ÜberLebensweg – Peter S. aus Kärnten

Peter S.
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Ich wurde reingeboren.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Das ganze Leben drehte sich um die Religion.
Ich hatte mich die meiste Zeit nicht wirklich dazugehörig gefühlt. So führt man ein harmloses Doppelleben. Letztendlich hat mich das Zeugen Leben kaputt gemacht. Ich versuchte mehr für die Religion zu tun, um mehr Freude zu bekommen, aber umso schlimmer wurde es letztendlich. Ich ging mit „vorbildlichen“ Zeugen in den Predigtdienst. Das machte aber alles nur noch schlimmer und fühlte sich wie verlorene Zeit an. Ich wollte nie, dass andere über mein Leben bestimmen und man dauernd verpflichtet ist, über alles Rechenschaft ablegen zu müssen was man tut. Das fängt schon bei der Kleidung an. Ich wollte selbst über mein Leben bestimmen.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Es kam sehr viel zusammen bis zu meinem 30. Lebensjahr. Ich glaube, dass ein jeder, der hier mitmacht, ein Buch über sein Leben schreiben könnte. Ich halte mich trotzdem sehr kurz.

Ich war letztendlich so unglücklich darin und mein Leben war von Panikattacken geprägt. Ab dem 24. Lebensjahr bis zu meinem Ausstieg.
Ich konnte so nicht mehr weiterleben. Mein Gedanke damals war, dass auch, wenn es die Wahrheit ist, ich niemals in einem Paradies leben möchte als Zeuge Jehovas.
Quasi: da lebe ich lieber jetzt als glücklicher Mensch und sterbe dann lieber bei Harmagedon.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Sehr stark. Mein Vater ist Ältester, Großvater war vorsitzführender Aufseher und meine Mutter hat chinesisch gelernt und eine Gruppe gegründet. Ich wurde bereits mit 18 Jahren Dienstamtsgehilfe. Die Erwartungshaltung war sehr hoch. Ich hatte auch einen enormen Aufgabenbereich in meinen jungen Jahren.

Bei einem der ersten Kongresse (2014) wo man anfing Videos zu zeigen, ist mir die Propaganda, und wie man versucht Massen mit einfachen Mitteln (Film & Musik) zu beeinflussen, bewusst geworden. Das war das erste Mal, dass ich aufstand und den Kongress verließ, weil es für mich nicht mehr tragbar war.

Ich merkte immer mehr, dass ich eigentlich kein gläubiger Mensch bin und einfach kein Zeuge Jehovas sein wollte. Ich fand dieses aufgesetzte Zeugen Leben furchtbar. Zum Beispiel mindestens einmal pro Woche in den Predigtdienst zu gehen, obwohl man es nicht will. Das macht in den Jahrzehnten einiges mit Einem. Das ist nur ein Punkt.

5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Vieles was jetzt kommt, klingt vielleicht sehr nüchtern oder hart, aber genau so sehe ich das heute.

Ja. Ich habe mit keinem einzigen Zeugen Jehovas Kontakt. Es war hart am Anfang. Ich habe Freunde und Familie verloren, obwohl ich niemanden was getan habe. Ich wollte nur glücklich sein. Ich hatte eine gewisse Zeit Kontakt zu meinen Eltern. Mittlerweile möchte ich keinerlei Kontakt zu Zeugen Jehovas haben und bin „froh“ über die Ächtung. Warum? Weil ich mit selbstgerechten Menschen, die keine bedingungslose Liebe kennen, keinen Kontakt haben will. Ich bin mittlerweile Familienvater und in einem Alter, wo ich keine Lust auf das ganze einseitige Zeugengetue und die Psychospielchen habe. Es bringt keinem von beiden Seiten etwas, weil beide Seiten sich nur verletzen. Ich möchte mich auch nicht mehr verstellen und „erpressen“ lassen. In meiner schlimmsten Lebensphase haben sich alle Engsten von mir abgewandt und so soll es auch bleiben. Auf solche Menschen kann man getrost verzichten und dazu gehört auch die eigene Familie.

b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?
Wie sind deine Gedanken dazu?

Hauptsächlich aus Gehorsam und Angst, dass vielleicht doch etwas nicht stimmt und man seine Komfortzone verlassen müsste.
Mir wurde von Seiten meiner Familie sinngemäß folgendes gesagt:

1.: „Du weißt gar nicht, was wir wegen dir durchmachen, aber wir lassen uns nicht mehr vorschreiben, ob wir Kontakt zu dir haben dürfen oder nicht.“
Ich habe diese Äußerung nie weiter hinterfragt, weil sie für mich absolut absurd ist. Einerseits hatte ich nie viel Kontakt, mein Austritt erfolgte aus einer ganz anderen Versammlung als die meiner Familie, und ich habe das Ganze ohne viel Wirbel gemacht. Den Wirbel haben sie anscheinend selbst erzeugt.

