ÜberLebensweg – Esther / Landkreis Ludwigsburg

Esther

In Esthers ÜberLebensweg geht es auch um sexualisierte Gewalt und Suizid.
Sollte es Dir nicht gut gehen, lies die Zeilen bitte nicht alleine.

Wenn Du sprechen möchtest, wende Dich gerne an unser Team: hilfe(at)jz.help

Achte gut auf Dich!

1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Ich bin reingeboren worden.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Ich wurde als drittes Kind von sieben Kindern geboren (3 Mädchen und 4 Jungen) und hatte für alle nachfolgenden Geschwister die Verantwortung. Fünf Stunden die Woche Zusammenkünfte, zusätzlich Predigtdienst sowie Familien-Buchstudium. Es war alles sehr stressig. Ich hatte das Gefühl, mein Leben bestand nur aus Arbeit und Religion.

Mein Vater, ein Patriarch und Narzisst, war sehr streng und man durfte keine eigene Meinung haben. Mein Vater hat die älteren Geschwister und mich regelmäßig verprügelt (mit 17 Jahren hatte er mich einmal bewusstlos geschlagen), wenn ihm etwas nicht passte oder ihm etwas gegen den Strich ging. Es gab fast täglich Streit, unter dem die ganze Familie litt. Von anderen Religionsmitgliedern wurde man im Stich gelassen.
Z.B. hatte ich einer älteren Schwester im Predigtdienst erzählt, wie es in unserer Familie zugeht, körperliche Gewalt, emotionale Gewalt, etc.
Ihre Antwort: „Da musst du beten“! Ich war sehr enttäuscht über diese lapidare Antwort.

Das Schlimmste war, man konnte kein Selbstbewusstsein aufbauen, man wurde klein gehalten. Alles war immer zu wenig, was man für Jehova tat. Man hatte immer ein schlechtes Gewissen, das sich leider über Jahrzehnte in meinem Kopf verankerte. Und dann noch diese Schuld, die man immer mit sich herumtrug. Auch in der theokratischen Predigtdienstschule, wenn man eine Aufgabe zugeteilt bekommen hatte, wurde man nie gelobt. Mit 14 Jahren wurden ich und meine zwei älteren Geschwister getauft, weil es an der Zeit war.

Mit 19 Jahren zog ich aus, nur mit meiner Bettdecke und Kleidern (mehr durfte ich von meinem Vater aus nicht mitnehmen). Eine Schwester in unserer Versammlung – gleich alt – hatte mir eine kleine 1 Zi.-Whg. besorgt.

In dem anderen Ort wo ich wohnte, besuchte ich das Dienstags-Bibelstudium. Dort kam es mehrmals zu sexuellen Übergriffen, da ein Bibelstudienteilnehmer und einer seiner Söhne mich nach dem Bibelstudium des öfteren nach Hause begleiteten, unter dem Vorwand es sei ja schon dunkel.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist? Gab es ein ausschlaggebendes Ereignis?

Mit 28 Jahren wurde ich ausgeschlossen, weil ich einen sogenannten „weltlichen Freund“ hatte. Ich bekam mehrmals Ältestenbesuch. Da ich nicht bereute, wurde ich zum Komitee geladen und mir wurden sehr intime und peinliche Fragen gestellt, wobei ich in Tränen ausbrach. Ich solle bereuen, dann wird alles wieder gut, sagte man mir. Es fühlte sich jedoch nicht richtig an „das Bereuen“. Danach hatte ich monatelang mit Weinkrämpfen zu kämpfen und mir ging es psychisch sehr schlecht. Es war wie ein Absturz, weil ich wusste, dass viele den Kontakt zu mir abbrechen.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Das Jahr 1975 habe ich sehr real erlebt, es herrschte die reinste Aufbruchstimmung. Ich erlernte deswegen keinen Beruf, da Harmagedon vor der Tür stand. Man hatte auch selbst große Ängste aufgebaut, dass man Harmagedon nicht überlebt.

