ÜberLebensweg – Simone

Simone
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Diese Frage kann ich wie so viele andere auch in einem ganz knappen Satz beantworten:
Ich wurde hineingeboren.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Als Kind konnte ich mich relativ glücklich schätzen. Ich habe Eltern, die nie übermäßig streng waren, was die „Religionsausübung“ anging. Ich durfte z.B. mit Freundinnen in meiner Klasse spielen, die keine Zeugen Jehovas waren. Trotzdem war meine Kindheit und Jugend geprägt von Regeln und einem religiösen Alltag, der es einem schwer bis unmöglich machte, sich normal zu entfalten. Keine Geburtstage, kein Weihnachten, keine Partys, keine Clique. Dauernd Gottesdienst (damals noch drei Mal die Woche), predigen, studieren.

Meine Eltern gaben sich wirklich Mühe, mir einen Ausgleich zu schaffen, ich bekam Geschenke ohne bestimmten Anlass und wir sind jedes Jahr als Familie in den Urlaub gefahren. Daher kann ich nicht unbedingt sagen, dass ich unglücklich war. Ich lief eben mit, es war ganz normal für mich. Als Jugendliche bekam ich allerdings immer mal wieder Probleme, weil ich eine Schwäche für Jungs hatte. Ich verliebte mich, war sogar mal heimlich fast zwei Jahre mit einem „weltlichen“ Klassenkameraden zusammen, bis es aufflog und ich Schluss machen musste.

2009 im Alter von 16 Jahren wurde ich getauft. Bis heute weiß ich nicht mehr so richtig, warum ich mich dazu entschlossen habe. Es wurde eben so erwartet und ich war für Zeugen Verhältnisse schon spät dran. Irgendwie gab es einerseits eine Art Überzeugung in mir, aber ich war mir meiner Selbst und der ganzen Sache an sich andererseits so unbewusst, dass ich mir nicht die richtigen Gedanken dazu gemacht, oder über die Konsequenzen nachgedacht habe.

In meiner Gemeinde war ich nie ein Überflieger was die religiösen Aktivitäten anging. Ich tat gerade so viel, dass ich nicht ins Visier genommen wurde. Aber auch das Minimum war für mich oft schwer zu meistern. Ich rede gerne und viel, aber auf der Bühne vor der ganzen Gemeinde zu sprechen… mein absoluter Horror. Sich beim Wachtturm-Studium melden und eine Antwort geben… totale Panik. Am schlimmsten war der Predigtdienst. Die Kinder werden von Anfang an mitgenommen und dazu genötigt, irgendwelche Sprüche aufzusagen, Bibelstellen vorzulesen oder Literatur anzubieten. Anfangs reicht es noch, wenn man als kleiner Stöpsel nur die Klingel drückt, aber irgendwann heißt es dann „Wer schellt, der bellt.“

Vom ersten bis zum letzten Tag war es mir immer unangenehm, die Leute zuhause mit unseren Anliegen zu belästigen. Man merkte mir an, dass ich keine Fortschritte beim Predigen machen wollte. Glücklicherweise war man gnädig mit mir und ich wurde irgendwann nur noch zu festen Zeitschriften-Routen oder zu Bibelstudien mitgenommen, sodass ich selber wenig Aktion zeigen musste.

Der große Zeitaufwand, den man da Woche für Woche für die Sekte betreibt, war mir damals gar nicht so bewusst. Wenn ich heute zurückblicke finde ich es enorm, was Kindern und Jugendlichen abverlangt wird.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Es gab bei mir nicht das eine Ereignis, ich bin auch nicht plötzlich aufgewacht. Es war ein langsamer Prozess, der sich über einige Jahre zog. Im August 2018, am Anfang unseres Sommerurlaubes saßen mein Mann und ich spät abends auf der Terrasse und ich begann ein Gespräch mit ihm. Darüber, dass sich das alles nicht mehr richtig anfühlte für mich. Dass ich den Menschen da draußen nicht mehr irgendwas erzählen wollte, woran ich in Wahrheit selbst nicht mehr glaubte. Dass ich unglücklich war. Er empfand genauso.

So entschieden wir an diesem Abend, dass wir einen Monat auf alles verzichten wollten; kein Gottesdienst, kein Studium und kein Predigtdienst. Wir wollten spüren, ob uns all das fehlt oder ob es sich befreiend anfühlt. Es ist leicht zu erraten, wie unser Fazit ausfiel. Wir sind nicht wieder in die Versammlung zurückgekehrt.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Wie ich schon beschrieben habe, war ich nie besonders stark im Glauben. Jedoch war mein Leben bei den Zeugen Jehovas alles was ich hatte, da ich ja nie etwas anderes kennengelernt habe.

