ÜberLebensweg – Tabitha


Tabitha
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Ich wurde als die kleinste von drei Töchtern in die Gemeinschaft hineingeboren. Meine Mutter wurde Zeugin Jehovas, als wir Kinder noch nicht auf der Welt waren. Mein Vater ist nie ein Zeuge gewesen, allerdings hat er immer wieder ein Bibelstudium durchgeführt.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Meine Mutter war schon immer sehr streng und wandte brachiale Erziehungsmethoden an. Ihre Rolle als liebevolle Mutter und aufrichtige Zeugin Jehovas war nur eine Fasade nach außen. Wir mussten unser Leben vollkommen nach der Bibel ausrichten, zweimal die Woche Zusammenkünfte besuchen, regelmäßig von Haus zu Haus gehen, tägliches Bibelstudium. Wenn dieser strikte Ablauf nicht eingehalten wurde, gab es körperliche oder emotionale Konsequenzen.

Trotz dieses kompromisslosen Erziehungsstils und der gehorsamen Fügung unsererseits, war unsere Familie in der Gemeinschaft nie ganz „anerkannt“. Mein Vater war nie getauft und damit kein vollwertiges Mitglied der Organisation, meine Mutter zog uns somit „im geteilten Haus“ auf.

Obwohl der Missbrauch an uns Kindern sehr offensichtlich vor aller Augen stattfand, wurde lieber weg gesehen und als Reaktion darauf wurden wir gemieden und ausgegrenzt, da dies wohl die einfachste Umgangsweise damit war.

Meine größte Schwester kehrte der Gemeinschaft irgendwann den Rücken und wurde ausgeschlossen. Als Konsequenz folgte ein kompletter Kontaktabbruch, nur mein Vater, der kein Mitglied war hielt dies nicht ein. Meine mittlere Schwester heiratete wenige Zeit nach ihrem 18. Geburtstag, um den häuslichen Gegebenheiten zu entfliehen. Der körperliche und emotionale Missbrauch meiner Mutter, spitzte sich nach der Trennung von meinem Vater so sehr zu, dass ich die Situation nicht mehr ertragen konnte und eines Nachts durch ein Fenster floh.

Nachdem ich mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte, stürzte ich mich in diese Religion und versuchte Anschluss zu finden. Da ich in der Schule auch schon immer mit Mobbing zu kämpfen hatte, war dies meine einzige Hoffnung. Nachdem ich mich sehr lange mit vollstem Einsatz eingebracht hatte und mir lange von den Ältesten der Versammlung, sowie von meinen sogenannten Brüdern und Schwestern „mangelnde Reife“ vorgeworfen wurde, ließ ich mich aus diesem Druck heraus letztendlich taufen. Leider musste ich zu der Erkenntnis kommen, dass sich trotzdem nichts änderte. Ich hatte weiterhin mit starker Ausgrenzung und Missgunst umzugehen. Es wurden immer wieder neue „Regeln“ auferlegt und ich bekam viel Gegenwind aus den eigenen Reihen zu spüren. Ich lebte damals bei meiner Schwester und ihrem Mann, beide waren zu diesem Zeitpunkt getaufte Mitglieder. Irgendwann jedoch wurde von mir verlangt, dass ich dort ausziehen muss, mit der Begründung ich dürfte ja nicht mit einem Mann unter einem Dach leben. Aus Angst vor Konsequenzen und davor, ausgestoßen zu werden, kam ich den Bedingungen gehorsam nach. Dies riss tiefe Wunden bei mir auf und meine soziale Grundlage wurde mir zum wiederholten Male entzogen.

Es war immer sehr hart für mich. Ich hatte mit vielen Problemen und Traumata aus meiner Vergangenheit zu kämpfen. Die Misshandlungen meiner Mutter, die nach wie vor ein aktives Mitglied der Gemeinschaft ist, werden bis heute totgeschwiegen und teilweise gedeckt.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Gab es ein ausschlaggebendes Ereignis?

Offiziell bin ich noch ein Mitglied, da ich mich aus meiner Versammlung einfach nur zurückgezogen und sich niemand mehr bei gemeldet hatte.

Ich hatte mich langsam immer mehr distanziert. Die Lehren der Zeugen und die Handlungen die ich erfahren durfte, passten für mich einfach nie überein. Die wahre Religion wäre an „ihren Früchten“ zu erkennen und der Liebe untereinander. Es sind viele Dinge passiert, die letztendlich dazu führten.
Ein prägnanter Auslöser, der mich zum Nachdenken brachte war jedoch, als ich einen Freund kennengelernt habe, der mit mir früher in derselben Straße gewohnt hat und vieles durch seine Familie etc. über meine Familie und unsere Verhältnisse wusste. Irgendwann habe ich mich getraut ihm das zu sagen und habe meine Angst geäußert, dass er keinen Kontakt mehr will. Doch er sagte, ich sei nicht verantwortlich für meine Familie. Das erste Mal in meinem Leben wurde ich von einem Nicht-Zeugen separat von meiner Familie gesehen, und nicht als das Kind einer typischen Problemfamilie, die jeder gemieden hat. Da wurde mir klar: nicht ICH war das Problem, sondern diese Zeugen, die immer von Liebe gepredigt haben, aber selbst keine Liebe für jemanden übrig hatten, der misshandelt wurde. Weil das zu Problemen führen könnte.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Ich war nie der „Klischee-Zeuge“. Auch wenn meine Mutter uns sehr unter Druck gesetzt hatte, war ich doch schon immer sehr eigenwillig und habe nie etwas vorgegeben zu sein. Ich wurde in dem Glauben zwar erzogen, aber ich konnte nie absolut hinter den Lehren stehen. Ich glaubte zwar immer daran, aber dieses eifrige Aufleben hatte erst viel später begonnen, wie bereits beschrieben. Ich war so eifrig, dass ich mich – selbst, als mir von meinen Religionsmitgliedern Steine in den Weg gelegt wurden – nicht habe beirren lassen.

