Überlebensweg einer Angehörigen – Manuela

Achtung Triggerwarnung!
Dieser Bericht behandelt das Thema Suizid.
Solltest du dich nicht in der Lage sehen, dich mit diesen Zeilen zu konfrontieren, so tu das bitte nicht!

Hast du Suizidgedanken?
Hier findest du Hilfe: 0800 1110111


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Manuela berichtet von ihrem Erleben als Partnerin eines Zeugen Jehovas
1. Welche Person/en in deinem Umfeld/Familie ist/war Mitglied der Zeugen Jehovas?

Meine Eltern und meine Nichte sind immer noch in der Glaubensgemeinschaft und haben den Kontakt zu mir komplett abgebrochen. Meine Schwester, die bereits verstorben ist, war bis zu ihrem Tod eine aktive Zeugin Jehovas. Mein Neffe und ein Schwager haben die Gemeinschaft verlassen.
Die ganze Familie meines verstorbenen Mannes ist bei den Zeugen Jehovas. Zu ihnen habe ich aus diversen Gründen keinen Kontakt mehr.

2. Wie kam es, dass diese Person Zeuge Jehovas wurde?

Mein Mann war hineingeboren und ich bin im Alter von 10 Jahren von meinen Eltern mit zur Versammlung genommen worden.

3. Welche Auswirkungen auf dein/euer Leben oder Alltag hat die Tatsache, dass er/sie Teil der Zeugen Jehovas ist/war?

Unser Leben hat sich ausschließlich um die „Wahrheit“ und die Anbetung gedreht. Wir waren regelmäßig als Hilfspioniere tätig und verbrachten mehrere Monate als HiPis (HiPi = Hilfspioniere, Anm. jz.help) im Ausland in einem Hilfenotgebiet. Der ständige Druck und die Erwartungshaltung, uns auf alle Zusammenkünfte vorzubereiten und zu besuchen, hat uns zugesetzt. Oft kamen wir nicht ermuntert nach Hause. Das negative Gerede der anderen und die schlechte Stimmung waren für mich schlimm. Ich wurde nicht gemobbt, doch in der Versammlung wurde viel gelästert, was mich massiv gestört hat.

4. Wie stark ist oder war er/sie im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?

Wir waren damals beide aktive ZJ.
Allerdings bekamen wir immer mehr Zweifel und haben angefangen, vieles zu hinterfragen. Daraufhin haben wir den Glauben an die WTG verloren. Durch die Ächtung, die ein Ausschluss mit sich bringen würde, haben wir es nicht geschafft, die Organisation zu verlassen. Wir hätten unsere Familien und Freunde verloren, da sie zu uns den Kontakt abgebrochen hätten. Die Eltern wären sehr enttäuscht gewesen und hätten Druck aufgebaut und versucht uns umzustimmen, damit wir in der Versammlung bleiben und weiterhin den Glauben ausüben.
In der Gemeinschaft war es uns nicht erlaubt, etwas zu hinterfragen oder anders zu sehen, man wird sofort als abtrünnig abgestempelt und das zieht ebenfalls einen Ausschluss nach sich. Wir hatten keine Freunde außerhalb der Gemeinschaft, deshalb haben wir es nicht geschafft, den ZJ den Rücken zu kehren.

5. Hat deine nahestehende Person durch Zugehörigkeit der Glaubensgemeinschaft eigene Verhaltensmuster geändert?

Ja, sehr. Mein Mann wurde immer depressiver. Er kam mit dem Zustand nicht klar, dass er nicht mehr hinter der Organisation stehen und nicht ohne schwere Konsequenzen die Gemeinschaft verlassen konnte. Das baute enormen Druck und seelischen Schmerz auf.
Er sah als einzigen Ausweg nur den Suizid.

