Der norwegische Aktivist Jan Frode Nilsen und der Rechtsberater der Zeugen Jehovas, Ben Elder:
Auf entgegengesetzten Seiten stehend – so erlebten sie den Prozess
FAZIT: Am Freitag trennten sich nach dem zweiwöchigen Streit zwischen dem Staat und den Zeugen Jehovas die Wege der Parteien vor dem Osloer Bezirksgericht. Ben Elder und Jan Frode Nilsen haben den Fall von verschiedenen Seiten aus verfolgt.
Ein Artikel von Jor Hjulstad Tvedt, erschienen in der Tageszeitung Vårt Land
Veröffentlicht: am 19. Januar 2024
Übersetzung: JZ Help e.V.
Am Freitag haben die Parteien ihre Schlussplädoyers im Prozess zwischen den Zeugen Jehovas und dem Staat vor dem Osloer Bezirksgericht gehalten. Das Gericht hat sich nun zurückgezogen, und der Fall wurde zur Verhandlung aufgenommen.
Vårt Land hat mit zwei Personen gesprochen, die den Fall in dieser Woche aufmerksam verfolgt haben – und zwar von verschiedenen Seiten. Jan Frode Nilsen ist ein ehemaliges Mitglied der Organisation und war selbst als Zeuge für den Staat geladen.
Ben Elder ist Rechtsberater bei der Europäischen Vereinigung der Zeugen Jehovas zum Schutz der Religionsfreiheit, einer Organisation, die sich gegen die Justiz und die Behörden einsetzt, um die Interessen der Religionsgemeinschaft zu verteidigen.
Jan Frode Nilsen sagt, dass es in den letzten Tagen schwierig war, die Verfahren der Zeugen Jehovas zu verfolgen.
„Es wird so dargestellt, als ob alles, was man erlebt hat, und die Geschichte, die man mit sich herumträgt, nur in seinem eigenen Kopf ist“, sagt er.
Er sagt, er sei vor allem überrascht, wie weit die Zeugen Jehovas gehen, wenn sie leugnen, dass es eine feste Lehre darüber gibt, wie die Ausgeschlossenen zu behandeln sind. Gleichzeitig hat er das Gefühl, dass die Anwälte der Religionsgemeinschaft in dieser Frage schwanken.
„In einem Moment geben sie zu, dass es eine Praxis gibt, im nächsten sagen sie, dass sie keine haben. Meiner Meinung nach sollte es eigentlich keinen Zweifel an der Tatsache geben, und die interessante Frage ist die rechtliche.“
(Privatfotos)
Internationale Aufmerksamkeit
Unabhängig vom Ausgang des Verfahrens ist Nilsen der Ansicht, dass man aus diesem Fall viel lernen kann. Deshalb wird er auch von Ex-Zeugen in der ganzen Welt sehr aufmerksam verfolgt, sagt er. Mit der Behauptung, dass es keine korrekte Praxis gibt und dass es jedem einzelnen Mitglied überlassen bleibt, wie es mit ausgeschlossenen Mitgliedern umgeht, haben die Zeugen Jehovas nach Ansicht von Nilsen Aussagen gemacht, die internationale Bedeutung haben werden.
„Sie haben die Zahnpasta aus der Tube gedrückt, und sie werden es nie wieder rückgängig machen können. Und es gibt nichts, was wir mehr wollen als das.“
Er sagt auch, dass das, was sich vor Gericht zeigte, völlig im Gegensatz zu dem steht, was im Wachtturm, der eigenen Zeitschrift der Zeugen Jehovas, steht.
„Deshalb wollen sie die Veröffentlichungen der Zeugen Jehovas von der Beweisführung abschirmen und sagen, dass dies „heilige Texte“ sind, die der Staat nicht auslegen kann. Denn sie wissen, was dort geschrieben steht.“
„Für uns ist es eine Frage der Glaubwürdigkeit, wer die Wahrheit sagt. Immerhin werden wir als ein paar verärgerte Aktivisten dargestellt. Dann ist es klar, dass es persönlich wird.“
– Jan Frode Nilsen –
Selbsttherapeutisch
Für ihn und die anderen Ex-Zeugen geht es nicht in erster Linie darum, vor Gericht zu gewinnen, sagt Nilsen. Ob die Zeugen Jehovas die staatliche Unterstützung verlieren, ist seiner Meinung nach Nebensache. Viele derjenigen, die vor Gericht ausgesagt haben, haben ihre Geschichte noch nie zuvor auf diese Weise erzählt, und er sagt, dass dies an sich eine große Bedeutung hatte.
Er sagt auch, dass er und die anderen Ex-Zeugen es seltsam fanden zu hören, wie sich die Zeugen Jehovas als verletzliche Minderheit darstellen.
