ÜberLebensweg – Marcel aus Oldenburg

Marcel
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Ich bin reingeboren.
Mein Vater hat die Zeugen Jehovas durch meine Mama kennengelernt, die ebenso reingeboren wurde. Als Scheidungskind habe ich bei meinem Vater hauptsächlich schon vor der Schulzeit gelebt. Meine Mama hat sich von der Bewegung bereits zu meinem Schulbeginn getrennt.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Ich habe mein Leben immer abgespalten und von mir defragmentiert erlebt. Damit meine ich, dass ich gefühlt hatte, ich bin nicht bei mir, sondern lebe in einer Rolle unter einer Maske und mir wurde es nicht erlaubt zu sein und zu zeigen, wer ich wirklich bin. Nicht nur die Schule, die schon voller Regeln, Gesetze und mit einem Leistungsdruck verbunden war. Zusätzlich die ZJ-Aktivitäten, für die ich keine Lust oder Motivation, geschweige denn daran geglaubt hatte. Ich habe nie daran geglaubt.
Die Aktivitäten hatten mich damals schon so müde und kaputt gemacht und ich habe mir in meinen Gedanken immer gewünscht, bei meiner Mama zu leben.
Ich war im ständigen Widerstand. Ich hatte ständig Angst, in der Familie nicht aufzufliegen. Dass ich homosexuell bin. Nicht gegen Regeln zu verstoßen, die erwartete Performance nicht schwächeln zu lassen usw….
Oft ging es auch ziemlich aggressiv in der Kommunikation zu, weil irgendeine Erwartung nicht erfüllt wurde.

Der Alltag war anstrengend und ermüdend.
Als kleines Kind habe ich Alpträume gehabt. Jeden Tag Tagestext – furchtbar. Ich habe irgendwann die Texte in den Publikationen nur noch farblich markiert und Schlagworte gelesen, damit ich grob wusste, worum es ging. Ich habe keine Freundschaften innerhalb der ZJ geschlossen, sondern gemieden.
Auch der Predigtdienst war mir im höchsten Maße peinlich und ich hatte es gehasst. Mein Zwillingsbruder und ich haben es uns dann irgendwann zur Aufgabe gemacht, samstags in den Stadtdienst zu gehen, um Menschen auf der Straße anzusprechen. Die Zeitschriften haben wir dann irgendwo in den Müll geschmissen und immer genüsslich beim Bäcker gefrühstückt. Oder wir haben von Haus zu Haus mal bei vertrauenswürdigen Hausbewohnern gefragt, ob sie unsere Zeitschriften in ihren Müll tun können. Dann haben wir in der Karte bei den einzelnen Hausnummern einfach irgendwas aufgeschrieben. Hatte uns nicht interessiert. Wir haben aus Verzweiflung versucht, das Beste aus der Situation zu machen.

Irgendwann war es aber so schlimm für mich, dass ich in der Metal-Szene aggressiven Anschluss fand, natürlich in der Form eines Doppellebens. Metal-Konzerte, Kneipenbesuche, Betrunkensein war mein Wochenendprogramm. Alles perfekt heimlich organisiert. Mein Vater hatte nie verstanden, warum ich plötzlich immer nur schwarz gekleidet war.

Schule war blöd, da ich immer vom Religionsunterricht befreit wurde und das sorgte natürlich für Fragen. Ich musste Dinge erklären, hinter denen ich selbst nicht stand. Ich habe mich somit selbst verraten und das hat mir keine Freude bereitet.
Ich durfte nach langem Überlegen dann doch in die Schulband und argumentierte, dass es das Gitarrespielen trainiert und ich dann deshalb auch bald im Versammlungsorchester mitspielen kann.

Mein Vater wollte auch, dass ich in der Schule Referate über ZJ halte. Da ist mir richtig schlecht geworden.

