Zeugen Jehovas müssen Ausgeschlossene und freiwillig Ausgetretene ächten, das heißt jeglichen Kontakt zu ihnen abbrechen – selbst zu engsten Familienangehörigen wie Eltern, Kindern oder Geschwistern. Allerdings wird von Seiten der Leitung auch jeder Kontakt mit nicht-Zeugen Jehovas in der Freizeit, bei außerschulischen Aktivitäten und Aktivitäten außerhalb der Arbeitszeit deutlich missbilligt.
Zum Grundrecht auf Religionsfreiheit gehört jedoch auch die „negative Religionsfreiheit“, d.h. das Recht, die Religion zu wechseln bzw. zu verlassen.
In seiner Rede vom 6.11.2020 hat Markus Grübel, Beauftragter für weltweite Religionsfreiheit, ausgeführt, wie wichtig es ist, dass Menschen ihre Religion wechseln oder verlassen können:
«Das Recht auf Konversion ist quasi der Kern der Religionsfreiheit, nämlich die Chance, meine Religion aufzugeben oder zu wechseln.» (Min 4:05)
Genau das ist getauften Zeugen Jehovas nicht möglich, sie haben nicht die Möglichkeit, die Religion zu verlassen, ohne Gefahr zu laufen, von ihren Liebsten geächtet zu werden.
Damit unterläuft die Praxis der Ächtung das Recht von (Ex-)Zeugen Jehovas auf Religionsfreiheit.
Dies wurde 2019 von einem Schweizer Gericht so beurteilt (s. Gerichtsurteil und Zusammenfassung des Urteils), das Urteil ist rechtskräftig:
«Grundsätzlich gibt es also diese Praxis der Ächtung […].» (S. 23). […] «Die Praxis der Ächtung erweist sich deshalb als eine Art von „Mobbing“, das zumindest im Ansatz menschenrechtsverletzend ist, als dass Mobbing eine Verletzung der persönlichen Integrität eines Menschen ist. Diese Art von Mobbing wird auch angewendet, wenn Mitglieder der Zeugen Jehovas nicht mehr glauben oder einen anderen Glauben entwickeln bzw. haben. […] Implizit wird ihnen also die Glaubens- und Gewissensfreiheit innerhalb der Gemeinschaft verwehrt (vgl. act. 12/12/34 und 12/12/2).» (S. 24)
Das Landgericht Hamburg entschied 2020, dass man Jehovas Zeugen als Bewegung bezeichnen darf, die fundamentale Menschenrechte missachten und eine „aggressive“ Entfremdung von Gesellschaft und Staat praktizieren, insbesondere auch wegen der Ächtung ausgestiegener Mitglieder.
In den Niederlanden haben sich 2021 ähnlich wie in Belgien Betroffene zusammengetan, um gegen die Praxis der Ächtung gerichtlich vorzugehen. S. dazu diesen Bericht im Nederlandsdagblad vom 30. Dezember 2021.
Auch in Norwegen hat ein Berufungsgericht die Praxis der Ächtung für unzulässig erklärt.
Der enorme psychische Druck infolge von sozialer Ächtung und Kontaktverbot kann zu Depressionen führen und Menschen sogar in den Selbstmord treiben.
Anweisung zu Ächtung und Kontaktverbot gegenüber Menschen, welche die Gemeinschaft verlassen
„Auch wenn uns das sehr schwer fällt, müssen wir unnötigen Kontakt mit einem ausgeschlossenen Familienmitglied vermeiden — sei es telefonisch, brieflich oder über Textnachrichten, E-Mails oder soziale Netzwerke.“
(w17 Oktober S. 16, Abs. 17-21)
Weitere umfassende Zitate aus den Publikationen und dem geheimen Ältestenbuch bestätigen das Kontaktverbot zu Ehemaligen, auch innerhalb der Familie. Dagegen wird gegenüber der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, dass ein Austritt aus der Religionsgemeinschaft ohne Konsequenzen möglich sei und Ächtung und Kontaktverbot innerhalb der Familie nicht existiere. Diese Aussagen betrachten wir als eine bewußte Täuschung der Öffentlichkeit, um vom damit verbundenen Problem der Rechtstreue abzulenken. Siehe dazu Zitate aus dem Religionsrecht, Anzeigen und Abmahnungen)
Praxis von Ausschluss und Ächtung – und die Folgen für Betroffene
Die Abhandlung „Praxis von Ausschluss und Ächtung – und die Folgen für Betroffene“ analysiert die Praxis der Ächtung vor dem Hintergrund der Wachtturm-Literatur, aus Sicht von Betroffenen sowie von Expertinnen und Experten.
