ÜberLebensweg – Elisa Beyer

Elisa
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Mein Vater war im Glauben der Zeugen Jehovas erzogen worden, aber zum Zeitpunkt, als er meine Mutter kennenlernte, nicht getauft. Er glaubte aber an die Lehre der Zeugen Jehovas und erzählte ihr viel davon. Da meine Mutter große Angst hatte, dass ein dritter Weltkrieg ausbräche, schenkte ihr Trost, was er ihr sagte („Gott lässt nicht zu, dass die Erde vernichtet wird“ usw.). So entschieden sich beide, an einem Bibelstudium teilzunehmen und ließen sich nach einiger Zeit taufen.
So kam es, dass ich in einer Familie aufwuchs, die zu den Zeugen Jehovas gehört.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Mein Leben war geprägt von Dingen, denen ich zu gehorchen, und auf die ich zu achten habe. Mein Vater war ein sehr strenger Mensch. Er forderte absoluten Gehorsam – auch, bzw. vor allem in Kleinigkeiten. Schnell kam es dazu, dass Ungehorsam mit körperlicher Züchtigung bestraft wurde. Das bedeutet, ins Ohr kneifen und daran ziehen, „Backpfeifen“, aber auch – und das war das erniedrigendste – die Schläge auf den nackten Po. Hierzu mussten wir ja erst mal unsere Hose und die Unterhose runter ziehen… Wenn ich heute drüber nachdenke, wird mir jedes Mal übel. Nicht nur die Strafe an sich ist grausam, sondern auch die Zeit, die es benötigt, bis das Kind seine Hose und Unterhose runtergezogen hat… Währenddessen habe ich als Erwachsener doch eigentlich Zeit darüber nachzudenken, was ich hier gerade mit meinem Kind mache… Aber so scheint es meinem Vater wohl nicht gegangen zu sein.

Als jüngeres Kind hatte ich damit zu kämpfen, stets die Anerkennung suchen zu müssen. Das heißt, ich wollte im Familienleben alles korrekt machen. Und auch für Jehova, weil ich Angst davor hatte, ihm zu missfallen. Aber ich wollte es auch meinem Vater recht machen und ein liebes Kind sein.

In der Schule möchte man als Kind natürlich auch Anerkennung der Mitschüler. Wie soll das gehen, wenn du nichts mitmachen darfst? Also habe ich mir oft Ausreden einfallen lassen. Auf die Frage „Was hast du zu Weihnachten/Ostern/zum Geburtstag bekommen?“, ließ ich mir stets die passende Antwort einfallen und erfand irgendwelche Dinge, die ich mir eh wünschte.
Als ich älter wurde versuchte ich, nachdem ich einige Freunde gefunden hatte, zu meiner Religion zu stehen. Versuchte mit „Zeugen-Jehovas-Argumenten“ meinen Glauben zu erklären und so zu tun, als mache es mir nichts aus, so vieles nicht zu dürfen. „Wir haben ja schließlich einen „Geschenketag“ – da bekomme auch ich ein Geschenk…“, sagte ich oft. Das war eine Erfindung meiner Mutter. Da durften wir uns dann einmal im Jahr etwas wünschen und bekamen es schön eingepackt an einem von meinen Eltern festgelegten Tag. Ich zählte jedes Mal die Tage und wie lange ich noch schlafen muss…

Der Predigtdienst war etwas, was mir bis zu einem gewissen Alter Spaß machte, da wir dies meist als Familie, oder meine Mutter mit mir praktizierten. Ich hatte das Gefühl, ganz exklusiv Zeit mit meinen Lieben verbringen zu dürfen. Später ging ich dann auch mit anderen Schwestern in den Predigtdienst und jedes Mal wenn ich an eine Tür kam hoffte ich, nicht eine/n Lehrer/in oder Klassenkamerad/in zu treffen. Passierte dies, dann war ich am nächsten Tag in der Schule „Mode“ … „Oh was hattest denn du für ein schönes Röckchen an?“ „War das deine Oma, mit der du unterwegs warst?“ Und so kam es, dass ich eine Zeit lang nur so tat, als würde ich klingeln, um nicht an den Türen vorsprechen zu müssen. Denn: „Wer schellt, der bellt!“, so war die Regel in unserer Versammlung. Wer also klingelt, der ist dafür verantwortlich das Gespräch zu führen.

