ÜberLebensweg – Ruth aus Lappland

Ruth
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Ich bin in die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas hineingeboren. Meine Eltern wurden nach dem 2. Weltkrieg und ihrer Flucht nach Westdeutschland „gefischt“. Sie hatten zu dieser Zeit viel mitgemacht und ich denke – wie bei vielen anderen auch – war die Aussicht auf ein Paradies auf Erden ein Strohhalm nach dem sie griffen, zumal meine Mutter sehr schwer krank war.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Ein kleines Kind denkt, die Umstände, in welchen es aufwächst, sind normal und bei allen Menschen so, weil es ja nichts anderes kennt. Im Nachhinein glaube ich heute, dass meine Eltern, bedingt durch ihre eigenen Geschichten, kaum in der Lage waren, mir und meinen beiden älteren Schwestern wirkliche Geborgenheit zu bieten. Die Religion der Zeugen Jehovas kam da sozusagen „on top“.
Unsere Eltern waren streng, es gab keine Feiern wie Weihnachten, Geburtstag, Ostern oder ähnliches, und auch keinen Ersatz dafür. Die Zusammenkünfte der Zeugen, damals noch dreimal pro Woche, sowie alle Kongresse haben wir ausnahmslos besucht, egal wie groß der Aufwand war. Allerdings mit Ausnahme meiner Mutter, die krankheitsbedingt oft allein zu Hause blieb.

Ich erinnere mich, dass „wichtige“ Personen aus der Führung der Zeugen Jehovas, Kreis – und Bezirksaufseher oft bei uns zu Besuch waren. Unsere Familie war oft am Programm auf den großen Kongressen beteiligt. Einerseits fühlte ich mich dadurch privilegiert, andererseits fiel mir besonders in der Schule die Andersartigkeit unserer Familie auf.
Ich war ein kontaktfreudiges Kind und wollte gern überall dazugehören – durfte ja aber bei so vielen Aktivitäten nicht mitmachen.
Nach Weihnachten ging unsere Lehrerin jeweils von einem zum nächsten Schüler, um sich vor der versammelten Klasse erzählen zu lassen, was er/sie zu Weihnachten geschenkt bekommen habe. Und – obwohl die Lehrerin genau wusste, dass es in meiner Familie kein Weihnachten gab – blieb sie auch vor mir stehen. Und jedes Jahr musste ich dann laut vor der ganzen Klasse sagen: Nichts. Ich habe nichts zu Weihnachten bekommen.
Ich erinnere mich bis heute sehr gut an das beschämende Gefühl dabei!

Als Kind habe ich die Religion natürlich sehr ernst genommen, ich hatte große Angst vor Satan und den Dämonen, die anschaulichen Bilder in der Wachtturmliteratur haben ihres dazugetan. Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, wie es wohl sein würde, wenn Harmagedon käme und alle meine Schulfreunde und die Kinder vom Spielplatz plötzlich tot sein würden. Oft hatte ich unerklärliche Bauchschmerzen und habe dann zu Jehova um Hilfe gebetet. Wenn das nichts half, habe ich zu Satan gebetet, in der Hoffnung, dass er mir Erleichterung verschaffen könnte, – nur um mich anschließend voller Angst und schlechtem Gewissen wieder bei Jehova zu entschuldigen!
Es gab nur Schwarz und Weiß, so wurde es mir beigebracht.

Als ich gerade neun Jahre alt war starb meine Mutter. Ich erinnere mich an alle Einzelheiten dieses Tages. Meine älteste Schwester ging mit mir allein ins Wohnzimmer, zog mich zu sich auf den Schoß und begann zu weinen. Sie sagte mir, dass unsere Mutti nun tot sei, aber im gleichen Atemzug und mit fester Stimme schob sie hinterher: „Wenn Jehova will, werden wir sie nach Harmagedon im Paradies wiedersehen!“
In meinem Kinderglauben konnte Harmagedon täglich kommen – damit also auch die Möglichkeit, meine Mutter vielleicht schon Morgen wiederzusehen. Warum also traurig sein??
Ich habe lange nicht getrauert.