Eine wirklich traumatisierende Situation, die mich sehr ins Wanken brachte, erlebte ich, als mein Mann und ich Ende 2013 ein paar Monate vor unserer Hochzeit standen. Es gibt bei den Zeugen Jehovas die Regel „Kein Sex vor der Ehe“ und wie viele junge Paare hatten wir Schwierigkeiten, uns daran zu halten. Es lief nicht glatt und vom schlechten Gewissen getrieben beichtete ich den Ältesten in meiner Gemeinde, dass etwas vorgefallen war. Heute ist diese Erfahrung mein Paradebeispiel dafür, wie tief die Manipulationen dieser Sekte in die privateste Ebene eingreifen. Es wird einem immer und immer wieder eingetrichtert, dass Gott alles sieht und dass man „Sünden“ (die oftmals nichts anderes als normales menschliches Verhalten sind) bekannt machen muss, um weiter einen guten Stand vor ihm zu haben. Selbst wenn es Bereiche betrifft, die eigentlich niemand anderen etwas angehen.

Was folgte, war ein demütigendes Gespräch mit drei Ältesten aus meiner Gemeinde (sie nennen es Komitee, welches immer dann gebildet wird, wenn sich ein Mitglied der Gemeinde etwas hat zu Schulden kommen lassen). Ich musste ihnen als junge Frau ganz detailliert erzählen, was passiert war. Mein Mann durchlief dieselbe Tortur in seiner Gemeinde. Danach wurde abgeglichen, ob unsere Geschichten identisch waren und es wurde ein Strafmaß festgelegt. Wir verloren unter anderem das Vorrecht einen biblischen Vortrag zu unserer Hochzeit zu erhalten, sodass letztlich alle um uns herum Bescheid wussten, was gelaufen war. Diese Zeit vor der Hochzeit war mein persönlicher Albtraum.

In meiner Anfangszeit nach der Hochzeit in der neuen Gemeinde hatte ich es auch nicht leicht. Von den Ältesten dort wollte niemand wirklich ehrlich wissen, wie es mir ging. Stattdessen bekam ich direkt eine Rüge, weil mein Rock zu kurz war (er reichte sitzend nicht über meine Knie). Generell herrschte ein rauerer Wind als ich meiner Heimat, was großen Druck in mir auslöste und immer das Gefühl, nie genug zu sein.

Dieser schlimme Start in die Ehe und viele weitere Situationen brachten mich letztendlich zu dem Punkt, an dem ich das zuvor erwähnte Gespräch mit meinem Mann führte.

5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Weder mein Mann noch ich waren bisher offiziell ausgeschlossen, sodass es eigentlich keinen Grund gab uns zu ächten. Allerdings sieht die Realität anders aus. Unser Rückzug damals schlug hohe Wellen in unserem Freundeskreis und von heute auf morgen waren sie alle weg. Das war für mich unglaublich schlimm. Um darüber hinweg zu kommen, dass Menschen, von denen ich dachte, ich läge ihnen wirklich am Herzen mich so einfach über Bord werfen, brauchte es 11 Monate Psychotherapie und Zeit. Und viele Tränen.

Mein Vater ist ein sehr aktiver Zeuge Jehovas, hat aber meine Entscheidung akzeptiert. Wir hatten nach meinem Ausstieg ein gutes Verhältnis. Meine Mutter hat mich immer unterstützt. Wir haben so viel über all das geredet und ich habe in der Zeit erfahren, dass sie im Herzen genauso eingestellt ist wie ich. Ich bin ihr sehr dankbar.

b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?
Wie sind deine Gedanken dazu?

Seit ich meinen ÜberLebensweg geteilt habe ist einige Zeit vergangen. Diese neu hinzugefügte Frage beantworte ich mit dem Hintergrund, dass ich gestern meinen endgültigen Austrittsbrief verschickt habe. Das wird mein Leben wahrscheinlich in der nächsten Zeit noch einmal auf eine neue Art beeinflussen. In diesem Zuge habe ich auch die Antwort auf Frage Nr. 6 etwas angepasst, da ich in der alten Version von meinem Austritt als zukünftiges Erlebnis geschrieben hatte.

Aus dem sogenannten „soft shunning“ wie ich es unter dem ersten Teil der Frage beschrieben habe, wird also in Zukunft knallharte Ächtung. Die Personen, die mich bisher „einfach nur“ gemieden haben, weil sie in mir schlechten Einfluss sehen, werden jetzt dazu angewiesen, mich zu sozusagen für tot zu erklären. Sie werden mich auf social media Plattformen entfernen, mich blockieren und mich nicht einmal mehr grüßen, wenn sie mich auf der Straße treffen. Diese Praktik wird bis in meine engste Familie reichen.

Nach außen gibt die Organisation der Zeugen Jehovas natürlich alles daran, diese angeordnete Form der Ächtung als unwahr hinzustellen. Tatsächlich ist es aber vollkommen normal und gilt fast schon als Heldentat und Ausdruck des tiefen Glaubens an Gott, Ausgetretene oder Ausgeschlossene zu behandeln, als wären sie gestorben. Als ich noch ein Mitglied war, war für mich immer klar, sobald von der Bühne herunter bekannt gegeben wurde, dass Bruder/Schwester xy kein Zeuge Jehovas mehr ist, galt es diese Person zu meiden und zu ignorieren, wann immer sich Berührungspunkte ergaben. Das hat im Übrigen für mich damals schon keinen Sinn ergeben und ich habe mich über diese Regel öfter hinweggesetzt.

