ÜberLebensweg – Sandra B.

Sandra
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Mit sechs Wochen wurde ich von meiner Großmutter väterlicherseits, in Absprache mit dem Jugendamt (!), in Obhut genommen, da meine Eltern – so die offizielle Version – nicht in der Lage waren, mich adäquat zu versorgen. Also bin ich haarscharf reingeboren.
Meine Eltern wurden regelmäßig seitens des „Zeugen-Familien-Verbandes“, in dem ich dann aufwuchs, als „schlechte Menschen“ verurteilt. Darum lastete während meiner gesamten Kinder- und Jugendzeit das Stigma meiner Eltern auf mir. D.h. der Druck, „Jehova“ besonders gefällig zu sein, war mindestens so groß wie „Eiger, Mönch & Jungfrau“ zusammen. Ich sollte auf keinen Fall solch einen Lebenswandel führen, wie die Menschen, die mir einst das Leben schenkten.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Meine Großmutter wurde 1944 nach ihrer Vertreibung aus der Heimat von ihrem älteren Bruder, der gerade selbst sein „Seelenheil“ bei den Zeugen Jehovas suchte, missioniert. Auch sie suchte in der Organisation vermutlich neuen Halt und Lebensmut, vor allem wegen der Auferstehungshoffnung. Da Traumen vorhergehender Generationen weitergegeben werden, fühlte ich mich von Haus aus auch fremd, verstoßen und alleine. Leider durfte ich nicht, aufgrund der „Empfehlung“ der Ältesten unserer Versammlung, in den Kindergarten gehen, da dieser katholisch war. Somit wuchs ich weiterhin recht isoliert heran und hatte später Schwierigkeiten, mich in Gruppen problemlos einzufügen, wie z.B. im Klassenverband. Ich fühlte mich immer als Außenseiterin. Das „anders sein“ wurde recht spürbar bei Kindergeburtstagen, bei meinem eigenen Geburtstag, allen anderen „weltlichen“ Feiertagen und dem Religionsunterricht, dem ich fernbleiben musste. Ich hatte es deutlich vor Augen, dass ich kein „Teil der Welt“ war und hatte mir immer gewünscht, ich würde auch dazugehören.
Sehr belastend empfand ich die regelmäßigen und häufigen Zusammenkünfte – ich war oft unerträglich müde, musste dennoch stillsitzen und schön brav sein. Meine Oma wurde mindestens einmal von einem „Bruder“ aufgefordert, mit mir den Saal zu verlassen und mich notfalls auch zu züchtigen, um für Ruhe zu sorgen.
Die Kleiderordnung, das Beten vor jeder Mahlzeit, die Vorbereitungen auf das Buch- und Wachtturmstudium waren auch nicht das, was mich unbedingt glücklich gemacht hatte. Ebenfalls empfand ich die meisten Belehrungen aus dem „Buch mit biblischen Geschichten“ als belastend. Der ewig mahnende Zeigefinger wog zentnerschwer. Ich denke den Predigt- und Straßendienst brauche ich nicht wirklich erwähnen, das wird uns Zeugen-Kindern wohl allen ähnlich ergangen sein. Es war beschämend, am Montag in der Schule belächelt zu werden, weil ich am Wochenende das Glück hatte, beim Predigtdienst den Schulkameraden „Zeugnis“ gegeben zu haben.
Das allerschlimmste für mich waren jedoch meine ständigen Verfehlungen. Ich glaube, es verging kaum ein Tag, an dem ich nicht irgendetwas falsch gemacht hatte. Sollte ich nicht sofort reumütig und tränenreich mit schlechtem Gewissen zusammenbrechen, drohten drakonische Strafen körperlicher Art. Wenn ich Glück hatte, wurde ich „nur“ mit konsequenter Ignoranz oder Zimmerarrest bestraft, natürlich mit der Auflage Jehova im Gebet um Verzeihung zu bitten.
