ZEUGEN JEHOVAS NEUSEELAND
Online-Artikel bei RNZ vom 15. August 2023
Übersetzt von JZ Help
Von Anusha Bradley, investigative Journalistin
Ein Ältester der Zeugen Jehovas behauptet, er sei dazu aufgefordert worden, vertrauliche Dokumente der Gemeinschaft zu vernichten, darunter auch solche, die sich auf Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch beziehen. Der Informant, dessen Namen die RNZ nicht nennen will, um seine Identität zu schützen, weil er Repressalien fürchtet, war ein Ältester. Am 9. März 2021 wurde er nach eigenen Angaben von einem Vorgesetzten aufgefordert, alle „Rechtsfälle“ in den vertraulichen Akten seiner Versammlung auf persönliche Notizen hin zu überprüfen und diese zu vernichten. Bei den Rechtsfällen handelt es sich um Akten der Organisation, die sich auf Anhörungen des „Rechtskomitees“ beziehen, ein internes Verfahren, das dazu dient, die Sanktionen für „Verfehlungen“, einschließlich sexuellen Missbrauchs von Kindern, zu sprechen. Der Älteste, der diese Behauptung macht, ist inzwischen aus der Gemeinschaft ausgetreten. Es ist eine Straftat, „potenziell relevante Informationen“ für die „Royal Commission of Inquiry into Abuse in Care“ zu vernichten, an der Zeugen Jehovas beteiligt sind, da im März 2019 ein Moratorium verhängt wurde.
Die Gemeinschaft weist jeden Verdacht einer Straftat „entschieden zurück“ und sagt, sie habe die Anweisungen der Kommission zur Aufbewahrung von Unterlagen „sorgfältig befolgt“.
„Rechtsverfahren“ der Kirche
Die Vorwürfe fallen mitten in die Zeit, in der bekannt wurde, dass es elf aktive Zeugen Jehovas gibt, die wegen sexuellen Kindesmissbrauchs verurteilt wurden oder gegen die schwere Anschuldigungen erhoben wurden. Die meisten Mitglieder der Religionsgemeinschaft scheinen keine Ahnung zu haben, wer die Straftäter sind. Wenn ein Vorwurf des Kindesmissbrauchs erhoben wird, führen die Kirchenältesten eine schriftgemäße Untersuchung durch, um die Schuld zu ermitteln. Nach den Richtlinien der Kirche, die sich auf die Bibel stützen, müssen ein Geständnis des Täters oder mindestens zwei Augenzeugen des Vorfalls vorhanden sein. Sobald die Schuld festgestellt ist, halten drei Älteste ein Rechtskomitee mit dem Sünder bzw. der Sünderin ab, um zu entscheiden, ob er oder sie Reue zeige. Falls ja, kann die Person in der Gemeinde bleiben, aber bestimmte Privilegien werden ihr entzogen. Falls sie nicht reumütig ist, wird sie wahrscheinlich „ausgeschlossen“ (disfellowshipped) oder exkommuniziert und geächtet (shunned). Die einzige detaillierte Dokumentation jeder Untersuchung sind die „persönlichen Notizen“, die von den Ältesten, die den Ausschuss leiten, angefertigt werden. Der Informant sagte, die Anweisung eines Ältesten im März 2021 sei „nur ein Reminder“ bzgl. der Richtlinie der Organisation vom August 2019 gewesen, persönliche Notizen zu vernichten. „Aber sie wollten ausdrücklich, dass jeder Älteste sich vergewissert, dass er die Vorschriften noch einhält. In meinem Fall hatte ich keine persönlichen Notizen, also musste ich auch keine vernichten“, sagte er. Bis zur Änderung der Policy enthielten die versiegelten Umschläge mit den offiziellen Formularen des Rechtskomitees der Gemeinschaft auch persönliche Notizen der Ältesten zu einem bestimmten Fall. Im Ausland wurden diese Notizen in Fällen von sexualisierter Gewalt gegen Kinder als Beweise herangezogen. Eines Abends, zehn Tage nach Erhalt dieser Anweisungen, wurde der Informant nach eigenen Angaben gebeten, dringend in den Königreichssaal zu kommen. Älteste aus anderen Versammlungen, die sich denselben Saal teilten, wurden ebenfalls gebeten zu kommen. Jeder sammelte die vertraulichen Akten seiner Versammlung ein und sie wurden in getrennte Räume gebracht, berichtete er. Dort erhielt er einen Anruf vom regionalen Hauptsitz der Organisation in Sydney – intern als „Zweigstelle“ bezeichnet -, der alle neuseeländischen Gemeinden beaufsichtigt, mit der Aufforderung, alle Akten über sexuellen Kindesmissbrauch zu öffnen und erneut zu prüfen, ob sich in den versiegelten Umschlägen persönliche Notizen befänden. Er hatte nur einen einzigen Fall von sexuellem Kindesmissbrauch in seiner vertraulichen Akte, und diese enthielt keine persönlichen Notizen. „Ich nehme an, wenn es welche gegeben hätte, wäre ich angewiesen worden, sie sofort zu vernichten.