ÜberLebenswege – Esther Gebhard aus Hohenpeißenberg

1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen? 

Meine Mutter begann in den frühen 70er Jahren mit den Zeugen Jehovas die Bibel zu studieren, als ich noch sehr klein war. Ich habe wenige Erinnerungen mehr an das „normale“ Leben davor. Meinen Vornamen habe ich übrigens, weil meine Mutter Fan von jüdischen Musikern war.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Ich war ständig unter Druck. Egal was ich machte, es war falsch und nie genug oder richtig. Unter den Jugendlichen wurde immer genau beobachtet, was der andere tat. Während andere Kinder bei Sonnenschein draussen spielten, musste ich in meinem Zimmer Literatur studieren. Ich bin mit panischer Angst vor Satan, den Dämonen und Harmagedon aufgewachsen. Die Todesangst war von frühen Kindertagen an mein ständiger Begleiter.
Sehr zu kämpfen hatte ich auch mit Mobbing in der Schule, und der Situation in meinem „geteilten“[1] Elternhaus, als meine Mutter die Glaubensgemeinschaft verlassen hat. Als besonders belastend empfand ich den Predigtdienst. Immer die Angst, ein/e Schulkolleg/in könnte die Türe öffenen und sich das Mobbing in der Schule danach steigern.
In meiner Jugend wurde ich vermehrt unter Druck gesetzt, mich taufen zu lassen. Immer wieder wurde mir vermittelt, dass Gott mich töten würde, wenn ich keine getaufte Zeugen Jehovas wäre. Natürlich wollte ich nicht bei lebendigem Leib verbrennen und ließ mich – als Spätzünder bei den Zeugen Jehovas – mit 17 taufen. Einer der allergrößten Fehler meines Lebens, denn die Konsequenzen spüre ich heute noch!


3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Nach dem Weggang meiner Mutter habe ich mir Freunde in der „Welt“[2] gesucht, die mich so akzeptierten, wie ich war. Ohne Gott, Religion, Glaube, Zwängen, Angst und Predigtdienst.
Mit 19 wurde ich schwanger, ohne verheiratet zu sein. Das ist ein Ausschlussgrund. Vor Allem, wenn man nicht bereut. Ich bin nie vor einem Komitee[3] erschienen und es wurde in meiner Abwesenheit über mich gerichtet.


4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Ich war weder eine gute Gläubige, noch in der Gemeinschaft tief verankert. Ich hatte immer das Gefühl, mit MIR stimme etwas nicht. Ich war nicht richtig. Der Glaube beruhte auf reinem Zwang, ich habe ihn als Kind nie hinterfragt, und für die Gemeinschaft war ich aufgrund meines Elternhauses schlechter Umgang.
Die Indoktrination saß trotzdem tief. Erst viele Jahre nach meinem Ausschluss ist das Glaubenskonstrukt zusammengebrochen. Durch einen reinen Zufall. Ich habe Barbara Kohout (stammte aus einer Nachbarversammlung und wir kannten uns aus unserer aktiven Zeit noch vom Sehen) in einer Talkshow gesehen. Das hat eine befreiende Kettenreaktion bei mir ausgelöst, für die ich sehr dankbar bin.


5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ich habe meinen Vater vor über 30 Jahren verloren. Er kennt seine Enkelkinder (Jahrgänge 91 und 97) nicht. Mein Vater wohnte viele Jahre nur 11 Kilometer weg von mir. Ob er noch in meiner Gegend lebt, weiss ich nicht. Ich weiss nicht mal, ob er überhaupt noch lebt. Falls ja: Einer von uns beiden wird eines Tages sterben, ohne dass wir uns nochmal in die Augen gesehen, umarmt oder gar gesprochen haben. Es ist seine Entscheidung, ich muss das akzeptieren. So sehr es auch schmerzt. Ich bin sein einziges Kind.
Weiter habe ich mit einem Schlag alle Kinder- und Jugendfreunde verloren, die dann auch schon die Strassenseite wegen mir gewechselt haben. 
Ich habe noch eine Tante verloren, die auch Zeugin Jehovas war. Sie ist aber schon längst verstorben, wie ich zufälligerweise ein paar Jahre später erfahren habe.
Ich habe lange damit gehadert. Habe die Gefühlspalette von Hass, Wut, Gleichgültigkeit und Trauer hinter mir.

b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?
Wie sind deine Gedanken dazu?

