ÜberLebensweg – Mirjam I. aus Stuttgart

Mirjam
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Ich wurde hineingeboren.
Meine Großmütter wurden beide von den Zeugen Jehovas gefischt und so sind meine Eltern bereits seit ihren frühen Kinderjahren bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Im Nachhinein war vieles ein Kampf.
Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, die von Verboten und Zwängen geprägt war, spürte ich schon früh, dass ich nicht glücklich bin. Damals konnte ich mir das alles nicht erklären, doch ich verspürte häufig Druck. Ich fühlte mich immer anders. In der Schule, da ich mich an die Regeln der Zeugen Jehovas halten musste und nicht überall mitmachen durfte. In der Versammlung aber auch, weil ich oft Fragen stellte, wissbegierig war und nicht alles so glauben konnte, wie es mir präsentiert wurde.
Ich verzweifelte häufig, weil ich nicht „stark genug“ im Glauben bin, warum ich nicht so glauben kann wie andere und ich hatte oft Angst, allein zu sein, da mir immer erzählt wurde: Harmagedon kommt wie ein Dieb in der Nacht. Was sollte ich denn tun, wenn Harmagedon kommt und ich bin gerade allein? Diese Frage wurde so real, dass mich Albträume heimsuchten.
Da die Woche geprägt war von ständig wiederkehrenden Terminen – wie Versammlungsbesuche etc. – und mein Vater Ältester war, waren wir in der Versammlung nahezu die ganze Woche eingespannt. Man hatte keine Möglichkeit, seinen Zweifeln Raum zu lassen, einen anderen Blickwinkel zu betrachten, oder einfach mal sich selbst zu sein.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Ich denke, bei mir kumulierten sich die Ereignisse im Laufe der Jahre. Bis ich tatsächlich ausgestiegen bin, war es ein langer Weg. Da ein Elternteil unter einer psychischen Erkrankung leidet, fing auch ich an zu leiden. Ich suchte immer wieder Hilfe innerhalb der Gemeinschaft und diese Hilfe wurde mir verwehrt. Ich erhielt zum Teil nicht einmal Rückrufe von den Ältesten. Zu meiner Zeit wurde einem Zeuge Jehovas geraten, zu keinem Psychologen zu gehen, denn diese wollen den Menschen nur die Gedanken verdrehen, hieß es. So wurden unsere familiären Probleme unter den Tisch gekehrt. Sprach ich darüber, dann hatten wir innerhalb der Versammlung mit Sanktionen zu rechnen.

Zudem spürte ich keine Liebe von Gott und fand den Zugang nicht, da half auch alles Beten nicht. Oft fühlte ich mich einfach nur im Stich gelassen.
Als Teenager sollte ich eine Notoperation erhalten und bekam mit, wie man über mich entschied, dass ich keine Bluttransfusion erhalten sollte. Mir wurde mit voller Wucht bewusst, dass meine Eltern in der Lage wären, ihren Glauben über mich zu stellen. Ich bekam Angst, denn ich dachte wirklich, ich müsste u. U. sterben, aber das war halt so. Was ich als Kind gelernt habe, ist, sich einsam zu fühlen. Einsam, obwohl man in einer „Gemeinschaft“ aufgewachsen ist.

Später in meiner Ausbildung lernte ich liebe und nette Menschen kennen und merkte, dass die normale Welt nicht „in der Macht dessen liegt, der böse ist“, wie uns immer beigebracht wurde. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich von Menschen angenommen, so wie ich bin.
Als ich einen Freund hatte, der nicht bei den Zeugen Jehovas war, fing ich an, ein Doppelleben zu führen. Drei Jahre hatte ich sogar eine angemietete Wohnung, damit meine Familie und die Versammlung nicht mitbekommen, dass ich unverheiratet mit einem Mann zusammenlebe. So ein Zusammenleben ist bei den Zeugen Jehovas nicht möglich.
Ein Doppelleben wird anstrengend und so flog es irgendwann auf. Meine Eltern setzten mir eine Frist von 8 Tagen, damit ich selbst die Möglichkeit hätte, meine Sünden bei den Ältesten anzuzeigen. Da ich dies nicht tat, erlebte ich zum zweiten Mal, dass meine Eltern den Glauben über meine Wünsche und Bedürfnisse stellten. Nach drei erniedrigenden Rechtskomitee-Gesprächen, mit insgesamt 6 verschiedenen Ältesten, bei denen ich all meine Intimitäten erzählen sollte, wurde ich ausgeschlossen.

