ÜberLebenswege – Gabi O. aus T.

1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

 Ich wurde mit 19 Jahren an meiner Wohnungstür angesprochen, beim typischen von Haus zu Haus Dienst. Es war eine sehr nette junge Schwester, ein Jahr jünger als ich. Und sie zeigte mir das Wahrheitsbuch, die sogenannte „blaue Bombe“. Sie war freundlich und wir verstanden uns gut. Da ich aber an dem Tag keine Zeit hatte, bat ich sie später wieder zu kommen. Weil ich viel unterwegs war, sahen wir uns erst ein Jahr später wieder. Sie konnte all meine Fragen anhand der Bibel und dem blauen Buch beantworten und es tat mir gut, war ich doch auf der Suche nach Liebe und Zuneigung. Nach einem Jahr Studium ließ ich mich taufen. Da war ich 21 Jahre alt. Damals schien es der glücklichste Tag meines Lebens, so viele liebe Menschen, die sich um mich bemühten. Ich fühlte mich wie in einer großen harmonischen Familie, etwas was mir in meinem Leben gefehlt hat. Und genau das war wohl auch, warum ich auf alles hereingefallen bin. Meine große Sehnsucht, nicht mehr alleine zu sein und endlich aufrichtig geliebt zu werden. Wie sehr ich mich doch täuschte.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Zu Anfang erschien alles schön. Ich hatte aber vor meiner Taufe schon einen sogenannten Weltmenschen geheiratet, wir kannten uns davor schon länger. Vor der Taufe war das noch erlaubt, sonst darf man bei den Zeugen nur in der Gemeinschaft heiraten. Da fingen aber schon die ersten Schwierigkeiten an, denn mein Mann verstand nicht, warum ich so viel weg war. Alle Zusammenkünfte und der viele Predigtdienst. Ich habe viel geweint deswegen, wollte ich doch Jehova gefallen, aber auch meinen Mann nicht verärgern. Als gute Zeugen-Ehefrau muss man seinen Mann immer zufrieden stellen, denn er ist das Haupt, aber Jehova steht natürlich darüber. Eine sehr anstrengende Situation, die sich nie geändert hat. Wir bekamen 3 Kinder und das machte es noch schwerer. Von den Zeugen her sollte ich die Kinder gemäß dem Glauben erziehen, mein Mann hielt aber nichts davon. Eigentlich hatte ich immer das Gefühl, egal was ich mache, es ist falsch. Irgendjemanden enttäusche ich immer, meinen Mann, die Kinder – nach meinem Glauben durften sie ja keinen Geburtstag usw. feiern – meine Glaubensbrüder und -schwestern und natürlich Jehova. Ich fühlte mich wertlos und ich erreichte die Ziele nicht. Mehr Predigtdienst ging einfach nicht. Kinder, Haushalt und arbeiten war einfach zu viel. Und immer wieder die Ermahnungen, mehr für Jehova zu tun, mehr Stunden, mehr spenden für das Werk usw. Ich war ständig erschöpft und überfordert. Und so wurde ich immer mehr an den Rand gedrängt, war keine gute Glaubensschwester, kein guter Umgang. Weder ich noch meine Kinder wurden eingeladen, wenn irgendjemand mal eine kleine Einladung machte, was früher schon üblich war. In den späteren Jahren wurde es dann noch extremer, da wurden dann nur noch Älteste, deren Frauen, Kreisaufseher, Pioniere und besonders fleißige Verkündiger eingeladen. Und ach ja, wenn man als gute Zeugen-Schwester natürlich den Kreisaufseher bewirten konnte, dann war man angesehen. Konnte ich aber nicht, wegen meinem Mann und auch aus finanziellen Gründen. Denn als Zeuge sollte man zwar arbeiten, aber nur was nötig war und nicht um viel zu haben. Das reichte dann gerade für meine Familie, nicht für solche Dinge wie extra Einladungen. Ich wurde immer isolierter und alleine und oft bin ich auch alleine in den Predigtdienst gegangen, weil niemand mit mir gehen wollte. 

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist? Gab es ein ausschlaggebendes Ereignis?