Auch die englische Dissertation ‘A loving provision’? How former Jehovah’s Witnesses experience shunning practices macht die schwerwiegenden Folgen für Betroffene deutlich.
Hetze gegen Aussteiger/innen und Nicht-Zeugen-Jehovas
Aussteiger/innen, sog. Abtrünnige, werden in der Literatur und in Vorträgen abgewertet und und entmenschlicht. Sie werden als „Küchenhelfer des Teufels“ bezeichnet, als unaufrichtig Schwätzer oder Lügnerinnen verunglimpft, als ekelerregend oder gar als „geistig krank“ bezeichnet. Immer wieder werden Metaphern von Krankheit und Ansteckung bemüht. Mit vermeintlicher „Ansteckung“ wird die Isolation Ausgeschlossener begründet.
In einigen Publikationen werden auch Nicht-Zeugen-Jehovas mit Ungeziefer verglichen, welches verdient, vernichtet zu werden.
Beispiele aus der Literatur und aus Vorträgen finden Sie hier.
Kein Umgang mit Nicht-Zeugen-Jehovas
Zeugen Jehovas behaupten zwar in offiziellen Stellungnahmen „Jeder Angehörige der Religionsgemeinschaft entscheidet eigenverantwortlich, mit wem und in welchem Umfang er in seinem sozialen Umfeld Kontakt pflegt“. Allerdings wird von Seiten der Leitung jeder Kontakt in der Freizeit, bei außerschulischen Aktivitäten und Aktivitäten außerhalb der Arbeitszeit deutlich missbilligt.
weitere Informationen
Erfahrungsberichte Betroffener
Anläßlich des internationalen Wachtturm-Opfer-Gedenktags am 27. Juli 2019 machten Betroffene auf Ächtung und Kontaktverbot von Aussteigern aufmerksam und schilderten ihre Erfahrungen in einem Video.
Auch der Schweizer Presserat bestätigt, dass … ist es unbestritten, dass ein Verstoss gegen Regeln der Glaubensgemeinschaft zu Sanktionen bis hin zu einem Ausschluss führen kann, auch bei Kindern und Jugendlichen. Dass dies zu Spannungen bis hin zur Entzweiung von Familien führen kann, ist naheliegend.“
Soziale Zurückweisung macht krank
„Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er braucht andere Menschen, um zu überleben und ist daher in hohem Maße auf ihre Zuwendung und Unterstützung angewiesen. Folglich ist es für ihn katastrophal, wenn er zurückgewiesen und ausgeschlossen wird. Er verspürt dann nicht nur Schmerzen, sondern kann psychisch erkranken bis hin zum Suizid. Soziale Zurückweisung ist somit ein ernsthaftes Risiko für Gesundheit und Wohlbefinden. Die Hirnforschung fand heraus, dass Menschen regelrechte Schmerzen empfinden, wenn sie von anderen ausgeschlossen, ignoriert oder zurückgewiesen werden, auch dann, wenn nahestehende andere Personen betroffen sind….“ (aerzteblatt.de, Sept. 2011)
Suizide bei Zeugen Jehovas
Expertenaussagen und Erfahrungsberichte zu den schwerwiegenden Folgen sozialen Ausschlusses – bis hin zu Depressionen und Suizid: Video hier.
Presseberichte
Stern TV vom 07.04.2021 – Die Zeugen Jehovas: Was Aussteiger berichten
Wer die Gemeinschaft verlässt, der kann – so berichten es Aussteiger – alles verlieren. Wir haben Menschen getroffen, die trotz aller Widrigkeiten aus der umstrittenen Religionsgemeinschaft ausgestiegen sind. Was sie erlebt haben.
Reportage
Interviews im Studio
Österreich: Praxis bei Jehovas Zeugen unterläuft Grundrechte – Kundgebung gegen Kontaktabbruch und Ächtung vom 17.10.2021
BR vom 29.07.2021 – Sekten: Für Aussteiger fehlt oft therapeutische Hilfe
Sektenaussteiger stehen unter großem sozialen und emotionalen Druck. Damit ein Ausstieg gelingt, braucht es oft psychologischen Beistand – und Therapeuten mit Einblick in das Funktionieren religiöser Sekten. Das Bewusstsein dafür wächst nur langsam. Udo Obermayer ist bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen und spricht über seine Erfahrungen.