Aus Angst meine Familie zu enttäuschen und aus Angst, dass die Zeugen Jehovas mit Ihrer Lehre vielleicht doch recht haben, nahm ich eine 1-jährige Prozedur auf mich, wieder aufgenommen zu werden.
Ich heiratete während dieser Zeit meinen Mann, der nicht bei den Zeugen Jehovas war und erwartete ein Kind. Als ich eine Fehlgeburt erlitt, stand ich erneut vor der Frage der Bluttransfusion. Ich zog ab diesem Zeitpunkt für mich einen Schlussstrich, denn ich wollte und konnte so ein Leben, welches mich nicht glücklich machte, einfach nicht führen.
Ich war noch jung und trotzdem schon so müde, ich konnte diesen ganzen Anforderungen und Erwartungen, einfach nicht gerecht werden. Zudem spürte ich, dass dieses Schüren von Ängsten mich auf Dauer zerstören würde. Ich sagte mir: ich bin lieber jetzt glücklich und sterbe halt in Harmagedon.

Physisch war ich draußen, aber im Kopf noch lange gefangen. Ich äußerte meinen Entschluss nur mündlich und ging einfach nicht mehr in die Zusammenkünfte. Meinen schriftlichen Austritt formulierte ich tatsächlich erst 17 Jahre später.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Ich war nie wirklich im Glauben verankert und merkte auch, dass ich kein gläubiger Mensch bin.
Es war nur ein „Mitlaufen“, da die Zeugen Jehovas schließlich „die Wahrheit“ haben, wie immer in uns hineinprogrammiert wurde. Es war für mich eine Tatsache. Punkt! Ich spürte es aber einfach nicht und bin auch nie völlig im Glauben aufgegangen. Ich machte das meiste nur, weil ich als Ältestentochter einen sanften, aber stets gegenwärtigen Druck verspürte. Mir wurde schlecht, wenn ich auf die Bühne sollte, um Aufgaben vorzutragen und für mich war es unangenehm, in den Predigtdienst zu gehen. Ich machte das nur für die Menschen um mich herum, die es von mir verlangten.

Ich fing immer wieder an, den Glauben in Frage zu stellen, als Familienmitglieder oder enge Freunde ausgeschlossen wurden und von mir verlangt wurde, den Kontakt abzubrechen. Für mich hatte dies nichts mit Nächstenliebe oder einem Gott der Liebe zu tun. Ich litt unter jedem Ausschluss vermutlich genauso, wie die ausgeschlossene Person selbst.

5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Als man mir die Gemeinschaft entzogen hat (wie die ZJ sagen), wurde dies umgehend am nächsten Tag in der Versammlung öffentlich bekannt gegeben. Über Nacht verlor ich alle Freunde und Bekannte, mit denen ich teils aufgewachsen bin. Ich hatte keine Zeit, meine Familie persönlich zu informieren. Von wenigen erhielt ich einen Abschiedsbrief, als wäre ich nun tot.

Ich bin froh, dass ich keine Geschwister habe. Meine Familie war aufgrund des Glaubens sowieso zerrüttet, da meine Eltern beide ausgeschlossene Geschwister haben und mein Großvater auch kein Zeuge Jehovas war. Familientreffen oder Feiern gab es daher bei uns nie und so litt ich weniger daran, wenn sich nun auch weitere Familienmitglieder von mir entfernten.
Heutzutage schmerzt es mich jedoch manchmal, wenn mir andere Menschen von Ihren jahrelangen Freundschaften erzählen, welche teils seit Kindertagen bestehen oder wenn ich Freunde beobachte, die ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Familie haben. Es hat bei mir definitiv eine Lücke hinterlassen.

b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?
Wie sind deine Gedanken dazu?

Ich gehe davon aus, dass es auch Zeugen Jehovas gibt, die mit der Ächtung ein Problem haben. Mich hat es als aktiver Jehovas Zeuge jedes Mal geschmerzt, wenn ich Kontakte abbrechen „musste“. Ja ich habe es so emfpunden, dass es von uns so verlangt wurde. Und wenn ich doch Kontakte pflegte, hatte ich sofort ein schlechtes Gewissen. Zudem herrschte bei mir Angst darüber, ob man eventuell gesehen wird, denn ich wurde in meiner Jugend mehrmals von den Ältesten angesprochen und darauf hingewiesen, mit nicht aktiven Zeugen oder zu einer ausgeschlossenen Person zu brechen, da dies nicht gut für meine „geistige Gesundheit“ wäre. Die Indoktrination der Zeugen Jehovas zielt darauf ab, dass Personen die den Glauben verlassen, als Abtrünnige bezeichnet werden und somit als schlechter Umgang gelten. Sie sind dann als Teil von Satans Welt anzusehen und automatisch böse. Das typische schwarz/weiss Denken eben.

