ÜberLebenswege – Anne aus Sachsen

1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen? 

Ich wurde als Kind von Zeugen Jehovas geboren im Jahr 1970 in der tiefsten DDR. Meine Mutter wurde auch hineingeboren und mein Vater kam als Jugendlicher hinzu. 

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Meine ersten Erinnerungen habe ich an meine Vorschulzeit. Ich wurde abends ins Bett gelegt und meine Eltern gingen zu ihren geheimen Bibelzusammenkünften. Ich schrie in meinem Bett und niemand kam, bis ich irgendwann vor Erschöpfung einschlief. Als ich ein wenig älter war, konnte ich mein Gitterbett verlassen und lief durch die dunkle Wohnung, schaute aus dem Fenster und hatte Angst, dass meine Eltern nicht zurückkommen.

Die Zeugen Jehovas waren in der DDR verboten. Das war mir sehr zeitig bewusst, denn meine Eltern versteckten die Literatur in einem Geheimfach unter einer Kommode. Ich ging in keinen Kindergarten, denn meine Mutti arbeitete nicht. Dann kam ich in die Schule. Alle Schüler waren Jungpioniere. Sie trugen zu bestimmten Tagen ihre weißen Hemden und blauen Halstücher und traten damit zum Appell auf dem Schulhof an. Ich stand zwischen den ganzen Schülern im roten Pullover. Ich kam mir so doof vor und wünschte mir, nicht da zu sein. Meine Lehrerin bat meine Mutti, mir doch wenigstens einen hellen Pullover anzuziehen. Politische Lieder, Gedichte zu Weihnachten oder politische Gedichte durfte ich nicht mitlernen. Da ich sowieso nicht gerade ein Gesangstalent war und nie eine Melodie richtig singen konnte, war dies ein großes Problem für mich. Ich bekam einen Text, welchen ich dann vorsingen sollte. Ich war im Musikunterricht immer der Lacher, die ganze Schulzeit über.

Meine Eltern hatten keinen Fernseher. Ich kannte keine Fernsehsendungen, keine Sänger oder Schauspieler. Wenn sich alle anderen auf dem Schulhof unterhielten, konnte ich nicht mitreden. Ich war der absolute Außenseiter. Die ganze Klasse ging zur gemeinsamen Tanzstunde, denn ein Abschlussball stand an. Ich durfte nicht zur Tanzstunde gehen. Unnötiger Umgang mit sogenannten weltlichen Menschen war nicht gewünscht. Aber zum Abschlussball durfte ich gehen in Begleitung meiner Eltern. So wie ich singen konnte, konnte ich auch tanzen, nämlich gar nicht. Hier war ich völlig talentfrei. Ich war wieder der Lacher vor allen Eltern, Schülern und Lehrern. Ich trampelte allen auf den Füßen rum. Besser war es auf meinem Stuhl zu sitzen und den anderen beim Tanzen zuzuschauen. Ich schämte mich immer dafür, anders zu sein, aber ich hätte mich gegen meine Eltern nicht durchsetzen können. Mein Vater war Ältester und ich als seine Tochter hatte Vorbild zu sein.

Ich wollte Krankenschwester werden und hatte auch ein Vorstellungsgespräch. Die Sache mit dem Blut und die falsche politische Einstellung in der DDR waren der Grund, warum man mich ablehnte. Ich begann dann eine Gärtnerlehre, nachdem ich noch einige Absage kassiert hatte.

Von klein an musste ich mit zu den Zusammenkünften gehen. In der DDR traf man sich in Wohnungen. Ich erinnere mich wie ich so acht oder neun Jahre alt war und mir eine Stunde lang etwas über Masturbation anhören musste. Ich hatte keine Ahnung, von was die Erwachsenen redeten. Aber es war etwas Böses und Verbotenes. Auf dem Heimweg fragte ich meinen Vater dann, was das ist. „Das ist, wenn man sich untenrum selber anfasst“ sagte er. Kinder mussten sich alle Themen für Erwachsenen mit anhören, auch wenn sie viel zu klein dafür waren. Dies hat ordentlich Schaden bei mir angerichtet. Sexuelles Verlangen habe ich in der Teenagerzeit nie entwickelt. Ich hatte viel zu viel Angst etwas Verbotenes zu tun. Ich war völlig unaufgeklärt. Ich kannte zwar alle lateinischen Begriffe für schlechte sexuelle Handlungen aus den Zusammenkünften aber mehr auch nicht. Was sich dahinter verbarg, war mir völlig unklar.