Menschen wie ich, die sich selbst dazu entschlossen haben, kein Teil dieser Sekte mehr zu sein, sind für Zeugen Jehovas die Schlimmsten. Sie sind Abtrünnige. Unsere Aussagen sind zu behandeln wie Gift. So drückten sie es vor kurzem in einer ihrer Veröffentlichungen aus.

Ich denke nicht, dass dieses Verhalten eine wirklich persönliche Entscheidung ist. Es gibt allerdings bei den Zeugen Jehovas sehr viele Menschen, die blind dem folgen, was ihnen zu dem Thema von oben diktiert wird. Es sei ja schließlich von Gott so gewollt und ein Zeichen von Liebe. Wenn es tatsächlich einen Gott geben sollte, der so etwas von seinen Anhängern verlangt, bin ich froh, dass ich mit ihm nichts zu tun habe.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Kurz gesagt: Es geht mir gut und ich bin sehr froh darüber, dass ich den Mut hatte zu gehen.

Ich kann es nur aus meiner Sicht beschreiben, aber ich denke es ist für Hineingeborene wie mich besonders schwierig, den Weg raus zu finden und dann klar zu kommen. Man wird Erfahrungen und Entwicklungen beraubt, die man nie wieder ganz aufholen kann, egal wie gut man alles aufgearbeitet bekommt.

Die Tatsache, dass ich durch die Auslegungen dieser Sekte zum Thema Partnerschaft viel zu früh in die Ehe getrieben wurde, hat sich lange negativ auf mich ausgewirkt. Manchmal frage ich mich, wo ich heute wäre, wenn ich die Zeugen Jehovas verlassen hätte, bevor ich geheiratet habe.

Die erste Zeit nach meinem Ausstieg war ich voll und ganz damit beschäftigt, den Scherbenhaufen aufzukehren. Als meine Mama dann im Frühjahr 2021 ebenfalls den Absprung geschafft hat, brachte sie mich durch ihre Recherchen dazu, nochmal genauer hinzuschauen. Ich habe mir wie sie Bücher von Aussteigern gekauft, viele Videos angesehen, Webseiten durchforstet und auch die Seite von JZ-Help entdeckt. Das war sozusagen eine neue Phase meines Ausstiegs. Ich bin auf meine Mama mindestens genauso stolz wie auf mich selbst. Mit dem Absenden meines endgültigen Austrittsbriefes werde ich Konsequenzen zu spüren bekommen, die mir bisher erspart geblieben sind. Aber darauf bin ich mittlerweile vorbereitet. Es wird mich nicht mehr so treffen können wie damals. Denn ich bin stark genug dafür.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Wahrscheinlich werde ich nie so ganz fertig mit all dem, aber das ist okay. Es gibt auch immer mal Tage, da kommt die Wut hoch, über die verlorene Zeit und die verpassten Chancen. Das gehört dazu.
Ich bin an einem Punkt in meinem Leben angekommen, an dem ich nicht mehr von meiner Vergangenheit beherrscht werde. Ich weiß endlich wer ich bin, was ich will und wo meine Stärken liegen.

Durch den harten Aufprall in die Realität wurde ich gezwungen, mich mit mir selbst zu beschäftigen und in kurzer Zeit klar zu kommen in der Welt da draußen, die für andere schon immer selbstverständlich war.

Bisher bin ich so gut wie immer auf offene Ohren gestoßen, wenn ich über meine Vergangenheit erzählen kann. Eine Kollegin und gleichzeitig gute Freundin sagte mir noch vor kurzem, dass sie es toll findet, dass ich über all das rede, weil sich kaum jemand da draußen die richtigen Vorstellungen über die Strukturen dieser Sekte macht und ich wichtige Aufklärungsarbeit leiste.

Es ist nicht mein erklärtes Lebensziel, jemanden aus dieser Sekte zu „befreien“. Aber wenn ich durch meine Geschichte nur eine Person davon abhalten kann, ein Bibelstudium mit Zeugen Jehovas zu beginnen, wäre das für mich schon ein Erfolg.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Bleibt oder werdet bitte kritisch. Lasst eure eigenen Gedankengänge zu.
Seid mutig und lest Erfahrungsberichte von Menschen wie mir.
Ich weiß, dass euch immer gesagt wird, wir seien Abtrünnige und es sei furchtbar gefährlich, sich mit uns zu beschäftigen.
Warum hat diese Sekte so eine Angst davor, was wir zu erzählen haben?

Es gibt da draußen so viel Wunderbares zu erleben, viele liebe Menschen und Freiheit.
Die Freiheit zu sein, wer man wirklich ist.
Nutzt dieses Potential!