2.: Mir wurde selbst gesagt, dass man die Vorgehensweise der Ächtung nicht versteht. Gleichzeitig „leiden“ sie darunter. Sie geißeln sich selbst und jammern dabei, dass es wehtut.
Andererseits will man absolut nichts Negatives hören, über das man nachdenken müsste oder die Lehren hinterfragen müsste. Man möchte in seiner Seifenblase bleiben und sie mit allen Mitteln schützen. Als ich anfing, offen darüber zu sprechen, was ich von all dem halte, wurde ich quasi zum Abtrünnigen degradiert und der Kontakt wurde komplett abgebrochen. Das einzige Lebenszeichen, das ich seit 1 ½ Jahren gehört habe, ist eine WhatsApp-Nachricht, in der stand, dass der Großvater gestorben sei und ich kommen dürfte. Und ein kurzes Hin und Her wie es meiner Tochter geht.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Heute geht es mir sehr gut. Ich bin ein freier und glücklicher Familienvater, der sein Leben selbst bestimmt. Die ersten Jahre waren hart. Ich hatte sehr viel zu verarbeiten und es kamen verschiedenste Gefühle hoch. Von Trauer bis zur Wut. Der Austritt war die beste Entscheidung meines Lebens und ich habe es keine einzige Sekunde bereut oder daran gezweifelt, ob die ZJ vielleicht nicht doch recht haben. Als ich die Lehren der ZJ hinterfragt habe, ist alles wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen. Mir wurde auch im Nachhinein erst bewusst, dass ich so gut wie nie an einen Gott geglaubt habe, obwohl ich so tief darin verankert war.

Womit ich nach wie vor zu kämpfen habe ist, dass viel an Allgemeinwissen und Bildung an mir vorübergegangen ist und ich viel Nachholbedarf habe.

Mir tut es von ganzem Herzen leid, dass auch ich mal so selbstgerecht war, gefühllos über Ausgeschlossene urteilte und einfach in eine Opferrolle schlüpfte. Einem ZJ ist nicht im Geringsten bewusst, durch was ein Ex ZJ alles durch muss und das zumeist alleine. Menschen, die nie in Sekten ähnlichen Strukturen waren, können das verständlicherweise einfach nicht verstehen, aber sie können für einen da sein und einem gut zureden.

Meine Panikattacken sind seit dem Ausstieg weg und ich habe mich mittlerweile so befreit, dass ich endlich Jobs durchführen kann, welche ich über Jahre psychisch nicht geschafft hätte. Ich habe wieder Kontrolle über mich erlangt mit Hilfe von Sport und den Menschen die mir gut tun.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Ich bestimme über mich selbst und sonst niemand.

Hinterfrage alles.
Ich persönlich muss nichts mehr nachholen, aber ich erlebe gerade viele wunderbare Dinge mit meiner Tochter mit, wie sie sich über so viele schöne Dinge im Leben freut, die mir verwehrt wurden.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Bitte, bitte hinterfrage alles. Warum will man nicht, dass ein ZJ ausserhalb nachforscht und sich seine eigene Meinung bildet? Die Antwort liegt auf der Hand.

Schau über den Tellerrand. Bei einseitigem Hinsehen scheinen Dinge oft logisch zu sein, obwohl sie genau genommen Hirngespinste traumatisierter Männer sind.

Man möchte gerne so vielen helfen und die Augen öffnen, aber so funktioniert das leider nicht. Ich hätte auch gerne wieder Kontakt zu meiner Familie. Aufwachen muss ein jeder selbst, da helfen auch keine logischen Argumente. Man muss auch akzeptieren, dass manche Menschen Strukturen brauchen wie es die ZJ vorgeben.

Nimm professionelle Hilfe in Anspruch! Es gibt Psychologen, die sich auf Sekten und Sekten ähnliche Strukturen spezialisiert haben, die Bestens über die ZJ und über das interne Wording Bescheid wissen.

Die Ächtung ist hart, aber da draussen gibt es so viele liebe Menschen, die einen so lieben wie man ist.

Mehr zu Peter erfährst du auch bei seinem Interview mit Jason Wittmann auf dessen YouTube-Kanal Traum[a]welt.
Viel Freude beim Zusehen und -hören!