Die norwegische Regierung hat 2022 festgestellt, dass die Zeugen Jehovas als Religionsgemeinschaft das Recht ihrer Mitglieder auf freie Meinungsäußerung verletzt und damit auch gegen das Recht auf Religionsfreiheit verstößt, was als besonders schwerwiegend bewertet wird. Gleiches gilt für die negative soziale Kontrolle von Kindern, was gegen den Menschenrechtsschutz von Kindern nach der Konvention über die Rechte des Kindes verstösst. Die Praxis wird von der Religionsgemeinschaft systematisch verfolgt und den Mitgliedern über verschiedene Kanäle mitgeteilt. Damit werden die Verstöße offenbar vorsätzlich begangen.
Deshalb verlieren die Zeugen Jehovas in Norwegen für 2021 zunächst staatliche Fördergelder und danach auch noch die Registrierung als Religionsgemeinschaft.
Jehovas Zeugen erwirken daraufhin eine einstweiligen Verfügung am 30.12.2022, in der das Bezirksgericht Oslo entschied, dass die Registrierung der Zeugen Jehovas aufrechterhalten werden muss bis in der Hauptsache entschieden ist. Verfahrenskosten bekommen Jehovas Zeugen nicht ersetzt.
Am 26.04.2023 hob das Bezirksgericht Oslo die einstweilige Verfügung auf. Die Verfahrenskosten müssen von den Zeugen Jehovas dem Staat Norwegen innerhalb von 2 Wochen ersetzt werden.
Im Hauptsache-Verfahren bestätigte das Bezirksgericht Oslo am 04.03.2024 die Entscheidung des Staates Norwegen, dass es sich bei der Ächtungspraxis der Zeugen Jehovas um „schwerwiegende Verletzungen der Rechte und Freiheiten anderer“ handelt und dass damit ihnen staatliche Zuschüsse und die Registrierung als Religionsgemeinschaft zu Recht entzogen worden sind.
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Zusammenfassung
In Norwegen erhalten registrierte Religionsgemeinschaften staatliche Mittel. Im Zuge der Überarbeitung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Registrierung als Religionsgemeinschaft verloren die Zeugen Jehovas für das Jahr 2021 zunächst die staatlichen Fördergelder in der Höhe von 16 Millionen NOK (rund 1.5 Mio. Euro) und danach auch die Registrierung als Religionsgemeinschaft. Dagegen geht die Wachtturm-Organisation jetzt juristisch vor, es wird zu einem Gerichtsverfahren kommen. Der Verlust der Registrierung hätte zur Folge, dass die Organisation keine Trauungen mehr vornehmen könnte. Vor allem aber ist das ein immenser Imageschaden.
Eine umfassende Dokumentation der Ereignisse inklusive der Dokumente findet sich auf Englisch auf dieser Seite. Hier folgt ein Überblick über die Ereignisse mit Verlinkung auf übersetzte Dokumente und Medienbeiträge.
Ächtung und nötigendes Verhalten – auch gegen Kinder
Grund für die Einstellung der staatlichen Förderung und die Entscheidung, die Registrierung als Religionsgemeinschaft zu streichen, ist unter anderem, dass auch Kinder und Jugendliche von Ausschluss und Ächtung bzw. nötigendem Verhalten betroffen sind (s. das Urteil weiter unten). Auf die Ausschlusspraxis wies der Aktivist Jan Frode Nielsen das Ministerium für Kinder und Familien hin. Es gab auch eine breite Berichterstattung in den Medien und verschiedene Politiker/innen forderten die Streichung staatlicher Gelder an Gemeinschaften, welche die Rechte von Mitgliedern verletzen, wie die Online-Zeitung Nyheter am 29. Oktober 2021 berichtete.
Entscheidung – Verlust der staatlichen Förderung
Am 27. Januar 2022 gab die zuständige Behördenvertreterin, die Staatsverwalterin von Oslo und Viken, in einer Mitteilung auf der Website bekannt, dass die Zeugen Jehovas die staatliche Förderung verlieren und ihnen zudem die Streichung der Registrierung als Religionsgemeinschaft droht. Gleichentags erschien dazu der Artikel bei vl.no über den Aktivisten Jan Frode Nilsen, der den Prozess ins Rollen gebracht hatte. Auch der Artikel in der Zeitung Vårt Land vom 15. Februar 2022 befasst sich mit einem möglichen Verlust der Registrierung als Religionsgemeinschaft.
