grand Jury begann mit der Empfehlung eines Bezirksstaatsanwalts, der der Meinung war, der Staat solle sich eingehender mit diesem Thema befassen. Dutzende von Zeugen sagten dann vor der geheimen Grand Jury in Harrisburg aus oder lieferten Informationen an das Büro des Generalstaatsanwalts. 

In der am Freitag veröffentlichten Anklageschrift sagte Henry, dass die Männer die Kinder über die Glaubensgemeinschaft angeworben oder sich Zugang zu ihnen verschafft hätten, manchmal, wenn die Familie des Kindes die Person in ihr Haus aufgenommen habe. Eine Person sagte, dass sie im Alter von 7 bis 12 Jahren 50 oder mehr Mal von einem Gemeindemitglied vergewaltigt wurde, der zu Beginn der Übergriffe 18 Jahre alt gewesen sei. In anderen Fällen ging es um weniger schwerwiegende Anschuldigungen wegen unangemessener Berührungen. 

Bei den fünf Angeklagten handelt es sich um David Balosa, 62, aus Philadelphia; Errol William Hall, 50, aus Delaware County; Shaun Sheffer, 45, aus Butler County; Terry Booth, 57, aus Panama City, FL; und Luis Ayala-Velasquez, 55, aus Berks County. Vier von ihnen wurden in Gewahrsam genommen, während nach Balosa noch gefahndet wurde. Es war nicht sofort klar, ob einer von ihnen von einem Anwalt vertreten würde. 

Einer der neun früheren Angeklagten begang Suizid, bevor er verhaftet werden konnte, sagte Henry. 

Der Anwalt Matt Haverstick, der die Gemeinden in Pennsylvania bei den staatlichen Ermittlungen vertreten hat, antwortete am Freitag nicht sofort auf einen Anruf, um einen Kommentar abzugeben. 

In einem Fall, der einige Parallelen aufweist, gipfelte eine staatliche Untersuchung des sexuellen Missbrauchs von Kindern durch katholische Priester in einem langen Bericht von 2018, der zu dem Schluss kam, dass Hunderte von Priestern über sieben Jahrzehnte hinweg Kinder in Pennsylvania missbraucht hatten und Kirchenvertreter dies vertuscht hatten. Vor kurzem wurde ein ähnlicher Bericht in Maryland veröffentlicht. 

Die Zeugen Jehovas, eine internationale christliche Glaubensgemeinschaft, die vor mehr als einem Jahrhundert in der Gegend von Pittsburgh gegründet wurde und ihren Hauptsitz im Bundesstaat New York hat, zählt weltweit 8,7 Millionen Mitglieder, davon 1,2 Millionen in den Vereinigten Staaten. 

Die Mitglieder tragen keine Waffen, grüßen keine Nationalflagge und beteiligen sich nicht an der weltlichen Politik. Die Gläubigen sind bekannt für ihre missionarischen Bemühungen, einschließlich des Klopfens an Türen und des Verteilens von Literatur an öffentlichen Plätzen.

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Hamburg

10. März 2023

Mit großer Bestürzung haben wir von der Tragödie in Hamburg erfahren. Wir sind zutiefst betroffen und sprechen den Angehörigen der Opfer, den körperlich wie auch psychisch schwer verletzten Menschen von Herzen unser Mitgefühl aus.
In dieser schweren Zeit sind wir in Gedanken bei ihnen.

Im Namen des gesamten Teams von JZ.help

+++ Anlaufstelle für Betroffene und deren Angehörige / Stand 14. März 2023 +++

Telefon: 0800 000 7558

eMail: opferbeauftragter@soziales.hamburg.de


Medienmitteilung vom 19./20.07.2022

Zeugen Jehovas missachten fundamentale Rechte!
Gedenkaktion: Betroffene berichten.

Die Zeugen Jehovas missachten fundamentale Rechte, die Folgen sind für Betroffene verheerend. Darauf machen anlässlich des Gedenkanlasses für die Opfer der Wachtturm-Organisation Aktivist:innen weltweit sowie der im DACH-Raum tätige Verein JZ Help aufmerksam. Mit der „Aktion Loslassen“ vom 16. bis 23. Juli teilen Aussteiger:innen ihre Erfahrungen über soziale Medien. Sie treten mit anderen Ehemaligen in einen Austausch und geben gegenüber Journalist:innen Auskunft. [Lesen Sie die Fortsetzung hier…]