Infrage gestellt habe ich schon immer oft viele Dinge und als sich meine mittlere Schwester zurückgezogen hat und viele ihrer Zweifel äußerte, die ich selber auch hatte, würde ich sagen fing alles an. Auch wenn ich immer versucht hatte meine Zweifel beiseite zu schieben, waren sie doch immer da.
2020 kam es dann zu einer Wendung. Einerseits wegen dem oben beschriebenen Schlüsselerlebnis, aber auch weil durch Corona diese ständige Indoktrinierung wegfiel. Ich habe mich dann im Internet immer mehr erkundigt und auch Bekannte von mir fingen an zu zweifeln. Und so kam es, dass ich endlich meinen Zweifeln Raum schaffte, ohne gleich dabei von einem schlechten Gewissen zerfressen zu werden.

5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Da ich zu meiner Mutter und meiner ganz großen Schwester schon während ich noch dabei war keinen Kontakt mehr hatte (meine große Schwester ist zu den ZJ zurück und hat Partei für unseren Misshandler ergriffen), mein Vater nie getauft war und meine mittlere Schwester sich auch zurückgezogen hat, war das bezüglich meiner Familie nicht so schlimm.

Am schlimmsten hat es mich getroffen, dass sich meine beste Freundin, die ich seit Kindheitstagen kenne, irgendwann von mir zurück gezogen hatte. Obwohl sie gesagt hat, sie wird immer mit mir Kontakt halten, auch wenn ich ausgeschlossen bin. Doch irgendwann hatte sie ein Problem damit, dass ich offen über meine Zweifel gesprochen habe und sie Angst bekam, selbst zu zweifeln, weshalb sie den Kontakt irgendwann abbrach.
Ich glaube, dass dieses Verhalten von ihr gewissermaßen Selbstschutz war, denn ihre ganze Familie ist bei den Zeugen und sobald sie sich weiter damit auseinandergesetzt hätte, wäre ihr ganzes Leben in sich zusammengebrochen. Und ihre Familie hätte sie geächtet, da das die typische Maßnahme der Zeugen ist, auch wenn das anders behauptet wird.

b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?

Es wird immer mit sehr viel Druck gearbeitet. Ich wurde damals auch sehr unter Druck gesetzt, den Kontakt zu meiner mittleren Schwester abzubrechen (sie war nie ausgeschlossen!). Dies tat ich für ein paar Monate. In diesen Monaten habe ich viel geweint, aber ich habe es nicht durchgestanden und hab den Kontakt wieder aufgebaut.
Ich werde meiner Freundin niemals böse sein und hoffe einfach nur, dass sie irgendwann aufwacht.
Und dann werde ich für sie da sein!

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Ich habe noch mit sehr vielen Traumata und eingeprägtem Gedankengut zu kämpfen, doch je mehr Zeit vergeht, desto besser wird es und ich merke, wie meine Ängste weniger werden. Ich spüre immer mehr, wie frei es mich macht. Mir tun einfach so viele Zeugen leid, die in dieser Spirale gefangen sind. Ich hoffe sie wachen irgendwann auf und dass es dann nicht zu spät ist für sie.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Wie Goethe sagte, wo Licht ist, ist auch Schatten. Leider musste ich die Erfahrung machen, dass Missbrauch besonders in destruktiven Gruppen erst noch möglich gemacht wird, und dieser auch stattfindet!

Selbstentwicklung und Selbstentfaltung als Individuum war in der Gemeinschaft nicht möglich. Entweder man lebt für die Organisation oder man wird als Gefahr betrachtet.

Ich persönlich hatte viele negativ geprägte Erfahrungen gemacht, doch diese Erfahrungen haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich bin und ich akzeptiere das! Auch wenn die Aufarbeitung noch lange dauern wird.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Für diejenigen, die am überlegen sind beizutreten:
Seid euch bewusst, wie viel diese Religion auch zerstören kann. Man merkt es leider nicht immer und es ist ein schleichender Prozess, doch das Gedankengut wird einem mit der Zeit so aufgedrängt und man verliert die Fähigkeit zu Zweifeln. Denn auch wenn von den Zeugen gesagt wird, dass Zweifeln erlaubt ist, wird es einem abtrainiert.

Für alle, die es geschafft haben zu Zweifeln und noch dabei sind:
Probiert es objektiv zu sehen. Was mir geholfen hat, war der Vergleich von der Leitenden Körperschaft mit den Schriftgelehrten und Pharisäern. Es gibt so viele Regeln bei den ZJ, die nicht auf der Bibel fundieren und das Leben des einzelnen schwer macht. Schaut es euch von außen an und arbeitet mit Logik. Informiert euch und gebt den Zweifeln Raum!

Und sehr wichtig:
Baut euch ein Sicherheitsnetz auf! Baut soziale Kontakte außerhalb auf, denn wenn man fallengelassen wird kann es sein, dass man in ein tiefes Loch fällt und/oder irgendwann zurückkehrt, weil man mit dem Verlust nicht umgehen kann.