Ich hatte Angst zu erkranken und Blut zu brauchen. Ich wollte nicht sterben müssen. Die „Dämonen“ die in der Einschlafphase gelegentlich vor meinem Fenster hin- und herflogen, sahen in etwa so aus, wie ich sie auf den Zeichnungen „der Literatur“ regelmäßig zu sehen bekam. Ich habe mir dann vorsichtshalber die Decke über den Kopf gezogen, bekam somit schlecht Luft und hatte auch noch nackte Füße. Das war dann das nächste Problem, denn diese mussten auch geschützt werden, vor einer Schlange natürlich. Bei Gewitter wurde ich, egal wo, ziemlich schnell panisch. Mehr als einmal wurde ich dafür ausgelacht, woher sollte ich denn wissen, dass jetzt gerade nicht Harmagedon kommt?

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Mit dem Beginn meiner Lehre – mittlerer Bildungsabschluss musste reichen, ich sollte schließlich baldmöglichst Hilfspionierin werden – erschloss sich mir ein neues Umfeld. Ich wurde selbstständiger und wurde langsam aber stetig zum rebellischen Teenager, trotz meiner mir aufgedrängten Taufe mit 14 Jahren. Ich entwickelte ein Eigenleben und spürte instinktiv, dass ich zum Eigenschutz „ausbrechen“ muss. Der Drang war riesig, ich gab ihm nach und brach – erst heimlich – alle Regeln, die man als getaufte Zeugin nur brechen konnte. Im Herzen war ich zwar Aussteigerin, legte es aber auf einen Ausschluss an, da ich nicht den Mut fand mit klarer Ansage zu gehen. Mit 18 Jahren wurde ich wegen Rauchen ausgeschlossen. Eine ehemalige „Schwester“, die im gleichen Betrieb arbeitete, sah mich rauchen und hat das regelkonform den Ältesten gemeldet.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Mein Glaube war in dem System der Wachturmgesellschaft meine einzige Zuflucht. Ich habe von ganzem Herzen gehofft, dass mich „Jehova“ liebt, mir verzeiht und ich trotz allem, was so Schlechtes an mir haftete, Harmagedon überleben darf. Besonders während der Zeit meiner Taufe (zu der ich von den Ältesten aufgefordert wurde) und des Bezirkskongresses, in dessen Rahmen meine Taufe vollzogen wurde, war ich hingebungsvoll und erfüllt von Liebe zu „Jehova“. Die Zweifel, die in mir aufkeimten, hatten ihren Ursprung in der Glaubwürdigkeit der Organisation. Ich orientierte mich von klein auf an den Werten, die Jesus lehrte. Diese fand ich, für meine Begriffe, nur oberflächlich vor. Ich vermisste die Liebe, von der so viel gesprochen wurde. Mich hat auch die Form des „Studiums“ der Schriften irritiert. Einen Absatz in einem Buch, das nicht die Bibel ist, durchzulesen, dann die dazugehörigen Fragen zu beantworten, nein nicht frei, sondern natürlich nur eng angelehnt an den vorgegebenen Text. Es kam kein echter Austausch zustande, es wurden keine verschiedenen Ansichten beleuchtet etc. Das war für mich kein Studium. Richtig abgeschreckt hat mich die theokratische Predigtdienstschule. Techniken zu erlernen, die Erfolg im Predigtdienst ermöglichen sollten, das hatte für mich sowas von „Haustürgeschäften“. Ich empfand das fast als Betrug. Als ich begann die Regeln zu brechen und auch mal heimlich in der Disko war, sah ich tatsächlich einen Dienstamtsgehilfen, der gerade auf dem Weg ins Ältestenamt war. Er saß am Tresen und flirtete mit der Barfrau, während seine Frau zu Hause mit den kleinen Kindern im „Buch mit biblischen Geschichten“ las, und er am Tag darauf vielleicht sogar einen seiner ersten Vorträge hielt, wer weiß das schon?