Die Lehre begann und ich rutschte in die Magersucht mit 52 Kg. Als ich nur noch 42 Kg wog, konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Aber es interessierte niemanden. Mein Überlebenswille war aber stärker und ich zwang mich zu essen. Aber es begleitete mich noch viele Jahre.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Ich lernte mit 18 einen Mann kennen, welcher daran interessiert war, ein Zeuge Jehovas zu sein. Er ließ sich dann auch taufen und wir heirateten als ich 19 war und er 25. Da vorehelicher Sex tabu ist, wurden wir immer beobachtet. Es war immer ein Dritter bei uns und die Zimmertür musste offen bleiben, wenn er mich besuchte. Wir haben uns noch nicht einmal geküsst vor der Hochzeit. Zur Hochzeitsreise waren wir das erste Mal alleine zusammen und merkten, dass wir nicht zueinander passen. Wir gingen uns total auf die Nerven und brachen die Hochzeitsreise ab. Scheiden lassen durften wir uns als Zeugen Jehovas auch nicht so einfach und somit machten wir das Beste aus der Situation. Glück war etwas anderes. Wenn man sich an die biblischen Grundsätze hält, ist man automatisch glücklich, hatte ich gelernt. War aber nicht so.
Wir bekamen 2 Söhne. Als unser großer Sohn dann den Kindergarten besuchte, musste ich ständig erklären, dass er heute nicht kommt, weil ein anderes Kind Geburtstag feiert oder Weihnachtsbilder gemalt wurden oder Osterdeko gebastelt wurde. Er war mehr zu Hause als im Kindergarten. Ich wollte einfach nicht, dass meine Kinder solche Außenseiter werden wie ich.

Ich verliebte mich in einen Mann, welcher kein Zeuge Jehovas war. Ich erzählte ihm von meiner unglücklichen Ehe und von den Zeugen Jehovas. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich mit jemanden über alles reden. Aber er war ein Freund meines Mannes und echt anständig. Mehr als ein Kuss passierte nicht. Aber ich hatte ein schlechtes Gewissen und ich wollte nicht mehr zu den Zusammenkünften gehen. Ich wollte ein normales Leben für meine Kinder und für mich. 
Somit verkündete ich, dass ich das nicht mehr wollte. Drei Älteste besuchten mich. Ich konnte Ihnen keine Sünden beichten aber ich konnte sagen, dass ich das alles nicht glaubte und so nicht mehr leben möchte. Sie gingen und ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört. Ob sie mich ausgeschlossen haben oder nicht, weiß ich bis heute nicht.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? Wann und warum hast du begonnen, deinen Glauben in Frage zu stellen?

Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, ob der Glaube an Gott richtig ist. Wenn einem die Eltern von Geburt an sagen, dass etwas so ist, dann ist es so. Ich hatte keine Wahl. Mein Vater hätte auch keinen Widerspruch geduldet. Somit ging ich den Weg des geringsten Widerstandes und dachte nicht darüber nach. Ich gehorchte, ohne einen eigenen Willen zu haben. Es war mir immer peinlich, ein Zeuge Jehovas zu sein.  Mit 28 brachte ich endlich die Kraft auf, es zu beenden, letztendlich um meinen Kindern ein normales Leben zu ermöglichen.

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Nach meinem Austritt brachen meine Eltern während drei bis vier Jahren den Kontakt zu mir völlig ab. Dann meldeten sie sich und wollte gerne ihre Enkel sehen. Sie versuchten, die Kinder zu bekehren und nahmen sie mit zu den Zusammenkünften. Zum Glück waren beide nicht empfänglich dafür. Wir hatten dann wieder gelegentlich Kontakt. Es war aber immer angespannt. Sie erzählten dann immer über ihre Glaubensbrüder und oft hatte ich eine Zeitschrift in der Hand. 

