ÜberLebensweg – Mario aus Wien

Mario aus Wien
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Ich bin ganz normal in einer christlichen Familie aufgewachsen, jedoch wurde ich mit den Lehren der ZJ schon als Kind konfrontiert, welchen ich jedoch nie wirklich viel Aufmerksamkeit schenkte. Meine Oma war schon mehr als 30 Jahre lang eine strenggläubige ZJ und da ich im Sommer öfters mal 2 Wochen bei ihr verbrachte, wurde ich immer in die Versammlung mitgenommen, in welcher ich auch Kontakt zu Gleichaltrigen bekam. Außerdem wuchs mein Cousin auch bei meiner Oma auf (ließ sich als Jugendlicher taufen) und aufgrund dieser Konstellation entstanden dann auch ein paar Freundschaften. Dadurch hab auch meine damalige Frau kennengelernt, jedoch war eine Beziehung nicht möglich, außer ich entscheide mich, auch ein ZJ zu werden. Da meine Tante und ihr Mann auch ZJ waren und mir deren Beziehung immer als sehr stabil in Erinnerung war, entschied ich, dem eine Chance zu geben und studierte mit meinem Onkel das Erkenntnis-Buch. Da ich damals schon auf der Suche nach dem Spirituellen war, hat mich diese für mich „Neue Erkenntnis“ sehr interessiert und innerhalb eines Jahres ließ ich mich taufen und heiratete.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Anfangs war der Alltag eigentlich ziemlich normal, außer dass meine damaligen Nicht-Zeugen-Freunde mit mir den Kontakt einstellten und ich diesen auch nicht suchte, da es ja „Weltmenschen“ waren. Die ersten Jahre vergingen wie im Flug, da ich in einer spanischen Versammlung war und ich dort relativ schnell immer mehr Verantwortung bekam. Ich habe regelmäßig Vorträge gehalten, war Dienstamtgehilfe (DAG) und dadurch auch meist sehr beschäftigt. Gleichzeitig habe ich aber auch meine Vergangenheit nicht aufgegeben und weiterhin meine Musik und meine Filme angesehen, die grundsätzlich fast immer von fraglichem Inhalt waren. Diese ständige Einschränkung in so manchen Dingen, aber auch das Gefühl, ständig kontrolliert/beobachtet zu werden hat sich dann immer mehr zum Problem entwickelt, dass mich letztendlich dazu gebracht hat, ein Doppelleben aufzubauen. Man konnte ja sowieso mit niemanden über Gedanken oder Probleme sprechen, da man immer Angst haben musste, verraten zu werden. Ich habe dann auch begonnen, regelmäßig auf Geschäftsreisen zu gehen, was unweigerlich dazu geführt hat, dass ich viele erfolgreiche „Weltmenschen“ kennengelernt habe, die mich dazu inspiriert haben, die Welt anders zu sehen als dieses „Wir“ und die „Bösen“. Vor allem kämpfte ich auch ständig mit der Doppelmoral, mit der ich in meinem Umkreis konfrontiert wurde… Älteste, die Filme mit Magie verteufelt haben, jedoch mit Filmen wie James Bond oder Serien wie „The Walking Dead“ kein Problem hatten. Andere, die fast jedes Wochenende betrunken waren, aber am Montag wieder als DAG‘s/Hilfspioniere ihren heiligen Dienst für Jehova verrichteten.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Zum einen waren es die Geschäftsreisen, die meine Ansicht zu den „Weltmenschen“ ziemlich verändert hat. Außerdem hatte ich während dieser Reisen die Möglichkeit ich selbst zu sein, zu tun was mir Spaß machte ohne dabei Gefahr zu laufen, dass mich jemand sieht. Während dieser Reisen habe ich eigentlich alles getan, was man als ZJ nicht tun darf… war auf Partys, habe getrunken, Marihuana geraucht, etc… Ich habe diese Reisen immer besonders genossen, und war dann eigentlich auch immer traurig, wenn ich zurück nach Hause musste. Natürlich hatte ich auch immer ein schlechtes Gewissen, ertappte mich beim Beten, dass Jehova mir doch bitte verzeihen mag, denn ich bin eben nicht perfekt.