Am meisten zu kämpfen hatte ich jedoch damit, dass ich nicht ich selbst sein durfte. Dass es Liebe nur durch Leistung gab und ich mich sogar eine Zeit lang selbst nicht mochte. Nur weil ich glaubte, Homosexualität sei nicht normal und eine Sünde. Die Angst war das Grundrauschgefühl durch die ganze Jugendzeit hinweg, die mich geprägt hat.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Gab es ein ausschlaggebendes Ereignis?

Eines Tages war die Kombination von fehlender Überzeugung und Widerstand so sehr ausgeprägt, dass ich mich mit ca. 16 Jahren vor meinen Vater stellte und sagte: „Ab sofort bin ich kein aktives getauftes Mitglied mehr und werde keinerlei Aktivitäten ausführen.“
Da fing die Ächtung im Elternhaus an. Seitdem wurde ich von meinem Vater und seiner Frau fast nur noch so angeschaut, als wäre ich ein Insekt – nichts wert. [Zeugen Jehovas bezeichnen Aussteiger als tollwütig und geistig krank – Vergleich mit Ungeziefer. Siehe Artikel -> hier! – Anm. JZ Help e.V.]

Ich habe ständig Nebenjobs gemacht, um nicht zuhause sein zu müssen. Schulleistungen ließen nach. Es gab eines Tages für mich nur noch die Musik, meine Gitarre, Alkohol, Kneipe und Metal-Konzerte.
Ich durfte auf ZJ-Partys zuhause nicht teilnehmen und musste weg oder im Zimmer sein.

Hier das ausschlaggebende Ereignis:
Ich war endlich volljährig. Auto war gepackt. Mein Vater stellte mich zur Rede. Geplant war, einfach zu verschwinden. Er kam früher von der Arbeit nach Hause.
Es folgte die Erklärung.
Dann mein Outing.
Mental verglichen wie ein Krieg. Es hat nicht mehr viel zur körperlichen Gewalt gefehlt.
Ich fragte meinen Vater, ob er mich sterben lassen würde, bräuchte ich eine Bluttransfusion. Fest und entschlossen sagte er: „JA!“
Die Antwort war ausschlaggebend und mein persönliches emotionales Trauma schlechthin.
Seinen schreienden Satz, ich würde unter der Brücke landen und aus mir würde nichts werden, wenn ich sie nun verließe, höre ich heute noch.

Ich habe die Schule nachgeholt, bin im Bereich Wirtschaft gelandet, habe eine Karriere begonnen. Ich mutierte zum Perfektionisten.
Die neue Familie hat mir ganz neue Lebensperspektiven gezeigt. Aber die Wunden haben mich mein ganzes Leben lang begleitet und tun es bis heute.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Ich habe sehr früh angefangen zu zweifeln. Schon mit 10 Jahren.
Die Geschichten waren zu krass. So, wie die Geschichten aus der Bibel ausgelegt wurden, ergaben die Schlussfolgerungen und die damit verbundenen Regeln für mich keine Logik. Warum z.B. kein Geburtstag gefeiert werden darf usw.

Ich fragte irgendwann provokant: Wenn heute ein Weltlicher einen Menschen mit einer Gabel töten würde, dürfen wir dann ab sofort nicht mehr mit einer Gabel essen, weil ein Weltlicher die Gabel dafür verwendet hat? Ich habe meinem Vater (Ältester) irgendwie versucht klarzumachen, dass das deren Interpretationslogik wäre.

So richtig zweifeln ließ mich aber, dass Menschen bei fehlender Bluttransfusion sterben gelassen werden, dass Menschen sich nicht entfalten dürfen und keine eigene Meinung haben dürfen. Nur was in den Publikationen steht ist Gesetz. Dass Menschen diskriminiert werden und hauptsächlich mit – meiner Meinung nach – Angst gespielt und kontrolliert wird.
Für mich war klar, das ist hier alles Gehirnwäsche. Ich möchte kein Zombie sein.