 Ja das gab es. Als ich von den Missbrauchsfällen bei den Zeugen Jehovas gelesen habe in den Medien, da sprach ich meine Ältesten darauf an. Und sie schauten mich böse an und sagen: „Das behalte mal für dich und wir regeln das mit der Organisation!“. Das ging gar nicht für mich! Da ich aber vorher schon viele Zweifel in mir hatte, war das nur der letzte Tropfen. Ich habe dann alles für mich in Ruhe geplant, den Ältesten und auch an Selters einen Brief geschrieben und gesagt, ich möchte kein Zeuge Jehovas mehr sein und ich verlasse die Gemeinschaft. Ich sagte auch, ich möchte keine Gespräche mehr mit Ältesten führen, keine Anrufe erhalten und Versuche mich zurück zu holen. Ich hatte für mich abgeschlossen.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln?

Mein Glauben an Gott war sehr stark, den hatte ich schon vorher, da meine Familie immer an Gott geglaubt hatte. Ich war früher evangelisch erzogen worden. Die Zweifel kamen immer mal wieder zwischendurch, in all den Jahren. Es gab keinen genauen Zeitpunkt. Nur oft, bei einer Bibelstelle, einem Vortrag, einem Wachtturm. Da fragte mich mein Gewissen, ob das wirklich richtig ist. Ich habe mich dann immer selber korrigiert, mit dem, was man gelehrt wurde. 

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

 Ich habe meine ganzen damaligen Freunde verloren, Freundinnen mit denen ich gemeinsam viele schöne Stunden verbracht habe. Wir waren uns so nahe, haben tiefe Gedanken ausgetauscht und von einem Tag auf den anderen haben sie mich nicht mehr gekannt. Auch meine leibliche Schwester hat sich abgewendet, was mir sehr weh tat. Meine Mutter war im Jahr davor gestorben, sonst hätte ich wohl auch noch mit dem Ausstieg gewartet. Das alles hat mich sehr tief verletzt und an mir zweifeln lassen.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Es geht mir heute tatsächlich körperlich und seelisch ein wenig besser, aber ich spüre immer noch viele Auswirkungen in meinem Leben. Ich mache schon die ganzen Jahre nach meinem Ausstieg Therapie, das hilft mir sehr. Aber oft gibt es Situationen und da schießen alte Gedankenmuster durch meinen Kopf. Dann muss ich erst einmal innehalten und schauen. Meine Therapeutin hat mir gut erklärt, ich soll schauen, woher das Gefühl kommt und sollte mir bewusst sagen, „heute ist heute“ und ich darf anders denken und fühlen und reagieren. Klappt nicht immer. Ich habe zwar keine Angst mehr vor Dämonen und Harmagedon, aber ich leide unter Panikattacken, Zwängen, Albträumen, Schlaf- und Essstörungen. Mein Selbstbewusstsein ist fast nicht vorhanden, ich fühle mich immer noch wert- und nutzlos. 

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

 Dank meiner Therapeutin kann ich heute sagen, auch diese Zeit, meine Vergangenheit, war nicht nutzlos und verschwendete Zeit. Sondern sie hat mich vieles gelehrt, womit ich heute bewusster leben kann. Bewusster drauf achten, wie ehrlich gehe ich mit meinen Mitmenschen und mit mir selber um. Bewusster mit dem Wort und dem Gefühl Liebe. Denn sie ist das Wichtigste mit im Leben und sollte nicht, wie bei den Zeugen Jehovas, an Bedingungen gebunden sein. Menschenwürde ist mir wichtiger geworden als irgendwelche Gebote aus einem alten Buch. Und an diesen Gott der Bibel, der so grausam ist und unvorstellbar lieblose Dinge von den Menschen fordert, an den glaube ich auch nicht mehr. Ich denke für mich, so fühlt sich Freiheit an. 

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Bitte schaut genau hin und seid mutig zu zweifeln. Hört auf eure innere Stimme, wenn sie skeptisch reagiert und fragt euch immer wieder: Was ist der Beweggrund in mir, könnte ich auch ohne diese Organisation einen guten und schönen Glauben haben? Wie wirkt sich das Studium auf meine jetzigen Kontakte aus? 
Und was mir bewusst geworden ist: Das Leben findet heute statt, nicht erst irgendwann in einem Paradies. Seid achtsam mit euch. Ihr seid mehr wert, als euch eine Organisation einreden will. Bitte passt auf euch und all die Menschen auf, die euch nahe sind – ohne Bedingungen zu stellen.