ÜberLebensweg – Marco aus NRW

Marco
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Meine Eltern haben sich vor meiner Geburt den Zeugen Jehovas angeschlossen und so wurde ich in die Gemeinschaft hineingeboren.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Da ich von meiner Geburt an ein Teil der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas war und daher keine andere Weltanschauung kannte, stand es für mich außer Frage, dass ich in der wahren Religion bin. Daher war es für mich auch selbstverständlich mich taufen zu lassen und nach den strengen Regeln der Gemeinschaft zu leben, wozu z.B. zählte keine Geburtstage und kein Weihnachten zu feiern und keinen Sex vor der Ehe zu haben.

Meinem Glauben nach lebte ich in einer Welt, die permanent unter dem bösen Einfluss von Satan stand, der alles daransetzte, mich aus der wahren Religion zu ziehen. Außerdem wurde immer wieder betont, dass man keinen engen Kontakt zu Menschen haben sollte, die selbst keine Zeugen Jehovas waren, da sie sonst den eigenen Glauben abschwächen und einen zum Sündigen verleiten könnten, zudem wurden Menschen außerhalb der Gemeinschaft oft als sehr egoistisch und pauschal schlecht diffamiert.

Andererseits war ich aber ein Teil dieser bösen Welt, in der ich meinen Alltag erlebte. Ich ging zur Schule, schloss eine Berufsausbildung ab, fuhr mit Freunden aus der Gemeinde in den Urlaub und hatte Freude an Filmen und Musik, die von Menschen gemacht wurde, die keine Zeugen Jehovas waren. All das war einerseits für mich Alltag und Normalität, andererseits fühlte ich mich aufgrund meines Glaubens innerlich irgendwie abgesondert und entfremdet von meiner Umgebung. Trotz dieser Gefühle war da das Bedürfnis vor meinen Mitschülern, Arbeitskollegen oder allgemein vor nichtgläubigen Mitmenschen mit meiner Weltanschauung nicht völlig sonderbar und entrückt zu wirken. Darum stellte ich Zeugen Jehovas oft als eine weltoffene Religionsgemeinschaft dar und versuchte so zu wirken, als würde ich ein ganz normales Leben führen, was natürlich nicht stimmte, denn in meiner Freizeit las ich in der Bibel, betete, besuchte regelmäßig die Gemeindetreffen, befolgte das absurde Regelwerk der Gemeinschaft und ging missionieren, um die Menschen vor Harmagedon zu warnen.

Mich einerseits, aufgrund meiner Religion, isoliert und abgesondert zu fühlen, aber andererseits das Bedürfnis zu verspüren völlig normal wirken zu wollen führte schon sehr früh in meinem Leben zu diffusen, inneren Zwiespälten, die mich sehr stark belasteten, über die ich aber mit niemandem wirklich sprach.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Ein ausschlaggebendes Ereignis gab es nicht, es war vielmehr eine Verkettung von immer stärker werdenden Zweifeln und einem inneren Widerstand, der mich irgendwann dazu brachte mich von den Zeugen Jehovas zu distanzieren.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Wie stark die Indoktrinationen bei mir wirkten, habe ich schon unter Punkt 2 beschrieben. Trotz dieses Umstandes begann ich bereits im Alter von 17 Jahren damit, meine Überzeugungen insgeheim in Frage zu stellen. Z.B. wirkten die Inhalte des sogenannten „Offenbarungsbuchs“ (Ein Buch von Zeugen Jehovas, in dem die Offenbarung interpretiert wird) auf mich teilweise sehr an den Haaren herbeigezogen. Auch die Lehre über einen „Treuen und verständigen Sklaven“ war mir irgendwie suspekt. Zudem verstand ich nicht, warum man abtrünnige Zeugen Jehovas meiden sollte und sich nicht mit ihrer Kritik auseinandersetzen durfte. Wenn Zeugen Jehovas im Besitz der Wahrheit waren, dann brauchte man doch schließlich vor ihren Argumenten keine Angst zu haben.

