ÜberLebensweg – Gabi

Gabi

ACHTUNG – TRIGGERWARNUNG!
Gabis ÜberLebensweg handelt von Gewalt, sexualisierter Gewalt, psychischen Belastungen und Suizidversuch.
Sollte es dir nicht gut gehen, lies die folgenden Zeilen bitte nicht, oder zumindest nicht allein.

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Danke Gabi, dass du dein Erlebtes mit uns teilst!
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1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Ich wuchs streng römisch-katholisch auf. Sonntäglicher Gottesdienst war Pflicht, wie auch der Kirchenchor, Feiertage mit der Verwandtschaft etc.

Als ich in den Kindergarten ging, hatte meine Mutter bereits Kontakt mit Zeugen Jehovas, welche dann regelmäßig zum „Bibelstudium“ kamen. Meistens Sonntag, dass wir nicht mehr in die Kirche gehen konnten – der erste große Umbruch für mich.
Mit uns Kindern wurde im „Mein Buch mit biblischen Geschichten“-Buch gelesen und die Erwachsenen unterhielten sich anhand des „Paradies-Buches“.

Ich schulte ein und meine Mutter fing an, den Weg der ZJ ernster zu nehmen. Mein Stiefvater und vier meiner Stiefbrüder hatten sich bereits abgewandt. Im Laufe der Zeit wurde mein Stiefvater – gewalttätig und Alkoholiker – gegnerisch. Er schlug meine Mutter nach den Zusammenkunftsbesuchen, sperrte uns aus. Aber wegen uns leiblichen Kindern unserer Mutter machte er dann doch wieder auf. Aber meine Mutter steckte böse Konsequenzen ein.

Ich vermisste meinen alten Glauben, die Feste, die Verwandten etc. Aber ich hielt meiner Mutter die Treue. Nur konnte ich die Erstkommunion noch durchsetzen. Mit dem Versprechen, mich dann von Satan loszusagen, Babylon die Große zu verlassen und mit Jehova zu gehen.
Gesagt – getan.

Denn ich habe die Bibelstelle verstanden, dass die gegnerische Haltung meines Stiefvaters bestätigt, dass wir die Wahrheit gefunden haben und Verfolgung innerhalb der Familie beginnt.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Am meisten hatte ich damit zu kämpfen, dass ich keine Freunde hatte. Selbst in der Versammlung unter Gleichaltrigen gab es keinen Anschluss. In der bösen, dämonischen Welt hatte ich Angst Kontakte zu suchen, zu halten oder zu pflegen. „Schlechter Umgang verdirbt nützliche Gewohnheiten“. Und da ich sowieso nie gut genug war in den Augen meiner Mutter, meine tiefste Prägung, sah ich mich selbst als schlechten Umgang und wollte in der Versammlung niemanden zum Straucheln bringen.

Meine Mutter las morgens den Tagestext mit uns und betete. Vor dem Essen beten war Pflicht. Stoßgebete wurden nur unter dem Beisatz „Durch Jesus Christus – Amen“ erhört. Gott war mir fremd – ich lernte meiner Mutter zu gehorchen, aber liebte Jehova nicht, weil ich ihn nie als liebevoll, oder mich als wertvoll erlebte. Mein Gott war meine Mutter. Diese folgte Jehova, also ich auch.

Auch beschäftigte mich damals schon der Umgang mit Ausgeschlossenen. Als Kind bereits stellte ich dies in Frage. Kannte aber die Erziehungsmethode Liebesentzug bereits aus meiner Heimatfamilie, deswegen war es zumindest emotional nachvollziehbar, dass es so etwas gibt, dass es wirkt und man darum wieder zurückkehrt. Aber mehr noch fühlte ich mit den Ausgeschlossenen. Die meisten habe ich auch nicht ignoriert, sondern mich mit ihnen normal unterhalten. Dies brachte mir ein Komitee ein, mit bereits 14 Jahren, vor meiner Taufe.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

2003 heiratete ich einen „Bruder“. Ich wollte die Hochzeit absagen, da ich ernsthafte Zweifel hatte, wurde allerdings derart unter Druck gesetzt und genötigt, dass ich am Ende Ja sagte.
Die Scheidung reichte ich 2006 ein, nachdem ich nach einem Übergriff, der kein Einzelfall war, schwanger wurde. Mein Mann war sexuell und körperlich mir gegenüber übergriffig. Er war pornosüchtig und hatte mit Kinderpornografie zu tun. Ich musste mich und meine Tochter in Schutz nehmen.
Älteste und der Kreisaufseher luden uns vor. Sie drohten mir, ich war hochschwanger, wenn ich die Scheidung nicht zurückziehe, weder ich noch mein Kind Jehovas Segen und Schutz haben werden. Ich handle absolut unbiblisch und mache bewusst aus meinem Kind einen vaterlosen Knaben. Ich zog die Scheidung durch.

Der Kindsvater verlangte einen Vaterschaftstest und deformierte mich in seiner Heimatversammlung in Oberösterreich, wohin er ohne mein Wissen während aufrechter Ehe aber getrennter Haushalte zurückzog. Er hat unsere Tochter das erste Mal in ihrem Alter von 1 ½ Jahren gesehen, da ich die alleinige Obsorge hatte.

Bei der Geburt meiner Tochter sah ich mich mit der Blutfrage konfrontiert, da ich eine schwere Entbindung hatte und 2 Liter Blut verlor. Ich blieb „treu“ und habe nur knapp überlebt. Ich bekam als letztes Mittel ERYPO, da ich Blut strickt verweigerte – ein Wahnsinn rückblickend!