Stellungnahme der Leitung der Zeugen Jehovas
Im Lagebericht der Leitenden Körperschaft vom 2. Dezember 2022 (ab Min. 2:53) gehen Anthony Morris III, Mitglied der Leitenden Körperschaft, und Jørgen Pedersen, Vertreter des skandinavischen Zweigs, auf die Streichung der staatlichen Zuschüsse ein. Pedersen bezeichnet diesen Schritt als «verfassungswidrig» und als «Angriff auf die Religionsfreiheit». Er verweist in dem Zusammenhang auf die Verfolgung von Zeugen Jehovas im zweiten Weltkrieg. S. dazu den Artikel in der Zeitung Vårt Land vom 6. Dezember 2022.
Entscheidung – Verlust der Registrierung
In einer Mitteilung vom 22. Dezember 2022 auf der Website der Staatsverwalterin teilt diese mit, dass den Zeugen Jehovas in Norwegen die Registrierung als Religionsgemeinschaft entzogen wird. Die Entscheidung in deutscher Übersetzung findet sich hier.
Einstweilige Verfügung
Die Zeugen Jehovas erwirkten daraufhin am 30. Dezember 2022 eine einstweilige Verfügung. Das bedeutet, dass ein Gericht den Fall beurteilen muss. Die Staatsverwalterin hat angekündigt, die Entscheidung anzufechten und das Büro des Staatsanwaltes kontaktiert.
(siehe dazu diesen englischsprachigen Artikel)
Einstweilige Verfügung aufgehoben
Auf Antrag der Staatsverwalterin hat das Bezirksgericht Oslo am 26.04.2023 die einstweilige Verfügung aufgehoben. Jehovas Zeugen haben dem Staat die Verfahrenskosten innerhalb von 2 Wochen zu erstatten.
(siehe dazu diesen englischsprachigen Artikel)
Zeitstrahl
Die Abfolge der Ereignisse sind unten unter der Überschrift „Zeitstrahl“ zu finden, weitere Hintergrundinformationen in einer Serie von Tweets des Aktivisten Mark O’Donnell unter der Überschrift „Zum Hintergrund der staatlichen Streichung der Zeugen Jehovas als Religionsgemeinschaft„.
Von der Website aviodjw.org, übersetzt von JZ Help
1. Januar 2021
Die neue Fassung des Gesetzes über die Religionsgemeinschaften tritt in Kraft.
26. Februar 2021
Die Zeugen Jehovas stellen einen Antrag auf staatliche Zuschüsse für 12.727 Mitglieder.
15. März 2021
Das Ministerium für Kinder und Familien erhält eine Anfrage von einem ehemaligen Zeugen Jehovas, der die Ausgrenzungspraxis der Religionsgemeinschaft erläutert.
15. April 2021
Das Ministerium für Kinder und Familien leitet die Anfrage an die Staatsverwalterin weiter und fragt, ob die Informationen eine Grundlage für weitere Untersuchungen darstellen.
27. Mai 2021
Die Staatsverwalterin setzt sich mit den Zeugen Jehovas in Verbindung und bittet um eine Erklärung.
23. Juni 2021
Die Zeugen Jehovas antworten auf die Anfrage der Staatsverwalterin.
15. September 2021
Die Staatsverwalterin kontaktiert die Zeugen Jehovas erneut unter Hinweis auf weitere Anfragen und teilt der Religionsgemeinschaft mit, dass die Informationen in den Anfragen Auswirkungen auf die Bearbeitung ihres Antrags auf staatliche Zuschüsse haben könnten, und bittet um Stellungnahme innerhalb von drei Wochen.
4. Oktober 2021
Die Zeugen Jehovas bitten um weitere Aufklärung über die Grundlage der Untersuchung und die mögliche Ablehnung von Zuschüssen.
25. Oktober 2021
Die Staatsverwalterin antwortet auf die Anfrage der Zeugen Jehovas.
19. November 2021
Die Staatsverwalterin erhält eine Stellungnahme der Jehovas Zeugen.
27. Januar 2022
Die Staatsverwalterin beschließt, den Zeugen Jehovas staatliche Subventionen zu verweigern.
17. Februar 2022
Die Zeugen Jehovas legen Berufung gegen das Urteil ein.
30. März 2022
Das Ministerium für Kinder und Familien erhält die Klage der Zeugen Jehovas.
7. April 2022
Die Europäische Vereinigung der Zeugen Jehovas schreibt an die Ministerin für Kinder und Familien und bittet um ein kurzes Treffen, „um genaue Informationen über unsere religiösen Praktiken zu geben“.
25. April 2022
Die Europäische Vereinigung der Zeugen Jehovas schreibt an den Ombudsmann für Gleichstellung und Antidiskriminierung und bittet um ein kurzes Treffen, um „mögliche Empfehlungen im Zusammenhang mit dieser Angelegenheit“ zu erhalten.