Vor drei Jahren starb dann meine Omi. Man teilte mir Datum und Uhrzeit mit. Am Tag davor sagte man mir, dass ich nicht kommen soll. Man möchte die Beerdigung unter sich begehen also unter Zeugen Jehovas. Nein sagte ich zu meinem Vater, ich komme, denn es war auch meine Oma. Mein Freund begleitete mich zum Friedhof. Als wir auf das Friedhofstor zuliefen, kam mein Onkel zu uns. Er begrüßte meinen Lebensgefährten sehr freundlich und gab mir flüchtig die Hand. Eine meiner Tanten drückte mich und sagte mir dabei, ich solle umkehren und zu Jehova zurückkommen. Mein Cousin und seine Familie zogen die Hand weg und drehten sich weg als ich sie begrüßen wollte. Meinem Freund gaben sie die Hand. Es war eine sehr angespannte Situation. Mein Onkel hielt eine Rede über das treue Zeugenleben meiner Oma und man betete. Dann gingen alle. Mit meinen Eltern entstand wieder etwas Kontakt. Aber nicht lange. Sie können es mit ihrem biblischen Gewissen nicht vereinbaren sich mit mir zu treffen. Sie trauen sich das gar nicht, Ihren Glaubensbrüdern zu erzählen. 

Zu meinen Söhnen, ihren Enkeln haben sie Kontakt. Sie waren ja auch nie Zeugen Jehovas. Somit ist das für sie nicht verboten, ihre Enkel zu sehen. Ihre Enkel sind keine abtrünnigen Zeugen Jehovas, sondern einfach nur Weltmenschen. 

Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Mit 29 habe ich angefangen einen ordentlichen Beruf zu erlernen, um meinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Nachts, in meinen Träumen, befinde ich mich oft in Gruppen von Menschen, welche mich merkwürdig anschauen und ich fühle mich einsam und möchte weglaufen. So wie damals als ich als Kind im roten Pullover in der Gruppe der weiß gekleideten Pioniere stehen musste. In einer Gruppe mit vielen Menschen habe ich oft das gleiche Gefühl. Das Gefühl der Außenseiter zu sein kommt dann hoch. Ich fühle mich in die Kindheit zurückversetzt. Zum Glück sind es nur Augenblicke. 
Ich habe keine Angst vor dem Weltuntergang oder dem Sterben. Ich war als Kind viel alleine und kann auch heute lange alleine sein. Von meinem Mann bin ich geschieden und habe seit sieben Jahren einen neuen Partner. Ich weiß jetzt was es heißt glücklich zu sein.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Nun ist mein Ausstieg über 22 Jahre her und ich finde nicht, dass ich ein schlechterer Mensch geworden bin. Die von Geburt an geprägten Dinge sitzen tief. Ich habe noch nie geraucht oder mich betrunken oder Blutwurst gegessen. Das reizt mich auch nicht. 

Oft weiß ich heute noch nicht, von was die anderen reden. Mein Freund sagt oft, kennst du den oder den nicht, das war doch in unserer Jugend ganz angesagt. Nein Schatz, wir hatten keinen Fernseher und ich lebte damals hinter dem Mond, ist dann meine Antwort. 28 Jahre habe ich in einer Parallelwelt gelebt, das kann ich nie ausgleichen.

In meiner Zeit bei den Zeugen Jehovas hatte ich nur Freunde, welche Freunde waren, weil man den gleichen Glauben hatte. Diese verlor ich alle an einem Tag. Heute habe ich Freunde, die Freunde sind, weil sie mich so mögen wie ich bin, mit all meinen Macken. 

Meine Eltern erwähnten, dass sie sich mal Sorgen machen, wenn sie nicht mehr können. Wer kümmert sich dann um sie? Ich habe ihnen gesagt, dass ich sie immer lieben werde. Sie sind meine Eltern und ich bin da, wenn sie mich brauchen. Ich wurde ja zur Nächstenliebe erzogen. Ob sie je darauf zurückkommen? Ich weiß es nicht. Sie fehlen mir, aber es ist nicht meine Entscheidung, keinen Kontakt zu mir zu haben. Ich muss ihre Entscheidung akzeptieren. 

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Solange man nicht getauft ist, kommt man da noch gut raus. Also brecht den Kontakt ab. Mich hat es psychisch krank gemacht und ich bin für mein Leben geprägt. 
Und ihr, die ihr Zweifel hegt: Ihr seid nicht allein. Wir sind für Euch da. Auch durch die Sozialen Netzwerke ist heute alles möglich. Holt Euch Rat und lasst euch psychologisch beim Ausstieg beraten.