ÜberLebenswege – Markus Kaufmann aus Erding

Markus Kaufmann aus Erding
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen? 

Mein Vater hat über einen Nachbarn Kontakt zu den Zeugen Jehovas bekommen als ich 6 Jahre alt war und hat sich 2 Jahre später taufen lassen. Meine Mutter war zunächst starke Gegnerin, was zu großen Spannungen geführt hat. Schlussendlich war er aber erfolgreich und ich habe mich mit 16 Jahren selbst taufen lassen.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Meine Kindheit habe ich größtenteils nicht negativ in Erinnerung, von den Konflikten meiner Eltern abgesehen. Da meine Mutter zunächst keine Zeugin war, konnte mein Vater mich nicht zwingen etwas zu tun, was ich nicht wollte. Allerdings gerieten meine Schwester und ich dadurch anfangs immer wieder zwischen die Fronten.
Mit der Zeit gelang es meinem Vater aber genug Druck aufzubauen, um mit ihm in die Versammlung zu gehen und die Bibel zu studieren („Mein Buch mit biblischen Geschichten“, das „Paradies-Buch“…). Ich glaubte ihm irgendwann wenn er sagte, dass ich nur so Harmagedon überleben kann. Ich kann mich sehr gut erinnern, wie mein Vater mir 1980 in einem Urlaub gesagt hat, dass Harmagedon mit absoluter Sicherheit in den nächsten 10, allerhöchstens 15 Jahren kommen wird!
Mit etwa 14 oder 15 war ich dann selbst überzeugt, dass das die Wahrheit ist. Auf Weihnachten & Geburtstage zu verzichten fand‘ ich nicht so schlimm, da das ja eh alles heidnisch und somit in Gottes Augen böse war. Angst hatte ich vor allem vor den Dämonen, und dass ich vielleicht einmal eine Bluttransfusion benötigen würde. Im Predigtdienst hatte ich immer Schiss, aus Versehen auf einen Klassenkameraden zu treffen; „Menschenfurcht“ war ein Thema. Später kamen dann sehr viel Schuldgefühle hinzu, wenn einem mal wieder „eine Sünde“ passiert ist. An sich selbst Hand anzulegen war absolut verwerflich und ich hatte dann immer sehr gehofft, dass Harmagedon doch noch nicht gleich kommt, sondern erst wenn ich die Sache „wieder im Griff“ habe. Diese Zeit habe ich als wirklich schlimm in Erinnerung. Die immens hohen Anforderungen erzeugen eine schlimme Mischung aus „Ich mache nicht genug!“ und „Ich bin nicht gut genug!“ und führt automatisch zu Schuldgefühlen, sowie Minderwertigkeitskomplexen. Ich hatte große Angst vor Harmagedon, weil ich glaubte, nicht gut genug für‘s Überleben zu sein. Und ich war auch überzeugt, dass ich an dem Dilemma selbst schuld bin, da ich mich nicht genug anstrenge.

Schlimme Gedanken und Gefühle für einen Jugendlichen.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Es war ein längerer Prozess und schließlich die Summe aus vielen kleinen Bausteinen. Ich war z.B. schon immer sehr an Natur, Tieren und Wissenschaft interessiert und hatte schon früh große Probleme mit dem Schöpfungsbericht und der daraus resultierenden Ablehnung der Evolution. Auch war mir bald klar, dass Noahs Sintflut nicht buchstäblich, so wie beschrieben stattgefunden haben kann. Zumindest nicht, wenn man nicht bereit ist, sämtliche Logik zugunsten von blindem Glauben über Bord zu werfen. All diese Zweifel habe ich aber lange verdrängt. So habe ich dann auch eine Zeugin geheiratet, war Pionier im „Hilfe-Not“- und fremdsprachigen Gebiet, wurde Ältester und habe die letzten Jahre im Ausland „gedient“ – dort wurden die Zweifel immer größer. Ein Knackpunkt, wenn man so will, war dann ein Erlebnis im Predigtdienst, bei der eine Jugendliche in ihrem kurzen Leben schon eine unvorstellbare Ansammlung von schlimmen Dingen und Grausamkeiten erlebt hat. Und das alles nur, weil Jehova es nötig hat zu beweisen dass er der Größte und Tollste ist? Heute leiden also Millionen Menschen nur, weil es die ersten beiden verkackt haben? Und wir ungefragt die Spielsteine im Schach zwischen Gott und Satan sind? Von da an habe ich mich getraut, Dinge mit anderen Augen zu sehen und zu hinterfragen. Der Gott, den die Bibel uns vorstellt, ist kein Lieber. Er ist grausam, rachsüchtig, ungerecht, frauenfeindlich und homophob. Zu dieser Zeit begann dann auch das Internet eine wirkliche Hilfe für eigene Nachforschungen zu werden. 1999, immer noch Pionier, Ältester und im „Auslands-Einsatz“, bin ich im Netz dann u.A. auf die Arbeit von Alan Feuerbacher gestoßen, in der er das Zeugen-Buch „Wie ist das Leben entstanden – durch Evolution oder Schöpfung?“ von 1986 Abschnitt für Abschnitt komplett zerlegt. Er bewies, was ich schon länger vermutet hatte. Dieses Buch war hoch manipulativ, voller irreführender Halbwahrheiten und sogar Lügen, sowie aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten. Das war der finale Punkt, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Von da an brachen die Dämme und ich begann Punkt für Punkt zu hinterfragen. Das ist natürlich – wie in jeder theokratisch ausgerichteten religiösen Sondergemeinschaft – streng verboten. Wer Zweifel nährt, tappt geradewegs in die Falle Satans. Abtrünnigkeit. Für Außenstehende mag es schwierig nachzuvollziehen sein, aber sich das zu trauen, erfordert viel Mut. 
Diesen Mut aufgebracht zu haben – darauf bin ich heute ein bisschen stolz. Mich das getraut zu haben, gehört zu den besten Entscheidungen meines Lebens.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

siehe oben – Antwort zur Frage 3.

