ÜberLebensweg – Sara K.

Sara K. (Petzoldt)
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Ich wurde hineingeboren. Mein Erzeuger (ich nenne ihn nicht Vater, obwohl er das wohl vor dem Gesetz ist) war seit ich denken kann sog. Dienstamtgehilfe, später Pionier.
Meine Großeltern väterlicherseits: Oma getauft, Opa ausgeschlossen vor meiner Geburt.
Meine Mutter: nicht in der „Wahrheit“ erzogen, Selbstausschluss 2012.
Auf mütterlicher Seite sind meine Oma und mein Stiefopa überzeugte Zeugen Jehovas, mein Stiefopa Ältester. Meinen leiblichen Opa mütterlicherseits habe ich leider nie kennengelernt, da er vor meiner Geburt verstarb. Er war überzeugter Freimaurer bis zum Tod.

Aufgrund der anerzogenen und indoktrinierten Glaubensmuster und Verhaltensweisen entschied ich mich dazu, mich am 01.08.1998 im Alter von 12 Jahren als Zeugin Jehovas taufen zu lassen. Dies geschah gegen den ausdrücklichen Wunsch meiner Mutter, die damals schon durch ihre Erlebnisse und ihren beruflichen Alltag in der Medizin und Psychologie absolut davon überzeugt war, dass mir dieser Weg schaden würde. Jedoch erzog sie mich und meine beiden Geschwister aufgrund ihrer eigenen – ich nenne es mal „dualen Erziehung“ – zu eigenständigen Menschen und versuchte uns so gut es ging immer auch das „Leben in der realen Welt“ zu zeigen und uns die Wahl zu lassen, uns selbst für einen Weg zu entscheiden.
Als Kind von sehr jungen Eltern (Vater fanatischer Zeuge, Mutter nur auf dem Papier Zeuge, in Wirklichkeit jedoch freigeistig und überhaupt nicht von den Lehren der Zeugen Jehovas überzeugt) wurde ich in diese Sekte geboren.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Einerseits lief mein Alltag sehr regelkonform ab: regelmäßige Besuche aller Zusammenkünfte, beten mindestens zu jeder Mahlzeit und meist auch vor dem zu Bett gehen, sehr frühes vertraut machen mit dem Predigtdienst. Mein Erzeuger nahm die „Erziehung in der Wahrheit“ und auch die „Züchtigung“ besonders genau. Nach außen hin wurde von seiner Seite immer der Schein der perfekten Zeugen Familie versucht zu verkaufen. Da sowohl ich, als auch meine Geschwister jedoch auch die „andere“ Seite kannten, führte etwaige Rebellion unsererseits zu körperlicher und psychischer Gewalt, deren Einzelheiten hier den Rahmen sprengen würden. Meine Mutter versuchte, so gut es ging dagegen zu halten und uns zu schützen. Da sie jedoch, als ich zur Schule ging auch wieder mehr berufstätig war um uns versorgen zu können, bekam sie vieles gar nicht mit. So gab es immer wieder Situationen, in denen Prügel mit den verschiedensten Gegenständen (Kochlöffel, Kleiderbügel, metallener Schuhlöffel, etc.) die Folge von nicht regelkonformen Verhalten waren. Sehr oft auch mit dem Hinweis versehen: „Du brauchst deiner Mutter nichts zu erzählen, das erledige ich selbst wenn ich es für richtig halte. Du weißt ja, warum du diese Strafe verdient hast. Jehova sieht alles!“ Es dauerte Jahre, bis ich es einmal wagte ein wütend-panisches „Ja, genau Jehova sieht alles!!“ meinem Erzeuger zu entgegnen. Die Folgen: Schlage, Prellungen, zerrissene Klamotten, blaue Flecken, Kratzspuren und als ob das alles nicht genug wäre, Nahrungsentzug und das schlechte Gewissen und die Schuld, die er uns einredete: „Wenn du mich und Jehova wirklich lieben würdest, dann würdest du gehorchen!“ Erst als meine Mum das volle Aufgebot von Polizei, Kripo, das Jugendamt und den Kinderschutzbund verständigte, ließ er sich kurzzeitig in Schranken weisen. Aber auch die späteren Erfahrungen innerhalb der Gemeinschaft hinterließen schmerzhafte seelische Spuren.