Bald nach dem Tod unserer Mutter zogen meine beiden Schwestern, die gerade volljährig waren, von Zuhause aus. Die Mittlere verschwand in einer Nacht- und Nebelaktion, ohne zu sagen wohin, und natürlich auch weg von den Zeugen Jehovas.
Die Ältere heiratete einen Zeugen aus dem Bethel und wurde Pionier.
Zwei gegensätzliche Entscheidungen, aber für mich zwei weitere Verluste. Ich blieb allein bei meinem Vater zurück, der, offensichtlich von der gesamten Situation überfordert, mich oft schlug. Er war weiterhin ein geachteter Ältester in der Versammlung, und meinen Schrei nach Aufmerksamkeit nannte er aufmüpfiges Verhalten.
Bald fand er eine neue Partnerin, und nach der Hochzeit zogen wir zu ihr, von der Stadt aufs Land. Ich war verzweifelt, wie konnte er einfach eine neue Frau heiraten, wenn wir doch quasi täglich auf Harmagedon und damit auf die Rückkehr meiner Mutter warteten? Zudem fand ich keinen Anschluss in der neuen Schule, wofür meine Stiefmutter zusätzlich sorgte. „Weltliche“ Kontakte waren verboten und unglücklicherweise gab es in der kleinen Landversammlung auch kaum Jugendliche.
Meine Stiefmutter behandelte mich sehr grob, meinen Vater interessierte das nicht.

In der Versammlung und im Predigtdienst musste ich lächeln, während es mir innerlich das Herz zerriss und irgendwann wollte ich nur noch sterben.
Da ich aber eine gute Schülerin war und gelernt hatte, nach außen hin perfekt zu funktionieren, bemerkte niemand meinen depressiven Zustand.
Damals begann in der Zeitschrift „Erwachet“ die Artikelserie „Junge Leute fragen sich“. Ich griff danach wie nach einem einzigen Strohhalm und begann die Artikel zu studieren, bis ich sie nahezu rückwärts auswendig konnte. Darüber fand ich einige Freundschaften in unserer und Nachbarversammlungen.
Und mit dem Gefühl, mich selbst wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen zu haben, ließ ich mich mit 16 Jahren taufen.

Ich lernte einen jungen Mann aus der Versammlung kennen und lieben und wir heirateten früh. Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass ich in erster Linie geheiratet habe, um aus meinem Elternhaus zu fliehen. Zwar hatte ich mittlerweile eine Ausbildung und eigenes Geld, aber ich fühlte mich so unterdrückt, klein und minderwertig, dass ich mich nicht in der Lage sah, allein auszuziehen und auf eigenen Füßen zu stehen. Natürlich hätte ich das damals nie vor mir selbst zugegeben.
Ich hörte auf zu arbeiten und begann mit dem Pionierdienst. Wir wurden das Vorzeigepaar, immer aktiv für die „Wahrheit“, immer auf der Bühne.
Selbst als ich schwanger wurde und wir in kurzer Zeit drei Kinder bekamen, drehte sich das Zeugen – Karussell weiter. Mein Mann wurde Ältester und wir waren jeden Samstag und oft auch unter der Woche mit der ganzen Familie von Haus zu Haus unterwegs, bei jedem Wetter. Das war eine unglaublich anstrengende Zeit, aber ich glaubte, alles richtig zu machen. Die Welt war ein brennendes Haus, und wir mussten vor Harmagedon noch möglichst viele Menschen retten!

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Gab es ein ausschlaggebendes Ereignis?

Als unsere Kinder in die Schule kamen, habe ich mich im Elternbeirat engagiert, ich wollte wissen, was in der Schule los ist, und dabei unseren Kindern viel Freiheit lassen. Ich wollte in der Erziehung alles anders machen, als meine Eltern bei mir und sie doch zu „guten“ Zeugen Jehovas erziehen. So lernte ich eine andere Mutter kennen, die mir ihre privaten Probleme offenbarte und natürlich begann ich ein Bibelstudium mit ihr, um sie von den Vorzügen meiner Religion zu überzeugen. Sie hatte viele kritische Fragen.
Einmal sagte sie spontan zu mir: Komm, wir googlen mal ‚Jehova‘! Ich las mit großen Augen, dass der Name Jehova überhaupt nie in den Urschriften der Bibel gestanden hat, und dazu gab es jede Menge Hintergrundinfos, Übersetzungen, Quellenangaben… Sie schaute besorgt in mein blasses Gesicht und fragte, ob das jetzt ein Problem für mich sei. Ich konnte mich schnell fassen und das Thema war mit wenigen, hohlen Argumenten von meiner Seite beendet. Aber der winzige Stein kam ins Rollen und wurde im Laufe der Jahre zu einer regelrechten Lawine.
Sobald ich Zugang zum Internet hatte und Zuhause allein war, forschte ich weiter. Anfangs vermied ich gewissenhaft Zeugen Jehovas – kritische Seiten und beschäftigte mich lediglich mit wissenschaftlichen und historischen Fakten, besonders die Ermittlungen des Jahres 607 hatte es mir angetan. Ich bescheinigte mir selbst, dass ich ja lediglich Geschichtsforschung betrieb.
Unser Familienleben wurde zusehends anstrengender und komplizierter, die Kinder kamen in die Pubertät, die Eltern meines Mannes rutschten langsam aber sicher in die Pflegebedürftigkeit, Geldsorgen kamen auf und dazu das straffe Wochenprogram der Zeugen Jehovas, Beteiligung an nahezu jedem Kongressprogramm… Ich ging auf dem Zahnfleisch, aber ich machte weiter!