5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ja. Mein Vater und meine Geschwister haben den Kontakt zu mir umgehend und vollständig abgebrochen. Sie lehnen jeden Kontakt strikt ab. Meine Familie habe ich seit nun 23 Jahren lediglich auf 2 Beerdigungen gesehen. Mit meiner Mutter gibt es sporadisch etwas Kontakt, sie ist die Einzige die meine Kinder „kennt“. Das finde ich bis heute schlimm und traurig, aber ich wusste natürlich von Anfang an, dass das so sein wird, dass ich es weder beeinflussen noch ändern kann. Das war aber trotzdem nie ein Grund für mich, die Zeugen deswegen nicht zu verlassen. Mein Vater wird dieses Jahr 80 und ist nach wie vor Ältester, soweit ich weiß. Wir werden uns eventuell nie mehr sehen. Meine Türe steht dennoch jederzeit offen…

b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?
Wie sind deine Gedanken dazu?

Es ist nicht ihre eigene Idee. Es ist das Ergebnis von Indoktrination und Manipulation. Es gehört zu den klassischsten aller Sektenmerkmalen, daß ehemalige Mitglieder gemieden und geächtet werden. Denn sie stellen mit die größte Gefahr für die eigene Scheinwelt dar. So gelingt es auch den Zeugen Jehovas einige wenige Bibelverse als Grundlage dafür zu missbrauchen, die grausame Regel des „shunning“ (= Ächtung) als gottgewollt und „Akt der Liebe“ darzustellen und die Mitglieder setzen es aus Gehorsam und ohne zu Hinterfragen um.


6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Mir geht es heute sehr gut, die Zeugen spielen in meinem Leben schon lange keine Rolle mehr. Ich verfolge zwar aus Interesse die aktuellen Entwicklungen, sowohl in Bezug auf was so „in ihren Reihen passiert“ – was häufig genug nur noch mitleidiges Kopfschütteln verursacht – als auch die Ausstiegsszene.
Ängste hatte ich zum Glück zu keinem Zeitpunkt. Ich habe bereits bei meinem Ausstieg nicht mehr an Gott, Satan und seine Dämonen oder Harmagedon geglaubt. Da ich glücklicherweise sehr kontaktfreudig und vielseitig interessiert bin, habe ich mir sehr schnell ein echtes Leben in der „echten Welt“ mit echten Freunden aufbauen können. Die Erkenntnis, dass die „böse Welt“ in vielerlei Hinsicht überhaupt nicht so böse ist, kam schnell; die vorgefertigten Bilder, die ich von „Weltmenschen“ hatte, konnte ich sehr schnell ablegen. Auch das permanente Fokussieren auf die schlimmen Dinge, um das Bild der immer schlechter werdenden Welt zu untermauern, lernte ich abzulegen.

Freundschaft ohne Bedingungen habe ich überhaupt erst „in der Welt“ kennengelernt. 
Ich war sehr bald davon überzeugt, dass man auch ohne Religion, und selbst ohne an einen Gott zu glauben, ein moralisch und ethisch einwandfreies, sowie sinn- und gehaltvolles, Leben führen kann.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Das ist schwierig zu beantworten, weil ich der Vergangenheit nicht nachhänge. Was passiert ist, ist passiert, ich kann es weder ändern noch ungeschehen machen. Da ich mehr oder weniger in dem Glauben aufgewachsen bin, hatte ich anfangs kaum bis keine Möglichkeit, eigene Entscheidungen zu treffen. Ich wurde indoktriniert. Ein Zeuge Jehovas gewesen zu sein ist Teil meines Lebens und haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Meine Erfahrungen gebe ich gerne an andere weiter, die sich in ähnlichen Situationen befinden, sofern sie dies wünschen.   

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

An „Interessierte“
Werde Dir den Methoden bewusst, traue Dich, kritische Fragen zu stellen. Du studierst nicht die Bibel, du studiertest die bibelinterpretierende Literatur der Wachtturmgesellschaft mit all ihren zweifelhaften Auslegungen inkl. nachweislich falschen Interpretationen (607 v.u.Z -> 2520 Jahre -> 1914…), die Dir äusserst geschickt “verkauft” und bei Bedarf auch gerne mal geändert werden. Das “love bombing” in der Versammlung ist konditionell. Traue Dich, Kontakt zu Ehemaligen aufzunehmen und ihre Sichtweise zu hören, sie sind weder abgrundtief böse noch sind sie Werkzeuge des Teufels, versprochen 😉
An „Zweifelnde“
Habe den Mut zu Hinterfragen. Auch wenn du gelehrt worden bist, dass Hinterfragen Zweifel bedeutet und zweifeln gleich „schwacher Glaube“ ist, der umgehend bekämpft werden muss. Es ist Teil eines gewollten „Zirkelschlusses“, dass automatisch alles, was gegen Deinen Glauben sprechen könnte, von Satan stammt. Du bist nicht alleine. Sehr viele sind diesen Weg bereits gegangen, die Dir helfen können.
Ich bin ihn gegangen.
Und habe ihn keine Sekunde bereut!