Im Alter von 11 Jahren kam ich aufgrund meiner körperlichen Einschränkung (spastische Zerebralparese und Hüftdysplasie, angeboren und aufgrund von Sauerstoffmangel bei meiner Geburt) vorübergehend in den Rollstuhl. Die bei den Zeugen Jehovas so überaus hervorgehobene „brüderliche Liebe“ und der Zusammenhalt blieben mir verwehrt. Stattdessen wurde ich gemieden – man konnte ja jetzt nichts mehr mit mir anfangen. Verwundert mich bis heute, denn ich war dank des unermüdlichen Kampfes meiner Mutter selbständig und mobil.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Gab es ein ausschlaggebendes Ereignis?

Ich würde eher sagen, es gab einen von vielen Entwicklungspunkten. Mir zaubert diese Frage heute ein Lächeln ins Gesicht. Ich verliebte mich. Oder besser: Ich fand in der Liebe zur Musik und dem Schreiben eigener Songtexte, in denen ich auch versuchte meine Erlebnisse zu verarbeiten, erst einen sehr guten Freund, dann eine sehr intensive und innige Liebe zu einem Mann, der natürlich kein Zeuge Jehovas war.
Durch ihn gelang mir letzten Endes mein Befreiungsschlag. All das spielte sich jedoch erst nach meinem 18. Geburtstag ab. Durch eine Freundin unserer Familie, sie ebenfalls sehr strenge Zeugin, lernte ich meinen späteren Lebenspartner kennen (er ist ihr Cousin). Anfangs verband uns die Musik und unsere Freundschaft. Diese Freundin muss wohl auf einer gemeinsamen Reise mitbekommen haben, dass wir uns irgendwann körperlich nahegekommen waren und äußerte meinem Erzeuger gegenüber diesen Verdacht. Dieser machte daraus eine Tatsache und „verpetzte“ mich an den Ältesten, der einer meiner Bezugspersonen bei den Zeugen war, er besprach damals auch die Tauffragen mit mir. Als ich also von besagtem Urlaub zurück war dauerte es nicht lange und ich erhielt von eben diesem Ältesten einen Anruf. Als mein Erzeuger mir das Telefon übergab war mir klar, was das für ein Gespräch werden sollte.
Der Älteste: „Hallo Sara, schön dass ich dich erreiche. Mir ist da etwas zu Ohren gekommen worüber ich mit dir reden wollte.“
Ich konnte mir ein gespielt erstauntes „Wirklich, was denn?“ nicht verkneifen. „Stimmt es, dass du mit einem weltlichen Mann eine sexuelle Beziehung führst?“ fiel er gleich mit der Tür ins Haus. Als er mich dann auch noch fragte, wie das genau abgelaufen sei, wurde es mir zu bunt. Ich fragte ihn, was ihn das anginge, das würde ich ja nicht mal meinem Vater (ja, damals nannte ich meinen Erzeuger noch so) sagen, war seine Antwort: „Wie sprichst du mit mir, ich bin dein Ältester?“ Ich darauf: „Wie sprichst du mit mir, ich bin nicht deine Tochter. Aber ich will mal nicht so sein, wenn du es so genau wissen willst, sag ich es dir.“ Ich begann meine Ausführungen, während derer ich ihn am anderen Ende der Leitung Entsetzenslaute von sich geben hörte und beendete meinen kurzen aber intensiven Bericht mit den Worten „und es hat mir unglaublichen Spaß gemacht und ja, ich würde es immer wieder tun. Ich hoffe, meine Ausführungen haben dir gefallen.“ Er gab mir Gelegenheit meine Aussage zu überdenken, er würde sich in 5 Minuten nochmal melden, wenn ich dann bereuen würde, hätte das keinen Ausschluss zur Folge. Ich legte auf. Als er wieder anrief, sagte ich, dass ich alles gesagt hätte und er doch bitte nie wieder Kontakt zu mir suchen solle, sonst wär ich nicht mehr so nett.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Ich kannte ja von Geburt an erst mal nichts anderes. Und irgendwann, nachdem meine Erfahrungen sich wie oben beschrieben häuften, klammerte ich mich erst mal förmlich daran „in der Wahrheit zu leben“ um endlich anzukommen, angenommen zu werden und dazuzugehören zu dieser Elite von Menschen. Erst als ich älter wurde schlichen sich nach und nach immer mehr Zweifel ein.
Im Grunde war es ein langer Prozess mit vielen Höhen und Tiefen. Jedoch wurde mir irgendwann bewusst, dass ich nirgends dazu gehörte. Trotz „Freundschaften in der Welt“, zu denen ich ja nie richtig stehen durfte, gehörte ich dort nicht hin, da meine Erziehung und mein Glaube mir im Weg standen. Noch fühlte ich mich der Organisation zugehörig, denn dort wurde ich gemieden. Auch Rat und die Hilfe, die ich bei Ältesten deswegen suchte, mehrfache Versammlungswechsel und unglaublich viel Eigeninitiative änderten nichts an meiner Situation. Irgendwann gewann mein Freiheitsdrang und mein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn.
An dieser Stelle: Danke Mama, danke für die Sicht und das Kennenlernen beider Welten, soweit möglich. Nachdem ich mich so sehr an die Glaubenslehre und Gemeinschaft geklammert hatte und gehofft hatte, ich würde im Paradies all das tun können, was jetzt nicht möglich war und von allem geheilt sein, in meinen dunkelsten Stunden, als ich mehrmals versuchte mir das Leben zu nehmen.