Fast zeitgleich lief mir nach der Arbeit eine Schwester aus der Nachbarversammlung über den Weg. Ich grüßte sie und fragte nach ihrem Befinden. Zu meinem Bestürzen brach sie in Tränen aus und teilte mir mit, dass sie wohl ausgeschlossen wird. Sie war so traurig, ich musste sie in den Arm nehmen, ich wollte sie so gerne trösten. Doch sie schob mich weg, sie wollte mich schützen! Denn wir trafen direkt in Sichtweite des Küchenfensters unseres Kreisaufsehers aufeinander. Es kam leider noch schlimmer. Sie wählte eine Woche später den Freitod. Dies wurde dann Donnerstag während der „Bekanntmachungen“ kurz berichtet. Punkt – mehr passierte nicht, auch bei mir zu Hause nicht. Ist halt so, sozusagen.
Das war es dann für mich. Ab dem Zeitpunkt brach ich nicht mehr heimlich irgendwelche Regeln, sondern ich lebte mein Leben und begann Erfahrungen zu sammeln. Der Ausschluss erfolgte kurz darauf.

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Mein Ausschluss erfolgte schon vor 33 Jahren. Der Ächtung bin ich damals, so gut ich konnte, aus dem Weg gegangen. Ich hatte mir vorbeugend ein neues Umfeld geschaffen und etwas übereilt, wie ich später erkennen musste, geheiratet. Mit meinem damaligen Ehemann habe ich die Flucht nach vorn angetreten und bin in eine 250 km entfernte Großstadt gezogen. Meine Großmutter hatte ich erstmal verloren, doch wir hatten zum Glück Jahre später wieder Umgang und Glaubensfragen dabei außer Acht gelassen. Ob sie das in ihrer Versammlung für sich behielt oder nicht, habe ich nie erfragt. Sie selbst musste aber eine Form der Ächtung über sich ergehen lassen, da man ihr vorwarf, sie hätte ein „kostbares Gefäß“ zu Bruch gehen lassen. Der Rest der Familie hatte sich von mir abgewandt, ich bedauerte das zwar, das war aber der Preis den ich zahlen musste, ich hatte mich seelisch und moralisch darauf vorbereitet.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Nach einer rasanten Berg- und Talfahrt habe ich erst vor 10 Jahren mit der Aufarbeitung der schädlichen Gedankenmuster begonnen. Da sie zwangsläufig weiterhin unbemerkt im Hintergrund abliefen – vergleichbar mit Malware auf dem PC – und ich über 20 Jahre versucht hatte zu leben, als hätte ich diese Vergangenheit nie gehabt, hatte ich mich stets weiterhin unter Druck gesetzt, habe meinen Zwang zur Perfektion nicht erkannt, vieles nur „schwarz-weiß“ gesehen und war nicht in der Lage gesunde Grenzen zu setzen. Der Stress-Level ist bis heute sehr hoch. Ich finde schwer zur Ruhe, habe eine Angst- und Panikstörung und eine ausgeprägte Sozialphobie. Dazu kommen noch weitere Einschränkungen. In der Summe bin ich deshalb aktuell erwerbsunfähig und lebe von einer Erwerbsunfähigkeitsrente.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Mir persönlich hat die Sozialisierung in dieser Gruppierung keinen guten Start ins Leben ermöglicht, deshalb bin ich der Meinung, dass dringend ein Weg gefunden werden müsste, Kinder und Heranwachsende bei den Zeugen Jehovas stabiler in der gesellschaftlichen Realität zu verankern und ihnen mit Hilfe des Gesetzes z.B. die freie Bildungs-, Berufs- und Religionsauswahl zu garantieren.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Einen Rat zu geben fällt mir schwer, da jede Lebenssituation individuell ist. Ich würde aber nichts, egal in welche Richtung, übereilen. Auf jeden Fall ist es hilfreich, sich mit Menschen des Vertrauens auszutauschen. Auch finde ich es empfehlenswert, bei einer Entscheidung das „innere Wissen“ (Bauchgefühl) miteinzubeziehen und vielleicht persönlichen Vorurteilen oder Ängsten nicht zu viel Raum zu gewähren.