Norwegen: Staatliche Förderung für Jehovas Zeugen wegen Ächtungspraxis verweigert (Nilsen) vom 21.01.2022
Mitgliedern wird der Kontakt zu Ausgeschlossenen und Ausgestiegenen verweigert, auch Kinder können ausgeschlossen werden.
Norwegen: Gry Nygård hat vor dem Berufungsgericht gegen Zeugen Jehovas gewonnen vom 09.07.2021
Prozess in Belgien – Zeugen Jehovas wegen „Ausschlusspolitik“ zu 96.000 Euro Geldstrafe verurteilt vom 16.03.2021
Der hinter den Zeugen Jehovas stehende Verein wurde wegen Anstiftung zu Diskriminierung und Hass bzw. Gewalt gegen ehemalige Mitglieder, welche die Religionsgemeinschaft verlassen haben, verurteilt. „Die religiösen Regeln stehen in unserer Gesellschaft nicht über dem Gesetz,“ betonte der Richter.
Video-Analyse zu Vorträgen auf dem Kongress 2016 „Bleibe Jehovas gegenüber loyal“
In dem Video wird herausgearbeitet, dass Jehovas Zeugen eine Sekte sind, die sich nicht vor der Anwendung von psychischer Gewalt und Erpressung gegen Familienmitglieder scheut und das Kontaktverbot – auch zu engen Familienangehörigen – als Faustpfand zum Selbstschutz der Organisation dient.
Artikel in der Zeit online „Wie es wirklich ist … in einer Sekte aufzuwachsen“ vom 8. August 2017
Im Artikel geht es um die Geschichte einer heute jungen Frau, die als 15-Jährige ausgetreten ist. Sie erlebte den totalen Kontaktabbruch als Minderjährige und lebte nach dem Ausstieg deshalb in einer Pflegefamilie.
Artikel von The World News „Jehovah’s Witnesses applaud 10 year old girl for shunning her sister“ vom 11. August 2017
Bei einem der Sommer-Kongresse 2017 in den USA trat ein 10-jähriges Mädchen auf, das erklärte, dass es jeden Kontakt mit seiner ausgeschlossenen Schwester ablehne – obwohl diese gerne Kontakt mit ihrer kleinen Schwester gehabt hätte. Das Publikum reagierte mit lange anhaltendem Applaus. Infolge der schockierten Reaktionen der Öffentlichkeit wurde das Video auf verschiedenen Sites gelöscht, findet sich aber noch im Artikel von The World News. Siehe dazu auch den (ebenfalls englischen) Artikel bei jwsurvey.org.
Programm «Die Frage» von #Funk von ARD und ZDF Folge 3 – „Wie extrem sind die Zeugen Jehovas wirklich? Wann wird Glaube zu extrem?“ vom 10. Juli 2018 und Folge 4 „Zeugen Jehovas Aussteiger: So schwierig ist der Ausstieg! Wann wird Glaube zu extrem?“ vom 17. Juli 2018
Der Älteste und Pionier Marc-Oliver (29), der vom Funk-Reporter Frank interviewt wird, sagt, dass er keine Freunde außerhalb der JZ haben möchte. Er wollte sich nicht äußern zu den Aussagen eines Aussteigers und nicht einmal das Filmmaterial anschauen, in welchem dieser Aussteiger vorkommt. In der Folge 4 spricht Funk-Reporter Frank mit Kris, eben diesem Aussteiger. Kris berichtet, dass 70-80% seines sozialen Umfelds weggebrochen sei, als er ausgestiegen ist, Leute seiner ehemaligen Versammlung würden die Straßenseite wechseln, wenn sie ihn sähen. Der Umgang mit Ausgeschlossenen sei für ihn einer der Gründe gewesen auszusteigen. Seine Mutter hat Kontakt zu ihm, obwohl sie das nicht dürfte.
Gastbeitrag im Müttermagazin.com „Ich war eine Zeugin Jehovas. Heute bin ich frei“ vom 3. September 2018
Eine 38-jährige Frau berichtet über ihre Kindheit und Jugend bei den Zeugen Jehovas sowie über ihren Ausstieg als junge Erwachsene. Sie litt unter der durch die Religion bedingte soziale Ausgrenzung. Als Kind bekam sie mit, dass zwei Mädchen in ihrer Umgebung Opfer von Missbrauch wurden. Auch sie selbst war betroffen, sie wurde durch ihren Vater missbraucht. Die Geschlossenheit des Systems stellte für sie ein großes Hindernis dar, sich Hilfe zu holen.
