1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?
Meine Versammlungen:
52134 Herzogenrath,
52477 Alsdorf, und Aachen Süd / Französische Versammlung.
In meiner Kindheit herrschten komplizierte Verhältnisse: Meine Mutter, ein „Welt-Mensch“ (nicht ZJ) und ihre familiäre Seite, mein Vater das vollständige Gegenteil (Heirat fand nach meiner Geburt statt). Beide trennten sich, als ich etwa 4-5 Jahre alt war. Ich wuchs von klein auf im Glauben der ZJ auf, da mein Vater sich durchsetzte. Väterlicherseits sind etliche Familienmitglieder ZJ, er wuchs selber mehrere Jahre in dem Glauben auf, auch wenn er nie 100% danach lebte.
2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?
Ich wuchs bei meinem ZJ-Vater auf, der ein Doppelleben führt/e (aus heutiger Perspektive). Sein Doppelleben sah/sieht folgendermaßen aus: Er konnte/kann aufgrund psychischer Probleme nicht arbeiten gehen , „unterstützte“ jedoch bei Renovierungsarbeiten in der Versammlung tatkräftig mit oder renovierte sogar „kostenfrei“ die Häuser einiger Ältesten. „Kostenfrei“ bedeutete, dass er unentgeltlich arbeitete, aber im Gegenzug Reisen bezahlt bekam oder Bargeld geschenkt bekam. Wir Kinder wurden größtenteils zu Wanderpokalen, die durch die Reihen der Versammlung (Glaubensbrüder) oder Familie gereicht wurden (NICHT SEXUELL!), da mein Vater mit seinen Aufgaben beschäftigt war. Dementsprechend war das Aufpassen auf seine Kinder nicht möglich, bzw. nicht als Priorität angesehen. Sein Zitat war und ist bis heute immer: „Man muss die Menschen gebrauchen und ausnutzen“.
Der Kontakt zu meiner Mutter gestaltete sich äußerst schwierig, da sie leider auch keine vorbildliche Mutter war. Sprich zwei Elternteile, die sich größtenteils selbst als Priorität sahen/sehen, versuchten dennoch irgendwie, ihr Bestes zu geben, angesichts ihrer eigenen negativen Kindheit…
Als Zeugen-Jehovas-Kind und -junge war meine Schulzeit von Mobbing geprägt, da Zeugen-Jehovas-Kinder, wie ich eines war, natürlich alle „heidnischen“ Feste der Weltmenschen und auch Kontakte mieden. Es fiel mir schwer, kurz vor dem Ende des Systems (wie es die ZJ lehren), solche „Sünden“ zu begehen. Daher predigte ich täglich meinen Mitschülern, Dozenten, Lehrern und Schulleitern. Mein Schulranzen war größtenteils mit Publikationen der Zeugen Jehovas gefüllt. Die Auswirkungen auf meine Noten waren natürlich spürbar. Mein täglicher Kampf war es also, in der Schule und beim Straßendienst zu predigen.
Halt gab es für mich in den eigenen Reihen der ZJ’s nur begrenzt, da viele natürlich die Augen verschlossen hielten, weil unsere Wohnungs- sowie Lebensverhältnisse als minderjährige Kinder eigentlich direkt eine Pflegefamilie heraufbeschworen hätten.
Man riet mir seitens der Ältesten jedoch nicht, zu meiner Mutter zu ziehen, da sie ja ein „Weltmensch“ sei und somit kein Umgang wäre. Ich sollte einfach „MEHR“ beten, mehr in den Dienst gehen etc….
Zu erwähnen sei, dass ich zu dem Zeitpunkt 4 mal wöchentlich die Versammlung besuchte, da ich mehrsprachig aufwuchs.
– Die Ratschläge kamen natürlich von den Ältesten, die für ihre Gefälligkeit Dienste erhielten (siehe oben).
Kurzgefasst bestand mein einziger Halt in der Verbindung zu Jehova und mir selber, denn Halt gab es zu dem Zeitpunkt nicht.
3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Wie bereits angeschnitten, bemerkte ich eine Doppelmoral zwischen dem, was gelehrt wurde und dem, was gelebt wurde. 6 Jahre lebten wir inoffiziell bei meiner Uroma (die ich als 11-16/17-jähriger pflegte), offiziell aber woanders, damit mein Vater staatliche Hilfe bekam.
2015 zogen wir in ein Haus einer damaligen Zeugin Jehovas um (einer der o.g. Älteste vermittelte), nachdem ich meinen Vater beim Jugendamt meldete (da ich mir sogar zuvor ein Zimmer & Bett mit ihm teilen musste, ohne über die hygienischen/wohnlichen Zustände der Wohnung meiner Uroma zu sprechen).
Ich fühlte mich wie ein Junge, der mehr für seinen Glauben tun sollte, während diejenigen, die etwas hätten ändern können (mein damaliger Studienpartner war Ältester und regelmäßig bei uns/Uroma), nichts taten und die Situation sogar verschlimmerten. Trotzdem hielt ich alles mit meinem Glauben aus, bis ich eines Tages feststellte, dass ich nicht mehr so leben konnte, da die Bibel, die Lehren der Organisation und das Verhalten der Mitglieder nicht übereinstimmten.