Mit zehn Jahren ließ ich mich taufen. Ich fragte meine Eltern seit ich sechs war, wann ich mich denn nun endlich taufen lassen kann. Ich wollte dazugehören, meinen Eltern und den Zeugen Jehovas gefallen und die Aufmerksamkeit, die es mit sich bringt, wenn man schon als Kind getauft ist. Ich wollte auch meiner Freundin und ihren Brüdern, die sich alle schon sehr früh taufen ließen, um nichts nachstehen. So fing ich mit neun Jahren an, im Suche-Buch (Das ist ein Buch der Zeugen Jehovas, das sehr subjektiv die Weltreligionen vorstellt und zeigt, warum sie in den Augen Jehovas falsch sind [„Die Suche der Menschheit nach Gott“ – In diesem Buch kommt man zu dem Schluss, dass die Zeugen Jehovas die einzig wahre Religion sind. – Anm. JZ Help e.V.]) zu studieren und mich über die anderen Religionen zu informieren. Ich „erkannte“, dass die ja alle nicht das tun, was Jehova möchte – zu keinem anderen Schluss hätte ich wohl kommen können. Ich wusste, dass es falsch ist in den Augen der Jehovas Zeugen, sich über Google oder andere Medien über die Weltreligionen zu erkundigen und diese kennenzulernen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meinem Vater, in dem ich ihn fragte, ob ich nicht mal einen Gottesdienst bei den Katholiken besuchen kann, um festzustellen, ob diese Religion evtl. die Wahre ist. Da hat er zu mir gesagt, dass ich mich ja dann auch direkt an den Tisch Satans setzen kann. Und somit war das Thema für ihn erledigt.
Später als Jugendliche hatte ich stark daran zu knabbern, dass meine Mitschüler und Freunde sich nach der Schule trafen und auch am Wochenende feiern gingen, Party machten und ich kein Teil dieser Partys oder Treffen sein konnte. Ich fragte meine Eltern ein paar Mal, ob ich auch mitdürfte, aber jedes Mal kam die Antwort, dass sich das nicht schickt als vorbildliche Zeugin Jehovas und dass gerade bei diesen Treffen und Partys Satan darauf wartet, mich in die Welt zu ziehen.

Es kam die Zeit der ersten großen Liebe. Das war die Schwerste. Ich verliebte mich in einen ehemaligen Mitschüler. Er war meine erste große Liebe. Ich wusste, dass es Jehova nicht gefiel und erst recht nicht meinen Eltern, und so hielt ich es geheim. Das konnte natürlich nicht lange gut gehen, und so fanden es meine Eltern heraus. Sie verbaten mir, mich weiter mit ihm zu treffen und zeigten mir deutlich, wie enttäuscht sie darüber sind, dass ich sie anlog. Sie redeten mir auch ins Gewissen, ob mein Versprechen, das ich Jehova gegeben hätte, denn nichts wert sei und ob ich das nur so dahin gesagt habe. Mein „Ja“ soll doch ein „Ja“ bedeuten. Das hätte doch eh keine Zukunft. Er ein Weltmensch und ich eine Zeugin Jehovas. Es wurde starker Druck auf mich ausgeübt und so verließ ich ihn. Das ging jedoch nicht lange gut, denn die Gefühle waren sehr stark. So trafen wir uns bald wieder. Meiner besten Freundin erzählte ich von ihm. Sie erwies sich jedoch nicht als beste Freundin, sondern setzte mir ein Ultimatum, bis zu dem ich es den Ältesten erzählen muss. Sonst würde sie es ihrem Vater (ein Ältester) erzählen. Das Ultimatum war noch nicht verstrichen, da erzählte sie es einer Pionierschwester, welche es daraufhin direkt den Ältesten erzählte. Ich bekam einige Gespräche mit den Ältesten, die vor allem darauf hinzielten zu erfahren, ob ich mit dem jungen Mann schon Sex hatte und wie weit wir schon gegangen waren. Es wurde dann die „Lösung“ vorgeschlagen, dass er ja ein Bibelstudium beginnen könnte. Wenn er sich dann irgendwann taufen lassen würde und wir dann heiraten, dann wäre es ein Weg, dass sie mich nicht ausschließen müssen. Natürlich dürften wir uns aber bis dahin nicht weiter sehen und müssten Abstand halten – ohne Kontakt. Ich sah einen Schimmer der Hoffnung am Horizont und unterbreitete ihm die Idee. Er zögerte, aber war bereit für mich ein Studium zu beginnen. Anfangs hielten wir uns daran, uns nicht sehen zu dürfen, aber schon bald trafen wir uns wieder heimlich. Schnell merkte die Pionierschwester, die mit ihm studierte, dass er dies nur tat, um mit mir weiterhin zusammen sein zu dürfen und brach das Studium ab. Es gab daraufhin ein weiteres Gespräch mit den Ältesten, in dem mir ein Ultimatum gesetzt wurde. Ich soll mich endgültig von ihm trennen, sonst schließen sie mich aus der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas aus. Ich war noch ein Teenager und hatte solche Angst davor, nicht mehr mit meiner Familie sprechen zu dürfen und alles zu verlieren. Meine Freunde und meine Familie! Ich machte unter Tränen mit ihm Schluss und litt sehr darunter. Er auch. Im Nachhinein tut es mir so leid, was dieser tolle Mensch wegen mir und wegen den Zeugen Jehovas durchmachen musste. Ich wünschte, ich könnte es wieder gut machen…