Meine Tochter wurde in den Zusammenkünften begrüßt, geherzt und gelobt. Ich hingegen wurde von Ältesten ignoriert und nicht einmal begrüßt oder verabschiedet. Ich ging pflichtbewusst und aus Angst, tatsächlich Jehovas Segen nicht zu haben, zu jeder Versammlung. Selbst als ich einmal „schwänzen“ wollte, saß ich am Ende in Jeans in der Zusammenkunft.

2011 hatte ich einen heftigen Burn-Out und war im Krankenhaus. Während eines Reha-Aufenthaltes in Salzburg beantragte meine Mutter hinter meinem Rücken die Obsorge über meine Tochter. Nach Lügen und Schilderung meiner Unfähigkeit auf die Bedürfnisse meines Kindes eingehen zu können, wurde mir die Obsorge entzogen, das war im Dezember 2011.

Ich war hochsuizidal und landete erneut in der Psychiatrie.

Im März 2012 wurde ich ausgeschlossen – vor meinem Suizidversuch zündete ich mir eine Zigarette an – sozusagen „Mein letzter Wille“.
Eine Art stille oder doch offene Rebellion? Ich überlebte den Versuch nur ganz knapp. Ich rauchte weiter, zumal ich mein Leben hasste, mich hasste und meine Tochter nie mehr bei mir sein wird – wie sich im Laufe der Zeit herausstellte. Denn obwohl es die Niederschrift gab, wenn es mir „gut“ gehe, meine Tochter wieder zu mir kommt. Aber meine Mutter verstand es, uns zu entfremden und nun wird meine Tochter im Juni 18 Jahre alt.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Ich war sehr stark in das Gefüge der Zeugen gebunden, ich war von dem Belohnungs-Bestrafungs-System abhängig.

Das machte mich zu einem idealen Opfer eines Ältesten, der sich an mir verging. Niemand meldete es. Ich war schuld, also sagte ich auch nichts. Hatte diese Strafe verdient. Genau dieser Älteste sagte zu mir, als ich frisch verheiratet war: „Ist es nicht schön, wenn man jetzt selbst darf?“. Ich werde diese Worte nie mehr vergessen, nachdem was er mir antat und dann mein Ehemann.

5. Bist du von Ächtung betroffen?

Ich bin maximal von Ächtung betroffen. Meine Tochter verabschiedete sich telefonisch bei mir im November 2019. Sie wolle Jehovas Weg korrekt gehen und nichts mehr mit Ausgeschlossenen zu tun haben. Das treffe nun auch mich. Im Paradies habe sie mich ja auch nicht, darum möchte sie sich jetzt schon daran gewöhnen, ohne Mama zu leben. Sie verabschiedete sich mit einem Text aus dem Hebräerbrief, dass wir diese Prüfung schon meistern werden. Ich solle mich nicht mehr melden oder schreiben etc. Sie ziehe hier und heute diesen Strich. Im Sommer darauf ließ sie sich taufen, ich habe es erst lange danach erfahren.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Ich habe immer wieder mit Ängsten des Versagens zu kämpfen. Des Unglaubens, liebenswert und geliebt zu sein. Ich schlitterte in Beziehungen mit demselben Belohnungs-und Bestrafungs-Muster. Ich ging psychisch durch die Hölle. Keine der alltäglichen körperlichen Schläge meiner Mutter taten so weh, wie diese Ächtung.

Durch jahrelange Therapie und Psychiatrieaufenthalte habe ich aber mein Leben um 180 Grad gedreht. Auch habe ich viele Aussteiger-Bücher gelesen und Berichte verfolgt. Setzte mich intensiv mit den Lehren der Zeugen auseinander und bin heute dankbarer denn je, mich mit diesem Lügengebilde nicht mehr abgeben zu müssen und nicht mehr darin zu hängen oder anhängig zu sein. Endlich befreit von der Dämonenlehre, Harmagedon und der Interpretation Hurerei, lebe ich heute glücklich mit meinem Partner zusammen – und rauche, feiere Geburtstag, Weihnachten, einfach alles je nach Lust und Laune.
Aber ich LEBE!

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Es ist bereits alles so geschehen, ich kann nichts mehr rückgängig machen oder zurücknehmen, ändern. Ich kann nur jeden Tag aufs Neue aufstehen und leben. Hätte ich früher anders handeln können, dann hätte ich es auch getan. Ich musste mir selbst so viel selbst verzeihen, um Frieden mit mir und in mir zu finden.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Bitte nehmt euch und eure Gefühle ernst. Zweifel melden sich nicht ohne Grund, sie wollen gesehen werden, angesehen werden. Das ist kein schlechtes Gewissen, sondern ein Schrei deiner Seele, dass etwas quer läuft. Keine Religion darf Familien trennen – falls dies bereits der Fall ist, sofort abbrechen. Bevor die Harmagedon- und Blutschuldlehre Wurzeln geschlagen hat.

Zeugen Jehovas glauben, die Wahrheit zu besitzen, aber dies kann jeder denkende Mensch überprüfen. Niemals das selbstständige Denken aufgeben! Die Wahrheit zu beanspruchen ist überheblich und bedeutet Gefahr. Diese Formulierung allein ist schon extremistisch – und von jeder extremistischen Gruppierung ist Abstand zu nehmen.

Der Sinn des Lebens ist es zu leben – und Zeugen Jehovas lehren genau das Gegenteil, denn dies sei laut ihnen nicht das „echte Leben“.

Eine liebe Freundin prägte den Satz: „Kann die Wahrheit wahrer werden?“ – das zum Thema helleres Licht. Und diese Frage half mir noch, selbst als ich schon ausgeschlossen war.