Die Versammlungszeiten waren besonders komisch. Dieses künstliche „Wir haben uns lieb“ habe ich nie für voll genommen. Das war für mich einfach nicht authentisch. Wie ein Theaterstück, das immer wieder gespielt wird.
Ich habe schon immer gespürt, dass ZJ irgendwie fremdgesteuert werden. Wie programmierte Roboter, die nur ein bestimmtes Template befolgen und keine Seele haben.
So wollte ich nicht sein. NIEMALS.

Zusätzlich habe ich auch körperliche Gewalt gesehen. Ich habe noch eine Situation klar im Kopf, als mein Onkel von meinem Opa am Küchentisch verprügelt und geschlagen wurde und mein Vater saß daneben und hat nichts unternommen. Das gab mir das Signal, mein Vater könne es ja auch tun, also muss ich gehorchen.

Ich wusste, das ist alles nicht richtig. Das ist Kindesmissbrauch.

Nicht zu vergessen, ich wurde so lange bearbeitet, bis ich selbst den Kontakt zu meiner Mama in meiner Jugend von mir aus abbrach. Als meine Mama am Telefon weinend fragte warum, antwortete ich, dass sie ein schlechter Umgang und weltlich sei und das ist nicht gut für mich wegen negativem Einfluss und das möchte Jehova nicht.

5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ja bin ich. Auch, wenn ich gebrochen hatte, versuchte ich im Nachhinein den Kontakt wieder herzustellen mit dem Wunsch, jeder respektiere sich. Man hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich nun ausgeschlossen bin.
Ich habe jedoch wieder Kontakt zu meinen Geschwistern. Wie sind alle nicht mehr bei den ZJ. Und ich habe freudigerweise wieder den Kontakt zu meiner Mama seit ich volljährig geworden bin.

b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?

Ich glaube, sie ächten durch die Anordnung, aber auch aus persönlicher Überzeugung. Jeder ausgeschlossene Mensch ist eine Gefahr, schlechter Einfluss. Ich glaube aber auch, dass wenige es nicht gern tun, aber sie sich einreden, es ist das Beste und auch Jehovas Wille.
Hauptsächlich glaube ich aber, dass sie wie von oben programmiert entscheiden.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Mir geht es heute viel besser als damals, aber fange jetzt erst mit 35 Jahren an, in Form einer buddhistischen Therapie aufzuarbeiten. Da geht es hauptsächlich darum, bewusst im Hier und Jetzt – im Leben zu sein.

Dennoch sind Ängste meine Tagesbegleiter. Mein Perfektionismus strengt mich zu sehr an. Ich habe auch posttraumatische Störungen. Das Schlimmste ist, ich wusste das nicht wirklich.
Ich wusste nur, dass ich mich in bestimmten heutigen Situationen unwohl fühle und Angst spüre, habe es aber nicht mit der Vergangenheit gekoppelt.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Ich ziehe daraus, wie gefährlich die Vorgehensweisen und Machenschaften dieser Gemeinschaft sind. Ich finde, sie tasten die Würde des Menschen an. Die Folgen sind auch für das eigene Bewusstsein verheerend.

Ich bin happy, da nicht mehr Mitglied zu sein.
Ich war während der Zeit dort im ständigen Überlebensmodus und auf Hochspannung.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Seid kritisch!
Denkt logisch!
Lasst euch nicht vom Love-Bombing emotional beeinflussen – das ist nur eine Methode.
Und bitte, lasst euch nicht täuschen. Es ist eine Gemeinschaft mit System.

Fragt euch:

Wollt ihr, dass eure Handlungen kontrolliert werden?
Wollt ihr, dass euer Bewusstsein kontrolliert wird?
Wollt ihr, dass ihr eurer freien, eigenen Meinung beraubt werdet?
Wollt ihr euch im Kopf strukturieren lassen?
Wollt ihr sozial isoliert sein?
Wollt ihr, dass mit eurer Angst gespielt wird?
Wollt ihr, dass ihr diskriminiert werdet?