Dass ich diese Skepsis verspürte und auf viele meiner Fragen keine zufriedenstellenden Antworten bekam belastete mich sehr, schließlich war ich doch in der wahren Religion und Wahrheit sollte doch eigentlich über jeden Zweifel erhaben sein. Zudem schlich sich der Gedanke ein, dass vielleicht, aufgrund meines kritischen Denkens, etwas mit mir nicht stimmen könnte. Ich versuchte meine Zweifel auszuräumen, indem ich betete und viel in der Literatur von Zeugen Jehovas recherchierte, aber auch andere Quellen zur Rate zog, was jedoch erfolglos blieb. Mit den Jahren kamen immer mehr Zweifel und Skepsis hinzu, sodass ich irgendwann nicht mehr mit einem guten Gewissen missionieren gehen und die Gemeindetreffen besuchen konnte. Darum beschloss ich mich von den Zeugen Jehovas zu distanzieren und mir ein Leben außerhalb der Gemeinde aufzubauen, ich war damals 24 Jahre alt.

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ja, ich bin von Ächtung betroffen. Trotz meiner Distanzierung von den Zeugen Jehovas stand ich dennoch in einem, den Umständen entsprechend, herzlichen Kontakt mit meiner Familie, auch wenn meine Entscheidung sie zutiefst traurig machte und sie mich immer wieder versuchten in die Gemeinschaft zurückzuziehen.

Einige Jahre nach meiner Distanzierung begann ich damit, aufgrund von emotionalen Problemen, meine Vergangenheit aufzuarbeiten. Dadurch kam ich nach und nach zu der Ansicht, dass Zeugen Jehovas keine harmlose, christliche Religionsgemeinschaft, sondern vielmehr eine destruktive, manipulative Sekte sind, deren Indoktrinationen bei mir großen seelischen Schaden angerichtet haben. Diese Erkenntnis und einige andere Umstände brachten mich dazu offiziell auszusteigen, was ich durch einen kurzen Brief an die Gemeinde tat. Aufgrund meines nun offiziellen Ausstiegs und dem damit verbundenen Status eines „Abtrünnigen“ brachen meine Eltern, sowie meine Schwester, konform zu den Regeln der Sekte, den Kontakt zu mir ab, was für mich zutiefst schmerzhaft, aber auf eine traurige Weise auch befreiend war, denn sie hätten immer wieder versucht mich zurück in die Sekte zu ziehen.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Das Leben bei den Zeugen Jehovas hat mich stark geprägt. Die freie Entfaltung meiner Persönlichkeit, meine Sexualität, mein Denken und meine Gefühle wurden 24 Jahre lang durch die Ideologien der Zeugen Jehovas massiv unterdrückt. Die für Sekten typische Unterteilung zwischen Gut und Böse, schlecht und gut, der ich durch die Indoktrinationen der Zeugen Jehovas über eine so lange Zeit ausgesetzt war, hat meine Art zu denken und zu fühlen stark deformiert. Des Weiteren tragen die inneren, diffusen Zwiespälte, die mich über so viele Jahre permanent begleiteten und die vielen Zweifel, die ich ständig unterdrückte, heute in meinem Leben zu seelischen Problemen bei, die ich zurzeit in Form einer Psychotherapie aufarbeite.

Auch wenn das bisher ein sehr steiniger Weg war und es vermutlich noch lange Zeit bleiben wird, bin ich dabei mir all die Dinge, die durch die Zeugen Jehovas so massiv unterdrückt wurden Stück für Stück zurückzuerobern und mir neue Perspektiven auf das Leben zu erschließen. Ich habe ein Studium begonnen, bemühe mich in meiner Freizeit Dinge zu tun die zu meiner Persönlichkeit passen, mache neue Erfahrungen und lerne mich selbst dabei immer besser kennen, das fühlt sich einfach sehr gesund und gut an.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Wie ich schon erwähnte, hat mich die Zeit bei den Zeugen Jehova stark geprägt und mich zu dem Menschen gemacht der ich heute bin. Darum versuche ich den großen seelischen Schaden, den diese Sekte bei mir verursacht hat als ein Teil von mir anzunehmen, auch wenn das nicht immer einfach ist.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

In meinem Studium habe ich gelernt, dass eine wissenschaftliche Theorie nur dann Bestand hat, wenn man sie immer und immer wieder hinterfragt, mit der Absicht sie zu widerlegen und nicht um sie zu bestätigen. Wenn du Mitglied bist oder Interessierter oder Interessierte und Zweifel an bestimmten Lehren der Zeugen Jehovas hast, dann lasse sie zu, denn Zweifeln, Kritisieren und Hinterfragen muss erlaubt sein und trägt im Falle von wissenschaftlichen Theorien sogar zum Fortschritt bei.

Ganz wichtig ist auch, dass du dir Hilfe suchen darfst, um mit anderen über deine Gedanken zu sprechen, z.B. psychologische Hilfe oder hier bei JZ.help, du bist nicht alleine!