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Die Zweifel an der „Wahrheit“ waren unterschwellig schon eine Zeit lang da. Ich war gefangen in einer gewaltvollen Ehe und keinen der Ältesten interessierte es, dass mein Mann mich schlug. Auch nicht, dass er mich einmal am Anfang unserer Ehe würgte. Es interessierte auch niemanden, dass mein Mann mich verbal jeden Tag fertig machte und somit emotionale Gewalt an mir übte. Ich hatte Angst, wenn er nach Haus kam, was ich wieder falsch gemacht haben könnte. Ich habe mich zwar in einigen Gesprächen den Ältesten anvertraut, aber außer, dass sie einmal mit ihm sprachen und „dudu“ machten geschah nichts, denn zu allen weiteren Gesprächen war er nicht bereit. Dass ich mich den Ältesten anvertraut hatte, verschlimmerte meine Situation nur noch mehr. Er fühlte sich vorgeführt und das ließ er mich spüren.

Ein weiterer Zweifel war seit meinem 16. Lebensjahr immer in mir. In dem Alter wurde ein Bruder während einer Campingtour mit anderen Zeugen Jehovas mir gegenüber sexuell übergriffig. Ich vertraute mich daraufhin meinen Eltern an. Sie gingen sofort zu den Ältesten. Mein Vater war so erbost, dass er am liebsten zu dem Bruder hingefahren wäre und ihn zur Rechenschaft gezogen hätte. Meine Mutter hielt ihn jedoch zurück und sagte. „Lass das lieber, bevor du dich unglücklich machst, die Ältesten werden es schon regeln!“ Die Ältesten riefen zu einem Rechtskommittee. Bei diesem Rechtskommittee waren ein paar Älteste, der Täter und seine Frau, sowie mein Vater und ich anwesend. Ich musste dann im Beisein aller schildern, was geschah. Es war genauso demütigend, wie die Tat an sich. Der Täter und seine Frau sagten, es müsste der Satan sein, der mich dazu bringt, so etwas zu sagen, denn dies sei so niemals passiert. Dadurch, dass er alles leugnete und es natürlich keinen weiteren Zeugen (Zwei-Zeugen-Regel) für die Tat gab, gab es auch keine Konsequenzen für den Täter. Im Gegenteil! Ich fühlte mich wie eine Lügnerin. Meine Eltern fragten die Ältesten, ob sie den Täter anzeigen können, aber die Ältesten rieten ihnen davon ab. Sie sollte sich lieber mal überlegen, welch schlechtes Licht das auf Jehova werfen würde. Also sahen meine Eltern von einer Strafanzeige ab. Dieser Umgang mit so einer Tat ließ mich stark an der Vorgehensweise der Zeugen Jehovas zweifeln.