In den Publikationen und auf Vorträgen der ZJ bekommt man einen guten Einblick, was die Organisation von seinen Anhängern verlangt. Ausgeschlossene sind zu ächten. Dabei spielt es keine Rolle, ob eine Person wegen Verstosses gegen die Regeln entfernt wurde, oder aus Glaubens- oder Gewissensgründen eigenständig die Sekte verlassen hat.
Die von oben angeordnete Ächtungspraxis tritt das Menschenrecht der Religionsfreiheit mit Füßen. Ich kenne Personen, die nicht aussteigen können, weil der Verlust ihres gesamten Umfeldes zu krass wäre.
Das ist in meinen Augen Erpressung!


6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Es geht mir gut. Ich bin inzwischen im Großen und Ganzen frei von Ängsten, Panikattacken, Depressionen und Todesangst, die für viele Jahre meine Begleiter waren. „Wusste“ ich doch immer, dass Harmagedon[4] mir bald mein Leben, und das meiner Lieben auf grausame Weise nehmen wird. In den Publikationen der Organisation werden dazu auch drastische Bilder gezeichnet (bereits für Kinder), die einen „Vorgeschmack“ liefern. Das ist zum Glück Vergangenheit. Das hat keine Macht mehr in meinem Leben.
Mein Aufwachsen bei den Zeugen Jehovas wird für immer ein Teil von mir und meinem Leben sein, das zwar Narben hinterlassen hat, aber mit dem ich mich imzwischen leben kann. 


7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Ich kann die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Manchmal wünschte ich, der Storch hätte mich in einer anderen Familie abgeliefert, aber das kann man sich nicht aussuchen.
Ich habe viel Energie und Zeit in meine persönliche Aufarbeitungsarbeit gesteckt, um heute ein freier, glücklicher Mensch sein zu können. Mit all den Problemen, die „normale“ Menschen eben auch haben.
Ich bin froh, durften meine Kinder mit einer liebevolleren und schöneren, befreiten Kindheit aufwachsen.


8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft bzw. zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Finde deinen Weg, deine „Blase“ zu verlassen. Es gibt dieses, dein eigenes Türchen.
Lies gute Bücher zum Thema. [5] Du hast das Recht auf Information!
Die Dinge sind nicht so, wie sie von der Organisation dargestellt werden. Da „draußen“ ist nicht der Satan. Wenn es ihn überhaupt gibt, dann vermute ich ihn an ganz anderer Stelle.
Du hast das Recht auf eine selbstbestimmte Gestaltung deines Lebens.
Du hast das Recht auf Freiheit, bedingungslose Liebe und Glück.


[1] Ein „geteiltes Haus“ nennt die Organisation Familien, in denen ein Elternteil in der Organisation verbleibt, während das andere Elternteil kein Mitglied der Zeugen Jehovas ist.

[2] „In der Welt“ sein bedeutet, sich ausserhalb der Organisation zu befinden. Das betrifft Dinge wie Freundeskreis, Überzeugungen usw. Jeder Nicht-Zeuge ist ein Weltlicher. Man solle sich davor hüten.

[3] Das „Komitee“ beschreibt die zeugeninterne Gerichtsbarkeit. Es wird über Vergehen und Verstösse gerichtet. Richter sind dafür bestimmte Älteste der Gemeinschaft, die weder psychologisch, noch seelsorgerisch geschult sind.

[4] „Harmagedon“ wird der grosse Krieg Gottes genannt. Wer nicht nach Jehovas Willen und Wort lebt und handelt, wird in Harmagedon sterben. Letztendlich würde Jehova selbst richten, aber wer die Glaubensgemeinschaft verlassen will, weiss, dass er dem Tode geweiht ist. Auch andere Endzeitsekten glauben an das Szenario Harmagedon.

[5] „Freiheit des Geistes“ – Steven Hassan „Der Gewissenskonflikt“ – Ray Franz, ehemaliges Mitglied der Führung in New York, genannt: „die Leitende Körperschaft“.