Ich sah vor allem in meiner Familie, dass hier keine Liebe herrschte, wie es immer gepredigt wurde. Alles war so ambivalent. Von den Ältesten wurde man angesprochen immer noch mehr zu tun, vor allem Predigtdienst. Da begann ich oft zu zweifeln, so wollte ich mein Leben nicht verbringen. Ich kam mir immer vor, ein Mensch zweiter Klasse zu sein bzgl. der Versammlung. Auch dem Mann untertan zu sein, konnte ich mir gar nicht vorstellen, das hieß für mich Machtausübung, wie es in meiner Familie statt fand.

5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Vier meiner Geschwister und ihre Familien haben den Kontakt bis auf das Nötigste abgebrochen. Meine Mutter und vor allem mein ältester und jüngster Bruder hatten immer Kontakt zu mir gehalten. Ich hatte 1990 einen Sohn geboren – unehelich – welch eine Schande damals für meinen Vater, er wollte mich totschlagen, so waren seine Worte. Die Brüder und Schwestern von der Versammlung waren unterschiedlich. Die meisten grüßten mich nicht. Einige sprachen mit mir, aber nur deshalb, dass ich wieder zurück komme.

b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?

Das Ächten kommt von oben und sie halten sich strikt daran, da sie indoktriniert sind und Angst haben, selbst ausgeschlossen zu werden. Auch wegen Harmagedon und weil sie es von Kindheit an eingetrichtert bekommen haben. Es tut natürlich sehr weh, wenn man seine Geschwister liebt und sie mit groß gezogen hat, und man keinen normalen Kontakt mit ihnen haben darf.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Ich hatte nach meinen Ausschluss das Gefühl, dass mir ein großer Sack von den Schultern genommen wird. Obwohl es schon länger her ist, war ich immer mit meiner Familie verbunden, da meine Eltern meinen Sohn in Obhut hatten wegen meiner Berufstätigkeit. Meinen Glauben habe ich nie verloren. Ich habe bis heute mit den Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung (Ängste, Panikattacken, etc.) zu kämpfen. Vor 6 Jahren erlitt ich einen psychischen Zusammenbruch, habe Reha und Psychotherapie bekommen. Dort habe ich Anleitungen bekommen, mit diesen Belastungen umzugehen.

Mein jüngster Bruder hat letztes Jahr Bahn-Suizid begangen. Er hatte auch ein sehr schwieriges Leben und litt sehr unter den Folgestörungen bzgl. Familie und Religion (hatte sexuellen Missbrauch in der Versammlung aufgedeckt, etc). Dieses Erlebnis hat mich natürlich sehr aus der Bahn geworfen, es ist wie ein Schlag ins Gesicht und bis heute unbegreiflich.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Ich frage mich immer wieder, warum gerade in meiner Familie soviel Schlimmes passieren musste. Wäre ich da nicht hineingeboren worden, wäre mein Leben sicherlich besser verlaufen, vor allem nicht mit diesen schlimmen Belastungen. Mein Sohn hilft mir dabei, dass es mir gut geht. Ich habe bei ihm alles richtig gemacht, ihn vor „JW-Org“ geschützt. Auch mit meinem ältesten Bruder habe ich viel Kontakt.

Manche fragen sich, die meine Geschichte und die meiner Familie kennen, woher nimmst du die Kraft? Meine Antwort: seit meiner Kindheit habe ich ein sehr stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl und wenn es einen Gott und Jesus Christus gibt, daran glaube ich, wird jeder zur Rechenschaft gezogen, der die Menschen irre führt. Das ist vor allem diese Organisation, die viel Blutschuld auf sich geladen hat.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Ich kann nur davor warnen, sich dieser Organisation anzuschließen. Man kann sein Leben nicht so leben, wie man es möchte, es ist keine freie Entfaltung möglich. Dort herrscht keine wirkliche Liebe (der Wolf im Schafspelz), man lebt in einer Blase. Vor allem ist dies eine fundamentalistische Organisation, da sie ihren Mitgliedern unmenschliche Glaubenssätze vorschreibt.