In der Literatur oder auf Kongressen wurde immer wieder darauf hingewiesen, keine Kontakte zu „Abtrünningen“ zu pflegen und meines Wissens gibt es heute sogar Videos der Organisation dazu. Ich kann mich an einen Artikel aus dem Arbeitsheft erinnern, der hieß „Schütze dich vor Abtrünnigen“. In diesem Artikel stand, dass Abtrünnige unter dem Einfluss Satans stehen und die Gedanken von Abtrünnigen nur dazu dienen, Jehovas Glauben zu untergraben. Es gab in diesem Artikel die Anweisung, die Lehren und Gedanken von Abtrünnigen wie Gift zu behandeln. Man solle sich nicht damit befassen, also mit dem Mensch dahinter auch nicht. Das muss man sich mal vorstellen! Ich kann mich aber auch an Vergleiche erinnern, in welchen Abtrünnige als fauliges Obst bezeichnet wurden. Wenn ein fauliger Apfel in einer Obstschale liegt, könne er alle anderen anstecken, hieß es. Daher würde ich sagen, geht die Praxis der Ächtung nicht von den einzelnen Mitgliedern aus. Dies ist eine geschickt eingefädelte Anweisung „von Oben“.  Es wurde so lange mit negativen Bildern in uns „eingetrichtert“, bis man es eben macht, egal was das Herz eigentlich sagt.

Aus heutiger Sicht würde ich sagen, die absolute Gehirnwäsche, denn solche Schlagworte wie Gift, faulig, böse, anstecken, sind negativ und bleiben automatisch auch als schlecht im Gehirn haften.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Ich bin heute so glücklich wie noch nie in meinem Leben, denn ich kann es nach meinen Wünschen und Bedürfnissen gestalten. Ich fühle mich frei, jedoch bin ich erstaunt, wie tief die jahrzehntelange Indoktrination in mir steckt. Die Ängste, ob Harmagedon doch irgendwann kommen könnte, oder die Zeugen vielleicht doch recht haben, steckten mindestens noch ein Jahrzehnt in mir. Häufig wurde ich von Albträumen geplagt. Diese Ängste konnte ich glücklicherweise hinter mir lassen, doch es gibt Auslöser, die heute noch Stresssymptome verursachen.
Zudem habe ich eine Autoimmunerkrankung. Anfangs dachte ich, ich habe einfach nur schlechte Gene. Doch Experten gehen davon aus, dass durch die ständige Angst und Anspannung in meiner Kindheit, mein Nervensystem geschädigt wurde und dies ein „Folgeschaden“ aus meiner Vergangenheit sein könnte.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Meine Vergangenheit hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin und jeder ist für sein eigenes Glück verantwortlich. Es werden immer Narben bleiben, aber es ist immer das, was man daraus macht. Auf manche Narben bin ich inzwischen sogar ein kleines bisschen stolz, denn sie haben mich stark gemacht.
Da ich so viel durchgemacht habe, bin ich ein unheimlich dankbarer und achtsamer Mensch geworden. Das ermöglicht mir, das Hier und Jetzt zu genießen und es nicht für selbstverständlich zu nehmen. Schließlich muss ich nicht mehr darauf warten, dass ich erst irgendwann mal im Paradies glücklich werde.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Es kann nicht nur die eine Wahrheit geben! Es ist enorm wichtig, auch einmal über den Tellerrand hinauszuschauen und sich – entgegen der Meinung der Jehovas Zeugen – auch andere Informationsquellen anzusehen. Mit der Internet-Recherche ist das heutzutage kein Problem mehr.
Das Leben in dieser Gruppierung ist ein Leben in einer Blase. Traut euch, diese Blase von außen zu betrachten! Jeder hat das Recht, dies zu tun und sollte das machen dürfen, was ihn glücklich macht und dazu gehört auch freies Entscheiden.

Und das Wichtigste: Folgt euren Gefühlen und ignoriert nicht euer Bauchgefühl!