Rundschau-Beitrag „Zeugen Jehovas – der Inside-Report“ vom 27. September 2017 – Sendung und Artikel zur Sendung
Der Älteste Thomas Steiner sagt zum Umgang mit ehemaligen Mitgliedern, diese würden gemieden. Auf die Frage, ob dadurch Familien auseinander gerissen und Freundschaften zerstört werden, meint Steiner, Familien würden so auch gestärkt, weil der negative Einfluss von Angehörigen mit schlechtem Lebenswandel wegfalle. Christian Rossi, der seine gesamte Jugend bei den Zeugen Jehovas verbrachte, erzählt im Rundschau-Interview, dass er, als er die Gemeinschaft verließ, Ächtung erfuhr und in der Folge eine sehr einsame und schwere Zeit erlebte.
BBC-TV-Sendung Victoria Debyshire „Jehovah’s Witnesses shunned after leaving their religion“ vom 25. Juli 2017 – Zusammenfassung der Aussagen der Interviewten
Sarah
In der Sendung kommen drei ehemalige Zeugen Jehovas zu Wort, die ausgeschlossen worden sind und in der Folge geächtet werden.
Eine junge Frau („Sarah“, nicht ihr richtiger Name) berichtet, wie sie als Zeugin Jehovas in der dritten Generation aufwuchs und keinen Kontakt haben durfte zu Personen außerhalb der Gemeinschaft. Trotz guter Noten, welche ein Studium erlaubt hätten, wurde ihr nahegelegt, mit 16 die Schule zu verlassen, zu arbeiten und Pionierdienst zu leisten. Sarah erlebte eine schwierige Ehe, ihr wurde jedoch, wie vielen anderen Zeugen Jehovas-Frauen, nahegelegt, sich zu bemühen. Weil sie wusste, dass ihr in Folge einer Scheidung Ausschluss drohte, blieb sie lange in dieser für sie belastenden Beziehung. Nach ihrem Ausstieg haben sämtliche Familienangehörige den Kontakt abgebrochen.
John
Der Aussteiger „John“ (nicht sein richtiger Name) berichtet von sozialer Isolation in seiner Schulzeit und dem Mangel an Freundschaften mit Schulkollegen, die er außerhalb der Schule nicht treffen durfte. Auch er hätte gerne studiert, was von Seiten der Versammlung aber vehement abgelehnt wurde, deshalb begann er mit 16 als Fensterputzer zu arbeiten. Als ein Freund von ihm schwer erkrankte und eine Bluttransfusion gebraucht hätte aber ablehnte und darum verstarb, verstärkte das seine bereits vorhandenen Zweifel. Schließlich wurde er durch ein sog. Rechtskomitee wegen Apostasie ausgeschlossen. Seither haben weder Familienangehörige noch Freunde Kontakt zu ihm. Seine Frau hatte ihn wegen seiner Zweifel bei den Ältesten angeschwärzt, was in der Folge zur Trennung führte. Nach dem Ausschluss ging es ihm extrem schlecht, er war suizidal.
Terry
Die dritte interviewte Person, Terry O’Sullivan, ist seit 17 Jahren nicht mehr bei den Zeugen Jehovas und aktiv in der Betroffenenarbeit. Sie wurde nicht ausgeschlossen, sondern distanzierte sich von der Gemeinschaft, was jedoch im Endeffekt auf das Gleiche hinauslaufe, so Terry. Freunde seit frühester Kindheit würden die Straßenseite wechseln, wenn sie Terry sehen, die Kinder ihrer Schwester, die jetzt junge Erwachsene sind, kennt sie nicht. Eine zweite Schwester lernte sie nie kennen, weil diese ältere Schwester, als Terry ein Kind war, ausgeschlossen war und wieder in die Gemeinschaft eintrat, als Terry diese verließ.
Zuschauerzuschriften von anderen ehemaligen Zeugen Jehovas bestätigen, was die Interviewten sagten: Lebensbedrohliche Folgen des Blutverbots, Ächtung und soziale Isolation als Folge von Ausschluss und verpasste Lebenschancen durch die soziale Isolation und die Bildungsfeindlichkeit.