Obwohl es ein ausschlaggebendes Ereignis nicht wirklich gab, kamen damals einfach sehr viele Dinge zusammen. Im Jahr 2013 wurde meine erste Tochter geboren und obwohl die Freude darüber sehr groß war, stellte es doch eine Herausforderung für meine Partnerschaft dar, die schon vorher mehr Freundschaft als Beziehung war und dafür mache ich zum großen Teil auch die Religion verantwortlich. Wenn man in einer so strikten und geschlossenen Gemeinschaft lebt, die einem sämtliche Freiheit und Selbstbestimmtheit nimmt, dann muss das eigene Selbst irgendwann mal raus. Meine zweite Tochter kam 2015 zur Welt und ich muss gestehen, dass ich während dieser Jahre nur mehr wie eine Maschine funktioniert habe. Das neue Leben mit meinen Kindern war schon Herausforderung genug, und seitens der Versammlung wurde dann auch noch extrem viel Druck aufgebaut. Da ich DAG war und auch Anwärter zum Ältestenamt, wurde ich ständig daran erinnert, dass ich meine Predigtdienststunden erhöhen müsste. Keiner der Ältesten hatte Kinder in meinem Alter und keiner von ihnen hatte ca. 45 Minuten Anreise zur Versammlung und somit Verständnis für meine Situation. All das und andere Dinge haben dann auch schließlich dazu geführt, dass ich ein Rechtskomitee hatte, indem ich regelrecht verhört wurde und Details über meine „Sünden“ bekanntgeben musste, die eigentlich niemanden etwas angehen sollten. Da ich zuvor schon begann, viele Dinge zu hinterfragen und mir auch schon einige Videos von Lloyd Evans angesehen hatte, kam mir dann einfach ein Test in den Sinn, den ich sofort umgesetzte. Da die ZJ ja immer behaupten, von Jesus/Jehova oder dem heiligen Geist angeleitet zu sein, begann ich bei meinem „Verhör“ einfach nicht die ganzen Wahrheiten zu erzählen und bereute öffentlich meine Taten, obwohl ich es eigentlich nicht tat. Somit war für mich klar, dass wenn hier wirklich etwas Göttliches am Werk ist, ein Ausschluss kommen musste. Und obwohl ich in einer ähnlichen Sache schon einmal ein Rechtskomitee hatte, kam es wieder zu keinem Ausschluss. Dadurch wurde mein „Vertrauen“ in das Göttliche bei den ZJ schließlich komplett zerstört und ich befasste mich danach nur noch mehr mit Büchern und Videos von ExZJ.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Wie gesagt, ich war etwas mehr als 20 Jahre ein Zeuge Jehovas, jedoch gab es in dieser Zeit immer wieder Zweifel. Diese wurden jedoch durch die wöchentlichen Zusammenkünfte immer wieder auf „Null“ gestellt, wie bei einem „Reset“-Button. Trotzdem habe ich irgendwann gemerkt, dass ich dieses Spiel nicht ewig weiterspielen kann und habe dann irgendwann mal begonnen, mich außerhalb der „Zeugenwelt“ zu informieren. Auch aufgrund meiner vielen Geschäftsreisen war ich immer mit der „Welt“ konfrontiert, welche beim genauen Hinschauen gar nicht so böse war, wie immer erwähnt. Meine erste Berührung mit externen und kritischen Informationen war die Netflix Doku „Explained – Cults“ die mir wirklich die Augen geöffnet hatte. Ich habe dort über das BITE Modell erfahren, mit dem man feststellen kann ob es sich bei einer Gruppe um eine Sekte handelt. Nachdem ich gemerkt hatte, dass das meiste voll und ganz auf Jehovas Zeugen zutrifft, habe ich die beiden Bücher von Steven Hassan gelesen: „Combating Cult Mind Control“ und „Freedom of Mind“. Nach diesen habe ich dann erste Erfahrungen mit Ex-Zeugen gemacht, z.B. Lloyd Evans (Youtube Channel), Oliver Wolschke (Buch: Jehovas Gefängnis), etc.