“ Damals habe er nichts vom Moratorium bzgl. der Vernichtung von allem, was mit der Royal Commission in Verbindung stehen könnte, gewusst, er habe auch nichts von der Anweisung gewusst, persönliche Notizen zu überprüfen und zu vernichten, führte er aus. „Ich dachte einfach, es handle sich um eine Verwaltungsaufgabe. Die Ältesten vertrauen den Anweisungen, die von der Rechtsabteilung des Zweigbüros kommen, blind.“ Erst später, als er erfuhr, wie die Organisation mit Anschuldigungen zu Kindesmissbrauch in Australien umgegangen war, wurde ihm klar, dass die persönlichen Notizen wichtige Informationen enthalten könnten – darunter die Namen der Opfer und Einzelheiten über mutmassliche Straftaten -, die vor Gericht als Beweismittel verwendet werden könnten. „Ich war zutiefst erschüttert, weil mir klar wurde, wie nahe ich daran war, gegen das Gesetz zu verstossen und einen Verbrecher zu schützen.“
Die vertraulichen Akten
Eine der Versammlungen, die denselben Königreichssaal nutzte, hatte „Dutzende“ vertraulicher Akten in einer grossen weissen Plastikbox im Hinterzimmer gelagert, so der Informant. Viele der Umschläge waren mit der Aufschrift „nicht zerstören“ versehen, die gemäss Policy der Zeugen Jehovas auf allen Akten über Fälle zu sexuellem Kindesmissbrauch angebracht werden muss. „Das erweckte meine Aufmerksamkeit, weil ich überrascht war, wie viele es waren.“ Mitte Juni machte der ehemalige Älteste Shayne Mechen von der Geschädigtengruppe „JW for Justice“ die Polizei im Namen des Informanten auf den Verbleib der Kiste aufmerksam und erzählte der Behörde von der Anweisung, Dokumente zu vernichten. Die Polizei erklärte jedoch, sie werde keine Schritte unternehmen. „Die Polizei hat Nachforschungen angestellt, aber zum jetzigen Zeitpunkt benötigen wir mehr Informationen, um weiter zu ermitteln“, sagte ein Sprecher in einer Stellungnahme gegenüber der RNZ. „Die Polizei nimmt jede Anzeige wegen sexueller Übergriffe ernst und weiss, wie schwierig es ist, nach einem sexuellen Übergriff Hilfe zu suchen. „Unabhängig davon, ob der Missbrauch erst kürzlich stattgefunden hat oder schon länger zurückliegt, werden die Polizei und speziell geschulte Personen dem Opfer und/oder jenen, die den sexuellen Missbrauch melden, bei der Entscheidung helfen, was als nächstes zu tun ist. Im Allgemeinen wird die Polizei alle gemeldeten Fälle untersuchen, und wir ermutigen jede Person, die Opfer geworden ist, sich zu melden.“ Der Informant sagte, er sei bereit, mit der Polizei zu sprechen, aber er habe noch nichts von ihr gehört.
„Ein schwerer Verstoß“
Die Royal Commission sagte, sie werde „die vorsätzliche Zerstörung von Unterlagen über Missbrauchsopfer nicht tolerieren“. „Wir sehen dies als einen schwerwiegenden Verstoß gegen den Inquiries Act 2013. Wir werden auf jede Form des Verstoßes schnell reagieren und ggf. die Vorwürfe an die neuseeländische Polizei weiterleiten“, so ein Sprecher in einer Stellungnahme. Das Moratorium bzgl. der Vernichtung von Dokumenten bleibt bis zum Vorliegen des Abschlussberichts der Kommission im März 2024 in Kraft. „Zum jetzigen Zeitpunkt wurden keine religiösen oder glaubensbasierten Institutionen, einschließlich der Zeugen Jehovas, vom Geltungsbereich des Abschlussberichts ausgeschlossen“, sagte der Sprecher der Kommission. Im Juni reichte die Kirche der Zeugen Jehovas eine Klage ein, um von den Untersuchungen der Kommission ausgenommen zu werden, da sie keine Verantwortung für die Betreuung von Kindern, Jugendlichen oder gefährdeten Personen übernehme. Mechen befürchtete, dass die Royal Commission nicht in der Lage sein könnte, eine Untersuchung durchzuführen, nachdem im letzten Monat die Aufgabenbeschreibung der Kommission geändert wurde, was bedeutet, dass sie nach dem 31. Juli keine „neuen Beweise“ mehr entgegennehmen oder berücksichtigen würde. „Es ist mehr als enttäuschend, dass die Polizei nicht interessiert war“, sagte Mechen. „Wir wissen, wo die Akten sind, aber sie haben nicht einmal richtig ermittelt. Wie soll man der Polizei vertrauen? Die Opfer in diesen geschlossenen Gruppen wollen sich nicht melden, weil sie zu viel Angst haben, da sie mit Konsequenzen rechnen müssen.“