Im April 2017 begann ich eine Ausbildung zum Pflegefachmann. Der Vertrag wurde mir im Juli 2016 ausgehändigt, als ich noch bei meinem Vater wohnte. Er sagte mir bereits damals, dass ich für die Familie sorgen müsse, was ich jedoch ablehnte, da er ja arbeitete – wenn auch inoffiziell, und es als “Freundschaftsdienste” bezeichnete, da es bei “Glaubensbrüdern” war.
Daraufhin ging ich mehrmals zum Jugendamt und zog schließlich im Alter von 18 Jahren aus. Die Dame, die meinem Vater das Haus vermietet hatte, freundete sich 2015 mit mir an und entdeckte ebenfalls die Doppelmoral. Sie half mir beim Auszug. Als Racheaktion schaltete mein Vater die Ältesten ein und beschuldigte mich, Schande über die Organisation zu bringen, was jedoch nicht stimmte.
Ich las online, dass die WTG Aktiengewinne machte (HENRIETTA M. RILEY TRUST) [Quelle: https://avoidjw.org/donations/usa/hmrt/ – Die Organisation machte einige Zeit Aktiengewinne in z.B. Rüstungs-und Tabakindustrie – Anm. JZ Help e.V.], von okkulter Musik im Kongressvideo 2016 (Audio Machine), Missbrauchsskandalen, UNO-Mitgliedschaft und die biblischen Irrlehren…
Ich kämpfte zusätzlich dann noch mit mir selbst, da ich auch erkannte, dass ich mich zu Personen des gleichen Geschlechts hingezogen fühlte. Ich führte einen innerlichen Kampf und wechselte sogar die Versammlung. Ein neuer Ältester studierte mit mir die Lehren der Organisation und sagte mir dann wortwörtlich, dass ich meine sexuelle Orientierung ändern könne, genauso wie sein Bruder es geschafft hatte, und dass ich nicht auf meinen Vater und sein Leben schauen solle.
Diese Worte lösten in mir ein Gefühl des Ekels aus und ich merkte, dass ich nicht mehr dazu passte. Am 27.04.2017 machte ich meine sexuelle Orientierung öffentlich und trat aus der Organisation aus. Parallel suchte ich Hilfe bei einer Psychologin in Aachen, die mein Leben in den folgenden 2,5 Jahren bereicherte.
4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?
Zeitweise 4 mal wöchentlich Versammlung, regelmäßig Predigdienst… der Glaube war mein Halt.
Zweifel hatte ich immer mal, vor allem wie es sein kann, dass Jehovas treue Kinder so alleine gelassen werden, wenn Sie um Hilfe baten.
Wie es sein kann, dass biblische Grundsätze bewusst missachtet wurden… (Zahle Cäsar was Cäsars Gebot etc…)
5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?
Anfangs wurde ich komplett geächtet, aber nach zwei Jahren legte sich das Ganze, zumindest in der Familie.
2018 protestierte ich öffentlich vor einem Kongress aufgrund der Missbrauchsskandale, Aktiengewinne und der Ächtung.
Ich lernte viele liebe Menschen kennen, die mir die Irrlehren der Zeugen Jehovas biblisch widerlegen konnten. Gott liebt alle Menschen, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung!
Bei meinem Vater sieht es hingegen anders aus, er ist mittlerweile Ältester und hat hier und da mal mit mir Kontakt, auch wenn dieser eher von mir aus entsteht. Ich habe ihm und meiner Mutter letztlich verziehen, denn ändern tut es nichts.
Toleranter meinem Freund und mir gegenüber ist er nicht geworden. Er ist nicht abfällig oder dergleichen, stellt jedoch seinen Standpunkt klar, indem wir beide bspw. nicht bei ihm frühstücken können, sondern nur ich. Das lehne ich dann dankend ab. Gibt immerhin genug andere Menschen, die mich als Sohn adoptiert haben wie ich bin.
Man findet sich irgendwann mal damit ab, ein gestörtes Vater-Sohn-Verhältnis zu haben.
„Nachtrag 16.04.2024“ mein Vater stellte den Kontakt nun komplett ein, nachdem meine Oma am 16.04.2024 die Zeugen Jehovas im Alter von 77 Jahren verlassen hat. Er sagte, ich solle mich nie wieder melden, denn ich wäre ja der Verursacher.
b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?
Ich denke in erster Linie wird geächtet, um selber nicht den Halt im Leben zu verlieren.
Denn wenn wir uns mal betrachten, wie verzweifelt letztendlich jeder einzelne ist, ist es nicht verwunderlich.
Man wartet auf die Rettung im Außen, ohne selber zu erkennen, dass wir nur selber was an unserem Leben, an unserer Umwelt ändern können.
6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?
Heute, nach sieben Jahren, bin ich frei. Ich lebe mit einem Mann zusammen, helfe Aussteigern, plane Treffen für Aussteiger und betreibe Aufklärung, soweit es meine Möglichkeiten zulassen, da ich einen COVID-Impfschaden erlitten habe.
7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?
Rückblickend bin ich dankbar, diese Erfahrung gesammelt zu haben.
Sie hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Ich kann mich aufgrund der verschiedensten Dramen meiner Kindheit in so viele Probleme hineinfühlen/hineindenken und mit Rat und Tat zur Seite stehen, bei den Menschen die mir im heute wichtig sind!
8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?
Egal in welcher schwierigen Situation ihr aktuell steckt, mit Selbstvertrauen und Geduld aufgrund der schwierigen Situation braucht ihr keine Hilfe/ Hoffnung durch diese Organisation.