ÜberLebensweg – Daniela aus Stuttgart

Daniela
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Als ich 1973 in Süditalien zur Welt kam, war meine Mutter gerade ausgeschlossen und ich das uneheliche Kind. Sie hatte keine finanziellen Mittel und wollte mit mir als Baby keine Last für ihre Familie sein. Als die Zeugen Jehovas zufällig wieder an ihrer Tür klingelten und ihr sagten, dass 1975 das Ende kommen würde, bekam sie Angst. Die Ältesten legten ihr als Lösung nahe, eine Ehe mit einem Dienstamtgehilfen einzugehen, um für die Versammlung keine finanzielle Belastung zu sein. Ein Witwer mit 4 Kindern. Denn welche andere Chance hätte sie sonst mit einem unehelichen Kind gehabt? So könnte sie zurück zu Jehova finden.

Sie wurde schnell wieder aufgenommen. Beide haben geheiratet und 1974 war meine zusammengestellte Patchwork Familie für ein „Wachsen in der Wahrheit“ bereit. Zwei Jahre später und drei Kinder mehr – als Harmagedon doch nicht kam und mein Vater keine Arbeit hatte – zogen wir nach Deutschland, um den vielen Kindern eine sicherere Zukunft zu bieten. Das Erste, was meine Eltern machten war, Kontakt mit einer italienischen Versammlung aufzunehmen.

Mit 5 Jahren äußerte ich den Wunsch, an der theokratischen Predigtdienstschule teilzunehmen und habe dafür zu Hause lesen gelernt. Mit 7 war ich plötzlich Verkündigerin, habe es damals aber nicht wirklich verstanden. Mit 13 habe ich mich taufen lassen, denn es wurde laut den Ältesten und Mitgliedern der Versammlung langsam Zeit, damit ich in der kurz bevorstehenden Pubertät unter Jehovas Schutz stehe.
Und ich wollte schließlich zu den Großen und Guten gehören.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Ich habe meine Kindheit als glücklich in Erinnerung. Heute weiß ich, dass ich die schlechten Erlebnisse verdrängt habe. Ich habe mit 5 Jahren lesen gelernt und angefangen, an der theokratischen Predigtdienstschule teilzunehmen.

Die Woche war vollgepackt mit Programm:
3 x Zusammenkünfte in der Woche, für die man sich zu Hause vorbereiten musste.
1 x wöchentlich Familienstudium,
1 x wöchentlich persönliches Buchstudium und jeden Tag einen Tagestext aus der Bibel.
1 – 2 x die Woche habe ich ab 5 Jahren regelmäßig beim Predigtdienst teilgenommen. Damit hatte ich zu kämpfen. Ich habe gehofft, dass keiner aufmacht, besonders wenn es sich um Schulkameraden handelte. Immer wieder wurden wir in den Versammlungen erinnert, auch in der Schule Zeugnis abzulegen. Kein Wunder, dass ich in der Grundschule keine Freunde hatte und gemobbt wurde, als ich es versuchte.

Es gab auch schönes Zusammenkommen mit den Mitgliedern, sogar Picknicks und Partys mit Musik- und Tanzabenden. Ich habe mich auf die 3 Kongresse im Jahr auch immer gefreut. Darauf, andere Leute und vor allem Gleichaltrige aus anderen Städten zu treffen.

Ich erinnere mich aber, dass zu Hause oft eine traurige, mit Problemen gefüllte Stimmung herrschte. Meine Mutter war überfordert und mein Vater war eine tickende Zeitbombe, die oft ausgerastet ist. Schuld waren dann meistens wir Kinder, die nicht gehorchten oder Dinge, die wir bestimmt aus Haushalten bekommen hatten, wo Dämonen hausten.
Mal hat er aus Wut eine Tür oder ein Fenster eingeschlagen, mal hat er mit Selbstmord gedroht. Einmal hat er einen Strick im Dachboden hängen lassen. Das Blöde war, dass mein kleiner Bruder es als erster entdeckt hatte. Sowas hätte niemals passieren dürfen.  
Wenn meine Geschwister sich daneben benommen haben, wurde nicht mit der Rute gespart: Ohrfeigen, Kochlöffel. Mein Vater nutzte sogar seinen Ledergürtel, bis das Jugendamt und die Polizei an der Tür klingelten. Danach passte mein Vater auf, keine Zeichen zu hinterlassen und nicht mehr so gewalttätig zu sein. Noch heute erinnere ich mich genau an die Schreie meiner Stiefschwester und das tut mir jetzt noch weh.
Die Züchtigung wurde gerne in den Ansprachen im Königreichssaal angesprochen. Einmal sagte ein Ältester im lustigen Ton, dass der Popo extra von Gott dafür erschaffen wurde, denn er ist schön weich, tut nicht so weh und man kann nichts verletzen.