Änderung der Richtlinien für Dokumente
Der ehemalige Älteste Edward Narayan sagte, dass die aktualisierte Richtlinie der Kirche, keine persönlichen Notizen oder Zusammenfassungen einer Anhörung aufzubewahren, Auswirkungen auf zukünftige Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch innerhalb der Kirche haben wird. „Ab Oktober 2021 gibt es keine Notizen mehr in diesen versiegelten Umschlägen, sondern nur noch das Formular für den Ausschluss aus der Kirche.“ Narayan war der Sekretär der Chartwell-Gemeinde in Hamilton, bis er im April letzten Jahres aus der Kirche austrat. Er verließ die Gemeinde, nachdem er sich mit einer Änderung in der Version des geheimen Ältestenhandbuches „Shepherd the Flock of God“ (Hütet die Herde Gottes) vom Oktober 2021 herumgeschlagen hatte, die die Ältesten anwies, nur das offizielle Formular für den Ausschluss (disfellowshipping) aus der Gemeinde in einen versiegelten Umschlag zu legen. Alle anderen „vertraulichen“ Notizen, zu denen auch Anschuldigungen des sexuellen Missbrauchs von Kindern gehören, sollten vernichtet werden. Früher wurde dem versiegelten Umschlag eine Zusammenfassung des Verfahrens beigefügt, auch wenn es aus Mangel an Beweisen eingestellt wurde. Die Zusammenfassung konnte Fakten wie die Opfer oder Einzelheiten über die mutmassliche Straftat enthalten. Ab Oktober 2021 waren jedoch keine Zusammenfassungen mehr zulässig, und ein neues Formular für den Ausschluss aus der Gemeinschaft (disfellowshipping) erlaubte es nicht mehr, Angaben zu den Opfern oder zusammenfassende Notizen zu machen. „Das Formular enthielt nur den Namen des Täters, die beteiligten Ältesten, eine kurze Beschreibung des Vergehens, z.B. Kindesmissbrauch, und das Datum, an dem der Gemeinde mitgeteilt wurde, dass der Täter ‚ausgeschlossen‘ (disfellowshipped) oder ‚zurechtgewiesen‘ (reproved) wurde.“ „Die Ältesten würden nicht bekannt geben, warum der Täter ausgeschlossen oder gerügt wurde“, sagte Narayan. Die neue Policy erlaube es nicht, persönliche Notizen zu irgendeiner Angelegenheit aufzubewahren, sagte er. „Und wenn es keine Komiteeverhandlung gibt, weil es keine zwei Zeugen gibt, wird es auch keine Notizen geben. Keine Notizen bedeutet, dass es keinen zweiten Zeugen für künftige Anschuldigungen wegen sexuellen Kindesmissbrauchs gibt. „Das bedeutet, dass in Zukunft, wenn ein Opfer eines mutmasslichen sexuellen Kindesmissbrauchs das Gefühl hat, vor Gericht gehen zu müssen, um Gerechtigkeit zu erlangen, bei der Vorladung der Zeugen nur ein Formular mit dem Namen des Täters, dem Datum des Gerichtsausschusses und den Ältesten, die dem Ausschuss angehörten, vorhanden sein wird. Das war’s. Keine Notizen, keine Namen der Opfer. Das ist eine Verhöhnung der Justiz.“
Die Zeugen Jehovas reagieren
In einer Erklärung äußerte sich die Religionsgemeinschaft, Kindesmissbrauch sei ein Verbrechen und die Opfer oder deren Eltern hätten das Recht, Anzeige bei den Behörden zu erstatten. „Es gibt ein laufendes Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof darüber, ob die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in den Geltungsbereich der Royal Commission of Abuse in Care fällt“, sagte der Sprecher Tom Pecipajkovski. „Obwohl wir der Meinung sind, dass die Zeugen Jehovas nicht in den Geltungsbereich der New Zealand Royal Commission of Inquiry into Abuse in Care fallen, haben wir die Anweisungen der Untersuchungskommission zur Aufbewahrung von Unterlagen sorgfältig befolgt. Dementsprechend weisen wir jede Anschuldigung eines ‘kriminellen Vergehens’ in diesem Zusammenhang entschieden zurück.“ „Die Zeugen Jehovas werden weiterhin mit den Untersuchungsbehörden zusammenarbeiten, wenn das Gericht entscheidet, dass sie in den Geltungsbereich fallen sollten. Bis dahin werden wir die Fragen nicht vor dem Gericht der öffentlichen Meinung diskutieren.“ „Was Einzelfälle betrifft, so vertrauen wir darauf, dass Sie Informationen, die Ihrer Meinung nach der Abuse in Care Royal Commission of Inquiry bei der Erfüllung ihres Mandats helfen können, der Kommission mitteilen werden. Ebenso vertrauen wir darauf, dass Sie, wenn Sie glauben, dass Gefahr besteht, dass ein Kind geschädigt wird, die Angelegenheit den Behörden melden.“
Erstellt am 22. August 2023