5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Natürlich bin ich von Ächtung betroffen… die Ächtung hat schon begonnen, als ich aufgehört hatte in die Versammlung zu gehen oder erstmals Zweifel geäußert hatte. Ab dem Zeitpunkt begann schon dieses „Soft-Shunning“, wobei nachdem offiziell mein Ausschluss bekanntgegeben worden ist, mein komplettes Sozialleben zusammengebrochen ist. Alle Freunde innerhalb und außerhalb der Versammlung sprechen seither nicht mit mir, auch wurde der Kontakt zu meiner Tante und meinem Onkel auf das notwendigste reduziert. Die meisten grüßen mich nicht mal mehr und können neben mir stehen, ohne mich auch nur anzusehen. Zum Glück habe ich seitens meiner Familie (keine Zeugen Jehovas) sehr viel Rückhalt und hier mit keinen Problemen zu kämpfen.

b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?
Wie sind deine Gedanken dazu?

Ehrlich gesagt, denke ich nicht, dass diese Personen aufgrund einer persönlichen Entscheidung ächten. Die Ächtung wird von der Organisation angeordnet. Hier werden einige Bibeltexte als Grundlage verwendet… z.B.
2. Johannes 1:10 indem gesagt wird: „10 Wenn jemand zu euch kommt und diese Lehre nicht vertritt, dann nehmt ihn weder in euer Haus auf noch grüßt ihn. 11 Denn wer ihn grüßt, ist an seinen schlechten Taten mitschuldig“. (NWÜ)
Da ich und auch so viele andere die Glaubensgemeinschaft aus freien Stücken verlassen haben, werden wir schlimmer wie Ungläubige behandelt, nämlich als Abtrünnige und Mitarbeiter Satans. Es gibt verschiedenste Wachtturm-Artikel, die dieses Thema behandeln, und eine klare Ansage enthalten; „mit ausgeschlossenen Personen ist kein Kontakt zu pflegen; mit solchen im selben Haushalt sollte nur das Notwendigste gesprochen werden.“. Die Realität sieht leider genauso aus, bzw. auch des Öfteren schlimmer. In den meisten Fällen wird der Ausgeschlossene vor die Tür gesetzt und ich kenne dutzende Fälle, in denen Jugendliche von den Eltern aus dem Elternhaus rausgeschmissen worden sind.
Im Tagestext vom 1. Juli 2023, einer Publikation der Zeugen Jehovas, wurde folgendes auszugsweise geschrieben: „Dadurch, dass du die Entscheidung der Ältesten unterstützt, kannst du deinem Familien­angehörigen im Endeffekt sogar helfen, zu Jehova zurückzukehren. „Mit unserem erwachsenen Sohn keinen Umgang mehr zu haben, war extrem schwer“, sagt Elizabeth. „Doch nachdem er zu Jehova zurückgekehrt war, gab er zu, dass er es verdient hatte, ausgeschlossen zu werden“. Wie hier zu erkennen ist, haben Eltern den Kontakt zu ihrem ausgeschlossenen Sohn abgebrochen. Dieser kehrte nach einiger Zeit zur Glaubensgemeinschaft zurück, wobei ich nicht denke, dass dies aus den Gründen geschah, die hier erwähnt worden sind. Vielmehr stand diese Person sicherlich unter einer ungeheuer psychischen Belastung, nachdem er alles verloren hatte, was ihm lieb war (Eltern, Familie, Freunde, etc.).