Die Pubertät konnte ich nicht wirklich ausleben. Ich habe immer versucht, brav nach den Regeln der Zeugen Jehovas zu leben, so dass ich nicht lernte, eine eigene Meinung zu haben, Gefahren zu erkennen oder Wünsche zu äußern. Ich fühlte mich trotz großer Familie und Gemeinschaft immer einsam und nicht dazugehörend.

So hatte ich die richtigen Voraussetzungen für ein sexuelles Missbrauchsopfer. Fast 3 Jahre lang wurde ich von einem getauften älteren Familienmitglied sexuell missbraucht. Ich wusste, dass es nicht richtig war. Ich hatte mich aber nicht getraut, etwas zu sagen. Die Scham und die Angst, diese Person ächten zu müssen und somit meine Familie mit weiteren Problemen zu belasten, war zu groß. So entschied ich, es einfach auszuhalten und aufzupassen. Einmal, nach dem  Predigtdienst, wäre es fast zu einer Vergewaltigung gekommen.

Viel später, als ich es als Erwachsene erzählte, wurde es von den Ältesten als nicht so schlimm empfunden, da es ja nicht zu einem Geschlechtsverkehr kam. Die „Sache“ wurde nur intern mit dem Täter besprochen, damit keine Schande über den Namen Jehovas kam. Als Strafe durfte er sich 6 Monate lang nicht in der Versammlung melden und alles wurde vergessen.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Gab es ein ausschlaggebendes Ereignis?

1994 wurde ich schon mal ausgeschlossen (wegen zu viel Intimität mit meinem damaligen Verlobten) und musste durch ein schlimmes Verhör in Form eines Rechtskomitees mit intimen Fragen. Drei ältere Männer, die mich aufwachsen gesehen hatten stellten Fragen, wie:
„Wie habt ihr euch geküsst? Wie oft? Wo hat er dich angefasst? Wo hast du ihn angefasst? Wenn du dachtest, dass es in Ordnung wäre, warum hast du es nicht am Küchentisch vor deinen Eltern gemacht?“ …usw.
Das laugte mich so aus, dass ich nur noch 47 kg wog.
Nach 1 1/2 Jahren Leben wie ein Zeuge, aber von allen geächtet, und nachdem wir geheiratet hatten, wurde ich endlich wieder aufgenommen.

Nach einer kurzen, schönen Zeit hatten mein Mann und ich im Jahr 1999 einen schweren Autounfall. Ich war im 4. Monat schwanger. Viele Kleinigkeiten während meiner schlimmen Zeit im Bett mit einer inkompletten Querschnittslähmung hatten mich zum Nachdenken und Zweifeln gebracht:
Warum sagten die Versammlungsmitglieder, dass mir Jehova das Laufen aufgrund der Gebete wieder ermöglicht hatte, und den anderen Patienten nicht? Warum sollte Jehova mir ein gesundes Baby schenken und den Nichtgläubigen nicht? Obwohl er nicht parteiisch sein soll und obwohl es keine Wunder nach den Aposteln geben sollte?

Die viele Liebe und Besuche seitens der Mitglieder und meinem Ehemann ließen nach, als ich zu Hause praktische Hilfe brauchte und wieder im Predigtdienst teilnehmen sollte. Ich hatte gebeten, zu Bibelstudien mitgenommen zu werden, da ich schwer laufen konnte. Aber dafür hat man mir wenig Verständnis gezeigt. Ich habe mich immer mehr zurückgezogen, mein Glaube wurde schwächer und ich bekam Depressionen, was in meinem Zustand (mit Mühe wieder Laufen lernen und zum ersten Mal Mama sein) normal war.
So war es für mich nicht schwer, mich in jemand anderen zu verlieben, der Verständnis zeigte und eine ähnliche Diagnose hatte, als ich für eine weitere Operation ins Krankenhaus musste.

Mein schlechtes Gewissen und der Wunsch, an der Ehe zu arbeiten, brachten mich dazu, meine Gefühle meinem Mann zu beichten und meine platonische Beziehung zuzugeben. Leider hat es sich zum Gegenteil entwickelt: Streit bis zu Handgreiflichkeiten. Als wir in mehreren Versammlungen vermisst wurden, standen schon die Ältesten zum Hirtenbesuch vor der Tür. Mit ein paar Bibelstellen zeigten Sie mir, dass ich für den Haushalt zuständig sei und dass es normal wäre, dass ihm die Hand ausrutscht, wenn ich mich nach einem anderen umschaue.