3. Ist er/sie nach wie vor Teil der Glaubensgemeinschaft, oder bereits ausgestiegen?

Wir beide zweifelten schon länger an den Lehren der Wachtturm-Gesellschaft.
Mein Mann hat sich als aktiver ZJ im September 2018 vor meinen Augen das Leben genommen. Bei den ZJ sagte man, dass der Betroffene sich die Wiederauferstehungshoffnung verspielt hat, da er sein Leben nicht schätzt und es achtlos wegwirft.
Ich selbst habe im April 2021 die Gemeinschaft verlassen. Ich habe viel gebetet und meine Gebete wurden alle erhört. Allerdings anders als erwartet. Im Sportverein habe ich einige Freunde gefunden. Als ich gebetet habe, dass ich für Gartenarbeiten Hilfe brauche, wurde mir von anderen Sportkollegen, ohne dass ich darum fragen musste, Hilfe angeboten, um die ich gebeten habe. Das war für mich ein klares Zeichen, dass Gott meine Gebete erhört, aber nicht seine angeblichen Diener nutzt, um mir zu helfen.
Darüber habe ich lange nachgedacht. Durch diverse widersprüchliche Verhaltensweisen und Lehren und durch meine persönlichen Erfahrungen kam ich zu dem Schluss, dass die Wachtturm-Gesellschaft nicht von Gott geleitet und gesegnet ist.
All die Erfahrungen haben mir vor Augen geführt, dass ich kein Mitglied der ZJ mehr sie wollte und habe in Kauf genommen, dass alle Verwandten und Bekannten mich verachten und den Kontakt zu mir abbrechen werden.

6. Wie geht es dir damit? Mit welchen Auswirkungen hast du persönlich zu kämpfen?

An der Zerrissenheit sowie den Depressionen meines Mannes wäre ich fast zerbrochen. Sein Todestag war für mich ein purer Alptraum. All die Wochen zuvor habe ich versucht ihm vor Augen zu führen, dass sich seine Lebensqualität steigert, wenn er sich endlich helfen lässt. Aber all mein Reden und Bitten waren erfolglos. Er hatte nicht die Kraft und das Rückgrat, zu sich und seinen Werten zu stehen und seinen eigenen Weg zu gehen. Schließlich hat er sich das Leben genommen. Ich musste dabei zusehen und konnte nicht fassen, dass er sich das Leben genommen hat, weil er die Kraft nicht aufbringen konnte, sein Leben so zu leben, wie er es sich immer erträumt hat.
Bei den Terminen des Facharztes, die er wahrgenommen hatte, war er nie aufrichtig und ehrlich und hat seine Selbstmordwünsche gegenüber dem behandelnden Arzt nie erwähnt.
Außerdem wurde mir von meinem Mann verboten, über seinen Zustand überhaupt zu reden. Sollte ich dennoch mit jemanden reden, würde er alles abstreiten und ich stünde als Lügnerin da.
Mein Mann bat mich, die Tatsache, dass er einfach nicht mehr leben möchte, zu akzeptieren und flehte mich inständig an, seine Einstellung für mich zu behalten.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich dieser Situation?

Die ersten Monate waren für mich sehr hart. Alpträume haben mich verfolgt und es war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen.
Mit der Zeit durfte ich all das Erlebte professionell verarbeiten und habe so den Mut erlangt, die WTG zu verlassen und meinen eigenen Weg zu gehen. Auch wenn mein Leben alles andere als einfach war, und ich durch den Ausschluss meine Familie und alle sogenannten Freunde verloren habe, kann ich heute sagen, dass ich glücklich bin in meinem Leben. Zusammen mit meinem jetzigen Partner darf ich viel Schönes erleben. Heute bin ich zufrieden und glücklich.

8. Was kannst du jemandem mitgeben, der sich in einer ähnlichen Situation wie du befindet?

Ich kann jedem nur empfehlen, mit betroffenen Personen (egal ob depressive Menschen oder Hinterbliebene) zu sprechen und ihnen verschiedene Wege vor Augen führen, die man zur Auswahl hat. Viele Personen, die sich von den ZJ zurückgezogen haben oder gar den Austritt haben bekanntgeben lassen, führen heute ein glückliches, zufriedenes und erfülltes Leben. Sich mit Personen auszutauschen, die Ähnliches erlebt haben, gibt einem Kraft und Zuversicht. Ich habe einige Sitzungen im Trauercafé wahrgenommen und die Gespräche mit anderen Betroffenen haben mir sehr gutgetan. Auch das geschulte Team vom Hospiz stand mir zur Seite und hat mich in Einzelgesprächen aufgefangen. Diese Einrichtung kann ich jedem empfehlen, der mit Ereignissen dieser Art zu kämpfen hat.

9. Haben wir vergessen, etwas Bestimmtes zu fragen? Möchtest du uns noch etwas mitteilen?

Egal wie hart und aussichtlos dir dein Leben gerade erscheint, gib‘ nicht auf.
Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, egal ob Misshandlung, Missbrauch, der Tod eines geliebten Menschen, Krankheit oder Selbstmord eines nahen Angehörigen: das Leben ist zu wertvoll und schön, um einfach aufzugeben. Suche dir professionelle Hilfe, verarbeite alle Traumata und lebe dein Leben.


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