Aber die Führung der Organisation der Zeugen Jehovas geht noch einen Schritt weiter! Beim Bezirkskongress 2019 wurden in einem Vortrag von Nathaniel Ali, einem Mitglied der Bethelfamilie, die Abtrünnigen (Ausgeschlossenen) als Ungeziefer bezeichnet. Diese Art von Entmenschlichung wurde unter anderem auch in Nazi Deutschland mit den Juden vorgenommen. Durch diese Entmenschlichung wird das Individuum nicht mehr als Mensch wahrgenommen und somit auch nicht als menschenwürdig behandelt.
Ich kann mich noch an eine Begebenheit erinnern, in der ich meine Kinder auf der Straße getroffen hatte. Dabei war eine Zeugin Jehovas, mit der ich noch vor meinem Ausschluss ein sehr gutes Verhältnis hatte. Ich habe meine Kinder begrüßt, umarmt und mit Ihnen ungefähr fünf Minuten gesprochen. In dieser ganzen Zeit hat mich diese „ehemalige Freundin“ nicht eines Blickes gewürdigt, mich nicht begrüßt oder ein Wort mit mir gewechselt“.
Diese Religion zerstört nicht nur Familien und Freundschaften, sondern richtet massiven psychologischen Schaden bei allen Beteiligten an.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Heute geht es mir sehr gut und ich bereue meine Entscheidung auf keine Weise. Ganz im Gegenteil, mein Leben hat sich sehr zum Positiven verändert und ich habe jetzt endlich Menschen in meinem Leben, die nicht nur aufgrund meiner religiösen Zugehörigkeit an meiner Seite sind, sondern weil ich ihnen als Mensch wichtig bin. Klar hatte ich nach dem Ausstieg mit den typischen Folgen zu kämpfen gehabt… Einsamkeit, Retter-Syndrom, Zorn gegenüber der Religion und den Menschen, etc. Aber ich habe mich sehr mit mir selbst beschäftigt, auch professionelle Unterstützung gesucht und mir alles von der Seele geschrieben. Ich habe zum Glück mit keinen Ängsten oder sonstigen psychologischen Problemen zu kämpfen, was aber vielleicht auch daran liegen mag, dass ich nicht als Zeuge Jehovas aufgewachsen bin.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Ehrlich gesagt denke ich eigentlich kaum mehr über meine persönliche Zeit bei den Zeugen Jehovas nach. Ich nehme diese Zeit als eine Erfahrung und ich bin auch deswegen bei diesen und ähnlichen Themen sehr sensibilisiert. Ich sehe meine Vergangenheit auch als eine besondere Erfahrung, die viele Menschen nicht gemacht haben. Deswegen stehe ich auch immer bei solchen Themen zur Verfügung und versuche anderen Menschen beizustehen.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Neugier ist der Katze Tod… in diesem Fall, der Tod von jw.org.
Egal ob man sich in einem Bibelstudium befindet, kurz vor der Taufe steht oder schon ein Zeuge Jehovas ist, sobald man die Vergangenheit, die Lehren und die „Wahrheiten“ der Organisation einmal wirklich untersucht und man sich traut über den Tellerrand hinauszublicken, dann wird einem bewusst, dass es sich auch hier nur um eine weitere „High Control Group“ handelt. Die Organisation möchte mit allen Mitteln verhindern, dass Mitglieder und Sympathisanten selbst zu denken beginnen und Informationen in der „bösen Welt“ suchen.
Es ist wie im Film „Die Matrix“…
„Das ist deine letzte Chance. Danach gibt es kein Zurück. Nimm die blaue Pille!“ Die Geschichte endet: du wachst in deinem Bett auf und glaubst, was du auch immer glauben willst.
„Nimm die rote Pille: Du bleibst hier im Wunderland und ich werde dir zeigen, wie tief das Kaninchenloch reicht.“

Eine große Hilfe mag vielleicht auch die Netflix Doku „Explained – Cults“ sein, die auch mir die Augen geöffnet hat.