30. September 2022
Das Ministerium für Kinder und Familien hält die Entscheidung der Staatsverwalterin aufrecht, die staatlichen Subventionen für 2021 zu verweigern.
25. Oktober 2022
Die Staatsverwalterin in Oslo und Viken teilt den Zeugen Jehovas mit, dass die Religionsgemeinschaft aus dem Register der Religionen gestrichen werden könnte.
8. November 2022
Die Zeugen Jehovas schreiben an die Staatsverwalterin in Oslo und Viken und erklären, dass sie gegen den Bescheid Einspruch erheben, bitten um eine Verschiebung der Frist, um eine Klärung der Bedingungen, die die Religionsgemeinschaft beheben soll, und um ein Treffen.
14. November 2022
Die Staatsverwalterin in Oslo & Viken gewährt die verlängerte Antwortfrist, verweist die Zeugen Jehovas auf die Abschnitte des Gesetzes über die Religionsgemeinschaft, gegen die verstoßen wurde, und kommt ihrem Antrag auf ein Treffen nach.
2. Dezember 2022
Schreiben der Anwaltskanzlei Glittertind AS an die Staatsverwalterin mit der Bitte um Aufschub der Umsetzung.
14. Dezember 2022
Die Anwaltskanzlei Glittertind AS richtet eine dringende E-Mail an die Staatsverwalterin.
14. Dezember 2022
Die Zeugen Jehovas schreiben an die Staatsverwalterin.
22. Dezember 2022
Formelles Ersuchen der Anwaltskanzlei Glittertind AS an das Ministerium für Kinder und Familien.
22. Dezember 2022
Entscheidung der Staatsverwalterin über den Verlust der Registrierung.
30. Dezember 2022
Urteil über die einstweilige Verfügung.
6. Januar 2023
Schreiben des Ministeriums für Kinder und Familien an Jan F. Nilsen.
26. April 2023
Urteil zur Aufhebung der einstweiligen Verfügung.
Zum Hintergrund der staatlichen Streichung der Zeugen Jehovas als Religionsgemeinschaft
Serie von Tweets des Aktivisten Mark O’Donnell vom 23. Dezember 2022, übersetzt von JZ Help.
1) Die Zeugen Jehovas haben ihre Zulassung als religiöse Organisation in Norwegen verloren.
Wir wollen untersuchen, was das bedeutet. 🧵
Erstens haben sie den Gegenwert von 1,6 Millionen US-Dollar an staatlichen Subventionen pro Jahr verloren.
2) Zweitens ist es den JZ untersagt, Eheschließungen vorzunehmen – eine Situation, die sicherlich peinlich ist, insbesondere für die Ältesten, die dieses Privileg gerne in Anspruch nehmen.
Lassen Sie uns über das Geld sprechen. Das schmerzt die Zeugen Jehovas nämlich mehr als alles andere. Warum wollen die Zeugen Jehovas dieses Geld?
3) Das Geld ist eine Unterstützung für alle Religionen in Norwegen. Auf diese Weise wirkt Norwegen der Diskriminierung derjenigen entgegen, die nicht der staatlich unterstützten lutherischen Kirche angehören.
4) Um in den Genuss dieser Mittel zu kommen, müssen sich jedoch alle Religionsgemeinschaften an die von der Regierung aufgestellten Verhaltenskodizes halten. In den letzten Jahren wurden diese Anforderungen zum Schutz der Kinder in Glaubensgemeinschaften präzisiert.
5) Eine der Anforderungen ist, dass minderjährige Kinder nicht der sozialen Isolation als Form der Bestrafung ausgesetzt werden dürfen. Diese Forderung trägt dazu bei, Kinder davor zu schützen, dass sie durch extreme kirchliche Praktiken übermäßig unter Druck gesetzt und isoliert werden.
6) Da Kinder besonders anfällig für Missbrauch durch Eltern und Autoritätspersonen sind, sind diese einfachen Anforderungen logisch und werden von der Öffentlichkeit wie auch von den über 700 Religionsgemeinschaften in Norwegen begrüßt.
Außer von den Zeugen Jehovas.
7) Die ZJ sind die einzige etablierte Religion in Norwegen, die sich schlichtweg geweigert hat, diese vernünftigen Anforderungen zu erfüllen, und infolgedessen ihren offiziellen Status als Religionsgemeinschaft verloren hat.
Sie unterliegen jedoch weder einem Verbot noch anderen Einschränkungen.