5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ja bin ich. Ich habe meinen Vater verloren, bzw. musste feststellen, dass ich nie einen hatte. Als es zur Scheidung meiner Eltern kam. (u.A. aufgrund des Selbstausschlusses meiner Mutter im Jahr 2012, nahm er wie so oft Kontakt zu mir auf: Er bat mich, mich zur Scheidung meiner Eltern zu äußern und für einen von beiden Stellung zu beziehen. Als ich ihm das mit den Worten: „Das kann ich nicht, ich bin euer Kind!“ erst verwehrte und er weiterhin darauf bestand, machte ich ihm sehr deutlich klar, was meine Meinung ist. Nämlich, dass er Mama in Ruhe lassen soll und es doch möglich sein müsse, einfach getrennte Wege zu gehen, wenn man sich, wie die beiden, nicht mehr liebe. „Ist das dein letztes Wort?“, fragte er mich mit gebrochener und weinerlicher Stimme (eine seiner Taktiken der emotionalen Erpressung). Als ich bejahte antwortete er: „Du weißt, was Jehova Gott dazu sagt. Dann habe ich jetzt keine Tochter mehr!“ Ich wusste, dass das irgendwann kommen würde. Trotzdem traf es mich in diesem Moment und tat unglaublich weh. Ich erkundigte mich mehrmals, ob er sich sicher bewusst sei, was er da sage und entgegnete dann: „Gut, dann bist du für mich gestorben! Somit habe ich auch keinen Vater mehr!“ Das war der letzte persönliche Satz, den ich zu ihm sagte. Bis heute besteht kein Kontakt. Will ich auch nicht.

Ein paar Jahre später verlor ich eine sehr gute Schulfreundin an die Zeugen Jehovas. Sie schrieb mich bei Facebook an und beendete unsere Freundschaft, da sie jetzt eine Zeugin sei. Ein paar Tage danach schrieb mein Erzeuger mir eine Mail mit einem Foto von ihr und ihm im Anhang und der Frage, ob ich nicht zurückkommen möchte, schließlich habe er jetzt auch eine meiner besten Freundinnen aus der Welt zu den Zeugen geholt.

Update: 28.03.2024: Heute habe ich erfahren, dass eine Person, mit der ich praktisch aufgewachsen bin und die immer einen besonderen Platz in meinem Herzen hat, wieder zu den Zeugen Jehovas zurückgegangen ist und wieder aufgenommen wurde.
Das tut fast mehr weh, als der Verlust einer meiner besten Freundinnen…

b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?

Trotz aller Indoktrination halte ich es schon für ihre persönliche Entscheidung. Vor allem dann, wenn sie sich gegen ihre eigenen Kinder stellen. Jeder Mensch wird irgendwann erwachsen und sollte den Instinkt haben, seine Kinder zu schützen und somit spätestens mit dem Ausschluss der Kinder oder Angehöriger zum Nachdenken kommen.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Dieses Jahr feiere ich 16 Jahre Freiheit.
Ein Leben ohne religiösen Fanatismus und ohne diese Sekte.
Mir geht es prima.
Ängste habe ich relativ schnell innerhalb der ersten 2 Jahre nach meinem Ausstieg überwunden.
Trotzdem trifft es mich mitzubekommen, wenn Herzensmenschen beispielsweise neu oder wieder dorthin zurückkehren.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Ohne all das wäre meine Kindheit um viele Situationen schöner gewesen, jedoch wäre ich dann nicht die Frau, die heute bin.
Ich gehe unter anderem auch durch diesen Teil meiner Geschichte gestärkt durchs Leben – MEIN LEBEN!

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Lauft um euer Leben! – Wir haben nur dieses eine und dürfen uns das von niemandem stehlen lassen. Meine, und die Erfahrungen vieler anderer beweisen, wie überaus toxisch ein Leben in dieser (und auch jeder anderen) Sekte sein kann.