„Denn auf individueller Ebene sind wir [Ex Zeugen Jehovas im Gericht in Oslo – Anm. JZ Help e.V.] diejenigen, die in der Minderheit waren. Einzelpersonen [ohne große finanzielle Mittel – Nachtrag von Jan Frode Nilsen an JZ Help e.V.] im Angesicht einer weltweiten Organisation, die Milliarden in den Büchern und Millionen von Mitgliedern hat.“ [Sie zahlten ihrem Anwalt Ryssdal 600 € pro Stunde. Insgesamt haben sie allein für dieses Gerichtsverfahren im Januar
450.000 EUR ausgegeben. – Nachtrag von Jan Frode Nilsen an JZ Help e.V.]
Nilsen meint auch, dass die Anwälte der Regierung gute Arbeit geleistet haben. Ihm zufolge sind sie ruhig geblieben und haben dem widerstanden, was er als Strategie der Verschleierung und Verwirrung durch Hervorhebung irrelevanter Punkte und Beispiele ansieht:
„Die Zeugen Jehovas wollen die Sache als eine Frage religiöser Verfolgung darstellen. Ich habe das Gefühl, dass die Anwälte gut darin sind zu sagen: „Entspannen Sie sich, darum geht es nicht, es geht um eine staatliche Unterstützungsregelung“.“
Keine Kenntnis von anderen Fällen
Ben Elder war Zeuge für die Zeugen Jehovas und sagt, dass die Organisation, die er vertritt, oft als dritte Partei in europäischen Gerichtsverfahren auftritt. Sie arbeiten auch daran, das Verständnis für die Herausforderungen, mit denen die Zeugen Jehovas konfrontiert sind, unter öffentlichen Akteuren und Menschenrechtsaktivisten zu verbreiten.
Sie haben den Fall zwischen dem Staat und den Zeugen Jehovas in Norwegen seit dessen Beginn im Jahr 2022 verfolgt.
Frage: „Ist der Fall einzigartig im europäischen Kontext?“
Elder: „Ja und nein, ähnliche Anschuldigungen sind in der Vergangenheit erhoben worden. Einzigartig ist jedoch, dass es so weit gekommen ist und dass die Registrierung als Religionsgemeinschaft bereits zurückgezogen wurde. Ich glaube nicht, dass das bisher in einem anderen europäischen Land geschehen ist. Das ist Neuland für uns, und um ehrlich zu sein, waren wir von der Entscheidung des Landrats und des Ministeriums sehr überrascht.“
Laut Elder beobachtet die Organisation eine zunehmende Aktivität der so genannten „Anti-Kult“-Organisationen in Europa. Laut Elder handelt es sich dabei um Organisationen, die mit dem Ziel gegründet wurden, religiöse Minderheiten anzugreifen, indem sie behaupten, sie seien zweitklassige Religionen und schädlich für die Gesellschaft.
„Die gleiche Rhetorik wird in jedem Land mit genau dem gleichen Wortlaut wiederholt.“
Glaubt, dass der Staat schwache Beweise hat
Auf die Frage, ob er zuversichtlich sei, dass sich das Gericht auf ihre Seite schlagen werde, antwortet Elder, er sei zuversichtlich, dass der Fall auf soliden rechtlichen Argumenten beruhe. Aber wenn es um das Ergebnis geht, hängt alles davon ab, was der Richter hervorhebt, sagt er.
Frage: „Beeindrucken Sie die Geschichten, die in den Aussagen der Ex-Zeugen auftauchen?“
Elder: „Ja, natürlich, wenn Menschen schlechte Erfahrungen gemacht haben und psychisch krank sind – das ist eine schreckliche Situation, in der man sich befindet. Aber zu sagen, dass dies auf unsere Religion zurückzuführen ist… Da tun wir uns ein bisschen schwer.“
Er sagt auch, dass der Staat keine Beweise für eines seiner Hauptargumente vorgelegt hat, nämlich dass die Organisation Minderjährige ausschließt und auf diese Weise psychologische Gewalt gegen Kinder ausübt.
„Der einzige Beweis, den der Staat vorgelegt hat, dass Minderjährige ausgeschlossen werden, war ein Fall vor fast 30 Jahren. Wenn das alles ist, dann ist es zu wenig, um zu sagen, dass es ein großes Problem ist.“
In die Gesellschaft integriert
Frage: „Aber selbst, wenn Sie sich dafür verbürgen, dass es sich um Einzelschicksale handelt und dass es rechtlich nichts zu beanstanden gibt. Glauben Sie, dass Sie trotzdem etwas an der Art und Weise, wie Sie ehemalige Mitglieder behandeln, tun könnten, damit weniger schlechte Erfahrungen gemacht werden?“
Elder: „Das ist eine gute Frage, und ich glaube, sie wurde von der Religionsgemeinschaft beantwortet, als der Staatsverwalter sagte, dass die Zeugen Jehovas ihre Praxis ändern müssen, um Unterstützung zu erhalten. Das können wir nicht, denn sie basiert auf unserem Verständnis der Bibel und unserer festen Überzeugung von dem, was sie sagt“, antwortet Elder.
Er fügt hinzu, dass sich die Organisation „natürlich“ an die nationale Gesetzgebung halten werde, aber er sei zuversichtlich, dass die derzeitige Gesetzgebung auf ihrer Seite sei.
Frage: „Sie werden oft als eine geschlossene Religionsgemeinschaft bezeichnet. Was denken Sie darüber?“
Elder: „Ich persönlich finde das lächerlich, aber das hören wir oft, ja. Wir leben nicht in Isolation, wir haben Fernsehen, Internet und nehmen am Gemeinschaftsleben teil.“
Im Vergleich zu vielen anderen Religionsgemeinschaften sind die Zeugen Jehovas nach Ansicht von Elder sehr gut in die Gesellschaft integriert.
„Wir schicken unsere Kinder auf dieselben Schulen wie alle anderen, wir sind Ihre Nachbarn und Ihre Kollegen. Wir stehen sogar auf Ihrer Fußmatte, und am Samstagmorgen stehen wir an der Straßenecke“, sagt er mit einem Lächeln.
Das Urteil wird voraussichtlich in etwa zwei Wochen erwartet.
Fortsetzung folgt!
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