8) Die Zeugen Jehovas können immer noch predigen und Versammlungen abhalten und weiterhin Erwachsene und Minderjährige ausschließen – aber sie haben keinen Anspruch auf die finanziellen Vorteile, die andere Religionen erhalten. Und darüber sind sie äußerst verärgert.
Die Zeugen Jehovas setzen dies mit Verfolgung gleich und fordern Gerechtigkeit.
9) Nach ausführlichen Gesprächen und E-Mails mit der norwegischen Regierung sind den Zeugen Jehovas die Möglichkeiten ausgegangen und sie versuchen, Norwegen wegen der angeblichen Verletzung ihrer religiösen Rechte zu verklagen.
Die Zeugen Jehovas möchten, dass dieser Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kommt.
10) Der Ausschluss aus der Gemeinschaft wurde in anderen Ländern wie Belgien und Kanada angefochten, wobei die ZJ diese Fälle auf der Grundlage der Freiheit, ihren Glauben ohne Einmischung der Regierung zu praktizieren, gewonnen haben. Dieser Fall ist jedoch anders, da es sich um Gesetze handelt, die Kinder betreffen.
11) Die Zeugen Jehovas praktizieren und predigen eine sehr verzerrte Weltsicht – eine Sichtweise, die behauptet, „Cäsars Gesetze“ zu respektieren und sich dabei auf Römer 13 beruft. Doch wenn Cäsar ein gerechtes Gesetz zum Schutz von Kindern vorschreibt, schreien die Zeugen Jehovas auf und erklären, dass sie sich nicht daran halten werden.
12) In Wirklichkeit gibt es nichts Christliches am Ausschluss aus der Gemeinde. Selbst wenn man das Konzept des „Entfernens des bösen Mannes“ aus der Gemeinde akzeptiert, meint die Schrift sicherlich nicht „das böse Kind“.
13) Der Ausschluss aus der Gemeinschaft setzt Schlechtigkeit voraus, und womit wir es hier zu tun haben, ist ganz einfach – das Konzept der Zeugen Jehovas, dass minderjährige Kinder voll entwickelte Menschen sind, die böse und reuelos werden – und deshalb von allen außer den Eltern, bei denen sie leben, völlig isoliert werden.
14) Über getaufte Kinder werden permanent Aufzeichnungen gemacht und in den riesigen Datenbanken der Hauptquartiere der Zeugen Jehovas in den USA und im mitteleuropäischen Zweig gespeichert. Sollte das minderjährige Kind niemals „bereuen“ und der Religion nicht wieder beitreten, bleiben seine Aufzeichnungen für immer bestehen.
15) Diese Aufzeichnungen enthalten die Gründe für den Ausschluss des minderjährigen Kindes, selbst wenn das Kind Opfer eines sexuellen Übergriffs war. In vielen Fällen erklären die Ältesten der Zeugen Jehovas eine/n Minderjährige/n zur/m „willigen Teilnehmer/in“ am eigenen sexuellen Übergriff. Diese Aufzeichnungen werden auf unbestimmte Zeit aufbewahrt.
16) Der Schutz von Kindern vor unzulässiger Beeinflussung, Nötigung und sozialer Isolation ist eine Priorität, und es scheint, dass Norwegen einen notwendigen Schritt unternommen hat, indem es einer Religion, die ein derart brutales Verhalten an den Tag legt, die Registrierung und die Bereitstellung von Mitteln verweigert.
17) Die Praktiken der ZJ kommen der Scharia gleich, aber sie scheinen nicht zu begreifen, dass wir nicht in biblischen Zeiten leben und dass unsere verfassungsmäßigen Regierungen keine Religionen dulden werden, die versuchen, unseren Regierungen das Gesetz zu diktieren.
18) Es gibt einen schmalen Grat zwischen dem, was Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder tun dürfen, und dem, was eine unzulässige Beeinflussung und ein Nötigungsverhalten darstellt. Die Führung der JWs hat diese Grenze überschritten, indem sie die Religionsfreiheit dafür nutzte, diese Schwelle zu überschreiten.
19) Für alle, die genaue Informationen über die Situation in Norwegen wünschen, folgen Sie bitte @jfnilsenfür regelmäßige Aktualisierungen und die Verteilung der offiziellen Regierungsakten. Diese Dokumente finden Sie auch bei @AvoidJWorg.
20) Vorerst haben die ZJ ihren Status als eingetragene Religionsgemeinschaft in Norwegen verloren, und dies könnte zu ähnlichen Maßnahmen in anderen europäischen Ländern und darüber hinaus führen. Jetzt ist es an der Zeit, alle Faktoren zu berücksichtigen, damit wir verstehen, was passiert ist und warum.