Der ausschlaggebende Punkt in meinem Leben kam jedoch viel später. Ich wollte meinem „Bibelstudium“ erklären, was es mit dem Jahr 1914 auf sich hat und wie die Zeugen Jehovas dieses Jahr berechnen. Anhand von „Zeugen-Jehovas-Literatur“ war das auch kein Problem. Ich hatte jedoch den Anspruch, ihr dies auch anhand von historischen Fakten zu belegen. Beim Recherchieren merkte ich jedoch, dass es rein rechnerisch hier ein Problem gibt, da es bestimmte Abweichungen in den historisch belegbaren Ereignissen gibt, die für diese Berechnung relevant sind. Die Abweichungen ließen mir keine Ruhe. Wenn die Berechnung nicht stimmt, dachte ich, dann stimmen so viele andere Thesen und Glaubenslehren, die auf diese Lehre aufbauen auch nicht, und damit fällt das ganze Kartenhaus der Lehren der Zeugen Jehovas in sich zusammen. Ich fühlte mich wie gelähmt. Ich beschloss, erfahrene Älteste aus meiner Versammlung zu diesem Thema zu befragen und auch meine Mutter und meine Freundinnen. Alle ließen mich einstimmig wissen, dass ich wohl zu wenig Vertrauen in Gott hätte und fragten mich, was mich diese paar Jahre Abweichung stören. Es würde zeigen, dass ich mich auf einen abtrünnigen Weg begeben hätte und ich sollte mehr in der Bibel lesen und mehr beten und studieren. Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Meinem Bibelstudium erklärte ich, was ich herausgefunden habe, und dass ich unter diesen Umständen kein Bibelstudium mehr mit ihr führen kann, da ich selbst nicht mehr überzeugt bin, dass das alles richtig ist. Mein ganzes bisher gelebtes Leben, die ganzen Opfer, die ich bisher gebracht hatte für meinen Glauben, zerplatzen wie Seifenblasen und wurden bedeutungslos mit diesem Wissen.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?

Ich war sehr stark im Glauben verankert. Ich sage immer: Ich war eine 200-Prozentige. Ich hatte eine einzige Freundin außerhalb der Zeugen Jehovas. Ich hielt mich an alle Regeln und lebte mein Leben so gut ich konnte und mit ständiger Selbstüberprüfung, ob ich nicht noch etwas verbessern könnte.

5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ja ich bin von Ächtung betroffen. Anfangs wollten meine Mutter und mein Bruder keinen Kontakt mehr zu mir haben, es sei denn, es geht um Ihre Enkel (Nichten). Mittlerweile haben wir wieder Kontakt, aber es ist nicht mehr wie früher.

Meine Freunde haben sich alle losgesagt und mich blockiert. Und auch alle anderen Personen, die ich bei den Zeugen Jehovas kannte, meiden mich.

Es macht mich sehr traurig und ich denke, dass Personen, die kein so starkes Umfeld wie ich aktuell haben, daran zerbrechen würden.

b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?

Diese Personen ächten mich, da sie die Anweisung dazu haben. Und für sie stehen die Anweisungen über ALLEM! Es wird auf Kongressen, in Versammlungsvorträgen und in den Publikationen immer wieder indoktriniert, dass sie keinen Kontakt haben dürfen – nicht mal einen Gruß!

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Heute führe ich ein selbstbestimmtes, liebevolles Leben mit meinem Partner. Ich erfahre echte bedingungslose Liebe und habe echte Freunde gefunden. Freunde, die mich so mögen, wie ich bin.

Wenn ich die Nachrichten sehe, habe ich oft Angst. Angst, dass nun Harmagedon kommt und ich schmerzhaft vernichtet werde. Ich sage mir dann immer wieder, dass es nicht stimmt und dass ich keine Angst zu haben brauche – ich sage es mir in Gedanken immer wieder. Wie ein Mantra! Dann beruhige ich mich langsam. Auch die Gespräche mit meinem Partner helfen mir dann sehr.

Ich habe auch Angst, dass einem meiner früheren Freunde etwas passiert und ich davon nichts mitbekomme, dass vielleicht jemand von ihnen stirbt und ich nicht Abschied nehmen konnte.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Ich bin sehr traurig über die verlorenen schönen Zeiten, die es in meiner Kindheit hätte geben können. Weihnachten und alle anderen Feiertage mit der Familie. Party machen mit Freunden als Jugendliche.
Die erste große Liebe richtig ausleben. Ich habe erst jetzt gelernt, dass ein NEIN okay ist und dass ich vor allem meine Kinder zu selbstdenkenden Erwachsenen erziehen möchte, denen alle Türen offen stehen. Dass sie ein frei- und selbstbestimmtes Leben führen dürfen, ohne Angst und Zwang oder Druck.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Fasst den Mut, auch „Nicht-Zeugen-Jehovas“-Quellen zu nutzen, um zu prüfen, ob es sich bei der Lehre der Zeugen Jehovas um die Wahrheit handelt. Hört Aussteigern zu!

Mit dem Ausschluss ist nicht alles verloren, es finden sich neue Freundschaften und Kontakte, die das Leben bereichern.
Ihr seid nicht allein!