Nach ein paar Monaten Trennung und Versuchen trennte ich mich schließlich von meinem Mann und von der Religionsgemeinschaft um „sie rein zu halten“.
Erst 10 Jahre später wurde ich langsam wach und verstand, dass ich aus einer Sekte ausgestiegen war.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Ich habe mein ganzes Leben danach ausgerichtet und schon als Jugendliche fest an die Doktrinen geglaubt.
Kleine Zweifel gab es immer wieder, aber ich habe das Nachdenken nicht zugelassen. Aus Angst, meinen Glauben zu schwächen. Wie oben schon erzählt, hat mich mein Unfall schwer geschüttelt und ich habe angefangen, über das Blutverbot, Tod und Zukunft nachzudenken.

Jahre später auf der Brooklyn Bridge in New York, beim Anblick des Gebäudes der Watch Tower, fiel mir der Schleier von den Augen und ich verstand, dass es sich um ein Unternehmen handelt.

5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Mitglieder der Versammlung treffe ich kaum, da ich umgezogen bin. Ich habe meine 5 Geschwister und 9 Neffen/Nichten verloren, die nicht mal auf Nachrichten reagieren. Mein Adoptivvater geht manchmal ans Telefon, erinnert mich aber daran, dass er normalerweise nicht mit mir reden dürfte.

Was mich sehr schmerzt ist, dass weder meine Familie noch die meines Ex-Mannes mit meinem Sohn Kontakt haben. Er hatte noch nie etwas mit den Zeugen zu tun, wird aber genauso geächtet und hat gefühlt keine Großeltern, Tanten, Onkels oder Cousins.

Zum Glück hatte meine liebe Mutter nie den Kontakt zu uns abgebrochen und wurde selbst vor 6 Jahren wach, als sie von den vielen Missbrauchsfällen gehört hatte. Nun wird sie auch geächtet.

b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?

Sie folgen dem Rat von oben, keinen Kontakt zu haben. Aus Liebe, damit wir verstehen, dass wir auf dem falschen Weg sind und umkehren sollen. Außerdem muss die Versammlung „rein gehalten“ werden. Als ich noch ein Mitglied war, habe ich auch diesen „Rat“ befolgt, sonst wäre ich auch ausgeschlossen worden.
Ich erinnere mich in einem Vortrag gehört zu haben, dass „Sünder früher gesteinigt geworden wären, heute wird es leider nicht mehr praktiziert, also sollen wir sie als Tote behandeln. Würden wir mit Toten sprechen?“

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Ich vermisse meine Familienangehörigen sehr und hoffe, dass sie irgendwann mal aufwachen. Ich finde es schade, dass meine Schul- und Berufswahl von den Lehren der ZJ beeinflusst wurde, das nagt noch an mir.

Ich musste sehr lange mit Ängsten und Phobien kämpfen, die mein Leben und meinen Schlaf gestört haben. Musste mit Mühe lernen, wie man in der normalen Welt zurechtkommt, eigenverantwortlich Entscheidungen trifft und musste mich mit Themen wie Weltbild, Materielles und Tod neu auseinandersetzen.

Heute werden die Ängste immer weniger, ich arbeite an meiner Persönlichkeit nach meinen Prinzipien und habe ein schönes, glückliches, selbstbestimmtes Leben. Ich habe mir ein schönes Umfeld mit Hobbys, ehrenamtlichen Tätigkeiten, echten Freunden und tiefen Beziehungen aufgebaut, die für mich meine neuen Familienmitglieder sind.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Ich erinnere mich gerne an die positiven Erlebnisse, die ich durch liebe Menschen der Religionsgemeinschaft erlebt habe.
Meine Empathie, sowie die rhetorischen und sozialen Fähigkeiten sind bestimmt der Erziehung, Lehre und der theokratischen Schule der ZJ anzurechnen und ich profitiere heute davon. Trotzdem habe ich es verpasst, mit einer gesunden, selbstbestimmten Persönlichkeit aufzuwachsen und musste dies in meinem Erwachsenenalter mit Mühe nachholen.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Am liebsten würde ich raten, das Weite zu suchen. Aber wenn sich das jemand unbedingt anschauen möchte, dann bitte hinterfragt alles, aber brecht nicht die Kontakte mit der Außenwelt ab. Lasst euch nicht schnell zur Taufe überreden und schaut euch die Merkmale und Beschreibungen für Narzissmus, Sekten und destruktive Gruppen an.

Und den zweifelnden Mitgliedern möchte ich sagen, dass ihre Zweifel schon ein Zeichen des Aufwachens sind. Traut euch, Kontakt zu Ex-Mitgliedern (ich habe meine Kontaktdaten für JZ Help e.V. freigegeben) oder zu Beratungsstellen aufzunehmen. Es gibt heute so gute Möglichkeiten und Hilfen, um sich ein neues Leben aufzubauen.
Die meisten Aussteiger sind der Beweis, dass dies möglich ist.