Ich machte auch die Augen zu, als unsere Tochter dem Druck der Situation nicht mehr gewachsen war, erst häufig krank wurde und schließlich nicht mehr zur Versammlung gehen wollte.
Ich bekam psychosomatische Symptome und eine Angststörung, die ich aber lediglich medikamentös behandeln ließ.

Und dann las ich sie schließlich doch, die Aussteigerseiten im Internet.
Zuerst mit schlechtem Gewissen, aber der Stein rollte! Hier schrieben Leute, denen es genauso ging wie mir! Gnadenlos überlastet und ausgelaugt, unbeantwortete Fragen bezüglich der Lehren und niemanden, den man ungestraft hätte fragen können! Ich fühlte mich in diesen Foren das erste Mal verstanden und gehört!

Ich fand über ein Forum eine ehemalige Zeugin aus einer Nachbarversammlungen und wir nahmen persönlichen Kontakt auf. Von ihr bekam ich das Buch „Der Gewissenskonflikt“ von Ray Franz. Ich habe es verschlungen!! Und dann wusste ich, dass ich irgendwie aus dieser Kultgemeinschaft raus müsste! Ich begann ganz vorsichtig, meinem Mann ein paar Ungereimtheiten in der Lehre zu zeigen. Er sprang überhaupt nicht darauf an, ließ mich aber gewähren und verurteilte mich nicht.

Ich beschloss, mich ganz langsam von der Versammlung zurückzuziehen. Das schien mir vorerst die beste Möglichkeit, um nicht den Kontakt zu den Schwiegereltern und unserem ältesten Sohn zu gefährden, der mittlerweile getauft war. Ich begann wieder zu arbeiten und legte meine Arbeitsstunden oft auf die Versammlungszeiten, so hatte ich eine Ausrede. Gleichzeitig versuchte ich, außerhalb der Zeugen Freunde zu finden, um ein neues, soziales Netz zu haben. Auch unser jüngster Sohn stellte den Versammlungsbesuch ein, wie ich. Mein Mann versuchte in dieser Zeit mehrmals sein Ältestenamt niederzulegen, weil er sich unwürdig und überfordert fühlte. Aber man „ermunterte“ ihn jeweils, es dabei zu lassen, so blieb er lange Zeit weiter im Hamsterrad der Zeugen. Schließlich brach er körperlich und psychisch zusammen und begann eine Therapie. Diese, sowie ein zufälliges Wiedertreffen mit einem ehemaligen Zeugen halfen ihm sehr viel später, sich schließlich auch von den Zeugen Jehovas zu lösen.

Zuvor erlebten wir aber noch einige Schicksalsschläge.
Bei unserer Tochter wurde eine seltene Krankheit diagnostiziert, die mehrere komplizierte Operationen erforderte. Unser jüngster Sohn erlitt einen schweren Autounfall, bei dem er nur knapp mit dem Leben davon kam. Die Ältesten in der Versammlung ließen meinem Mann gegenüber durchblicken, dass diese Dinge nicht von ungefähr kämen, da wir ja nun nicht mehr den „Segen Jehovas“ hätten. Sogar meine Schwiegermutter wähnte, dass ich mich ja nun wohl von ihrem Sohn scheiden lassen würde.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Ich habe immer sehr stark geglaubt – aber immer mit dem Gefühl: es gibt ja keine andere Lösung! Die Lehren der Zeugen Jehovas schienen mir die einzige Lösung für meine privaten, sowie alle weltweiten Probleme. Ich habe immer alles sehr mit Verstand und Logik betrachtet. Das vielgerühmte „persönliche Verhältnis“ zu Jehova hatte ich nie, weswegen ich auch unter Schuldgefühlen litt. Ebenso verstandesmässig behandelte ich Freundschaften unter Zeugen Jehovas – und litt doch gleichzeitig darunter, dass diese Freundschaften immer an Bedingungen geknüpft waren.
Einen zweifelnden Anteil hatte ich sicher schon immer in mir, ich habe ihn nur sehr lange gut vor mir selbst versteckt!

