1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?
Hallo, mein Name ist Daniel, 33 Jahre alt und bin vor 12 Jahren ausgestiegen. Meine Eltern sind nach Deutschland zugezogen und wurden durch „nette Leute, die Gutes aus der Bibel erzählen“ (Zeugen Jehovas) kontaktiert. Ich war damals noch im Kindergartenalter, intensiver wurde mein Zeugen-Leben im Alter von 14 Jahren. Als Sohn von „Interessierten“ ließ ich mich mit 18 Jahren taufen, engagierte mich innerhalb der Gemeinschaft, verrichtete Aufgaben (oder „Vorrechte“, wie gesagt wurde), machte den Hilfs-Pionierdienst (50 Stunden predigen/Monat) und zuletzt auch den allgemeinen Pionierdienst (70 Stunden predigen/Monat).
2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?
Die soziale Struktur und die vorgegebenen Rangordnungen (ähnlich einem Pyramiden-Diagramm in einem Konzern) bestimmten meinen Alltag. Montags Bibelstudium in Kleingruppen (1 Stunde), freitags Zusammenkunft (2 Stunden) und sonntags Zusammenkunft (2 Stunden), waren fest als Wochenplanung gesetzt. Zudem die jeweilige Vorbereitung für die Versammlungen (jeweils ca. 30 Minuten – 1 Stunde), die Vorgabe des „Täglichen Bibellesens“, der tägliche „Tagestext“ (ähnlich zum Wochenkalender mit kurzem Abschnitt zum Lesen), die alle zwei Wochen neuen Erscheinungen der Zeitschriften „Der Wachtturm“ und „Erwachet“, das „Selbststudium“ und natürlich der Predigtdienst (allgemein 2-6 Stunden pro Woche) bestimmten meine Woche.
Freizeitgestaltung wurde nur mit „Glaubensbrüdern“ gern gesehen und nicht mit „Weltmenschen“. Und natürlich wurde beim Treffen unter Gleichgesinnten das Thema Glaube und Gehorsam weiter gefestigt, z.B. beim Beten vor dem gemeinsamen Essen, Gespräche, gemeinsame Vorbereitungen auf die Zusammenkünfte, Orchesterprobe für das „Versammlungs-Orchester“ (ich lernte und spielte dafür Querflöte und Klarinette), oder Abendgestaltung wie Filmabende (bei denen Zeugen Jehovas produzierte eigene Filme der Organisation gemeinsam geschaut wurden).
Womit ich am meisten zu kämpfen hatte? Innerhalb der Zeugen Gemeinschaft meinen „Stellenwert“ zu finden und auszubauen.
3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
LIEBE. Ich habe gespürt, dass ich mich zu Männern hingezogen fühle. Erst habe ich mit aller Kraft versucht dies zu leugnen, aber aufrichtig sich selbst gegenüber zu sein war mein Schlüssel raus aus der Sekte.
Als ich zu Zweifeln begann stellte ich neue Fragen wie z.B.: „Wenn Leid aufgrund der universellen Frage besteht, ob Menschen ohne Jehova leben können. Könnte es sein, dass im Paradies eine neue universelle Frage aufgeworfen wird, die wieder neu geklärt werden muss? Und wenn ja, hat Jehova das alles nicht kommen sehen und ist bewusst verantwortlich für Schmerz, Leid und Tod?!“ Oder „Wenn Frauen im Paradies als Könige und Richter regieren sollen, warum dürfen heute Frauen, im Vorbild dessen, nicht von der Bühne predigen?“
Ein Schlüsselmoment war auch, als eine Freundin, mit der ich die Bibel studierte, während des Studiums zu weinen begann. Ich verstand nicht warum man aufgrund einer frauenfeindlichen Aussage in der Bibel weinen musste. Und hinterfragte meine Ansicht der Dinge.
4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?
Subjektiv war ich felsenfester Zeuge Jehovas. Ich sprach bei Kongressen mit Mikrofon von der Bühne, ich redete mir ein, eine Frau finden zu wollen, die Jehova Gott mehr liebe als mich selbst. Es gab auch Zeiten in denen ich dachte: „Falls mein Zeugen-Leben am Ende doch falsch sein sollte, habe ich ein glückliches Leben innerhalb der Gemeinschaft geführt“.
Zu zweifeln begann ich, als ich intime Gefühle zu einem Glaubensbruder entdeckte. Meine ersten sexuellen Erfahrungen änderten meine Perspektive. Meine wachsenden Gefühle und Sehnsüchte steigerten sich und warfen neue Fragen auf. Auf mein Herz zu hören wurde mir jahrelang verboten, doch meine echten und realen Gefühle ließen mich langsam am Glauben zweifeln.
5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?
Gefühlt habe ich mein ganzes soziales Umfeld verloren. Meine ganze Realität war aus den Fugen. Ich wurde gemieden, im Stich gelassen, alleine gelassen.
Erste Auswirkungen waren nächtliche Panikattacken, Momente das Zweifelns, das Richtige entschieden zu haben, Angstattacken vor dem Tod und dem Sterben, wahrhaben wie arrogant man auf Nicht-Zeugen herabgeblickt hat, Schockstarre in Konfliktsituationen und das Gefühl „dumm“ zu sein (weil das „Zeugen-Fachwissen“ unbrauchbar in der realen Welt ist).
6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?
Heute bin ich der glücklichste Mann auf der ganzen Welt. Ich fühle mich frei und selbstbestimmt. Ich habe das Gefühl, alles schaffen zu können und habe keine Angst, meine Meinung zu äußern und auf meine Gefühle und Instinkte zu vertrauen. Ich habe vor keiner Herausforderung Angst.
Ehrlich gesagt spüre ich als Auswirkung tief verwurzelte, erlernte, innere Glaubensgrundsätze, die ich bis heute Gesprächstherapeutisch aufarbeite. Minderwertigkeitskomplexe, niemals gut genug sein zu können, nicht richtig zu sein, Liebe und Anerkennung nur nach vollbrachter Leistung zu erhalten, mangelndes Selbstvertrauen, Schwierigkeiten eine eigene Meinung zu bilden, klammerhaftes Verhalten oder innere Anspannung sind einige der Folgen, die mich für immer begleiten werden.
Selbstreflektiert und sich dessen bewusst kann ich nur sagen, dass mich all das extrem stark und widerstandsfähig gemacht hat. Heute kann ich alleine durch meine Lebensfreude noch aktiven Zeugen beweisen, dass ich weiterhin „gesegnet“ bin (wie sie sagen würden).
Ich bin wirklich glücklich!
7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?
Meine Vergangenheit lehrt mich Dankbarkeit. Dankbar, kein „Schaf“ zu sein, dankbar, stark geworden zu sein. Dankbar für echte Liebe, echte Anerkennung und echte Wertschätzung, die nicht leistungsbezogen ist. Dankbar und glücklich mein Leben frei von Weltuntergangs-Ängsten leben zu können. Glücklich darüber zu wissen, wer ich bin und wofür meine Werte stehen und warum.
8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?
Bitte mach Dir bewusst, aus welchen Beweggründen du wirklich Kontakt zu den Zeugen suchst. Aufmerksamkeit bekommen, Beachtung erfahren, Wertschätzung genießen, Interesse an einem erhalten, das Gefühl dazu zu gehören, „Lovebomb“, also die extreme Freundlichkeit und das dort willkommen sein. Alles das zieht in die Glaubensgemeinschaft. Es ist das soziale Gefüge das einem die Illusion von Sicherheit bietet, aber nicht ohne seinen Preis.
„Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun“
(Edmund Burke, Philosoph)