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ich habe keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern und der älteren meiner beiden Schwestern, sowie zu ihrer ganzen Familie. Ich habe diesen Kontakt aber von mir aus einschlafen lassen, als mir klar wurde, dass ich mich von den Zeugen lösen würde. Ich bin ihnen praktisch zuvorgekommen, denn auch wenn ich nie ausgeschlossen wurde, bin ich doch in ihren Augen abtrünnig. Letztlich glauben sie, dass ich in Harmagedon umkommen werde, und dass das richtig so ist.
Zu unserem ältesten Sohn, der bis heute Zeuge Jehovas ist, besteht nur Minimalkontakt, was mich sehr schmerzt. Ich versuche immer wieder, ihm zu signalisieren, dass unsere Tür offen ist.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Trotz aller Schwierigkeiten war ich in den ersten Jahren nach meinem Ausstieg sehr glücklich. Ich bin nahezu jeden Morgen mit dem Gedanken wach geworden: Ich habe es geschafft! Obwohl ich zu der Zeit bereits Mitte vierzig war, fühlte ich mich etwas pubertär, ich war stark, so viele Möglichkeiten und die ganze Welt stand mir offen! Aber unterschwellig war da auch etwas Trauer um so viele vergeudeten Jahre und Bedenken darüber, was ich meinen Kindern durch die Zeugen Jehovas – Erziehung angetan habe.

Zu meiner großen Freude kam ich wieder in Kontakt zu meiner mittleren Schwester, die vor Jahren ausstieg, und wir haben seither ein inniges Verhältnis.
Schließlich wollten mein Mann und ich es nochmal wissen, verkauften unseren kompletten Hausstand und sind nun seit fünf Jahren mit Rucksack in Nordskandinavien unterwegs. Im Winter arbeiten wir im Tourismusbereich.

Vergangenen Winter erlitt ich auf einer Bergtour einen Herzanfall.
Auf der Intensivstation im Krankenhaus wurde mir das Broken Heart Syndrom diagnostiziert. Während der drei Monate, die ich krankgeschrieben war, hatte ich ausreichend Zeit zum Nachdenken und mir wurde bewusst, dass ich wohl eine Menge Dinge aufzuarbeiten habe. Also suchte ich mir psychologische Hilfe. Im Moment bin ich noch auf der Warteliste für eine Therapie und überbrücke die Zeit mit regelmäßigen Gesprächen bei einer Fachärztin für Psychosomatik.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Ich hätte mich viel früher für den Ausstieg entscheiden sollen.
Nichtsdestotrotz war es die beste Entscheidung meines Lebens.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Zweifel sind das A und O im Leben. Ohne Zweifel zu haben, können wir uns nicht für das eine oder das andere entscheiden.
Wenn Zeugen Jehovas mit Dir ihre Bücher studieren, wollen sie, dass Du an Deiner bisherigen Einstellung zu vielen Dingen zweifelst. Ergo sind im Gegenzug auch Zweifel an der Religion der Zeugen Jehovas angebracht.
Wenn sich Zweifel ausräumen lassen und eine Sache wirklich für gut befunden wird – dann gut. Aber solange muss man Zweifel zulassen und die Sache bis zum letzten Krümel prüfen.

Und hört auf Euer Bauchgefühl, viele von uns haben das gänzlich verlernt und unterdrückt.

Zögert nicht, um psychologische Hilfe zu bitten, schiebt sowas nicht hinaus. Wenn nötig, wechselt den Arzt. Nicht alle Ärzte erkennen die spezifischen Probleme, die eine Mitgliedschaft in einem religiösen Kult mit sich bringen mag.