Aus der „Wahrheit“ in die Freiheit
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?
Ich wurde in eine Familie von Zeugen Jehovas hineingeboren. Neben meinen Eltern sind auch die Großeltern mütterlicherseits, sowie der Großteil der nächsten Verwandten Mitglieder. Daher gab es nie die Frage, nach welcher Ideologie sich meine Erziehung ausrichten würde.
Meine Tante war zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschlossen und mir wurde schon als Kind von meinen Eltern beigebracht, dass ich nicht mit ihr sprechen darf, weil sie „böse“ sei. Glücklicherweise leben meine Großeltern ihre Religion so moderat aus, dass sie sich schon damals über das Kontaktverbot zu meiner Tante hinweggesetzt haben – mein Großvater legte deshalb sein Amt als Ältester nieder, weil er so nicht mehr als Vorbildfunktion in der Gemeinde geeignet war. Das hat mich zwar zu diesem Zeitpunkt als Kind nicht wirklich beeinflusst. Trotzdem ist mir bewusst, was das für eine enorme Ausnahme ist und ich rechne es meinen Großeltern sehr hoch an.
2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt? Womit hattest du am meisten zu kämpfen?
Sehr früh hat sich die Rolle, die das Leben für mich bereitzuhalten schien als Außenseiterrolle angefühlt. Durch die extrem ausgeprägte schwarz-weiß-Sichtweite der ZJ hat sich auch immer eine gewisse Distanz zu Gleichaltrigen gebildet. Was mich besonders geprägt hat, ist die permanente Konfrontation damit, dass alle unserer Taten von „Sünde“ geprägt, unvollkommen und tendenziell eher etwas sind, wofür wir um Vergebung bitten müssen. Das hat dazu geführt, dass ich die Figur Jehova schon sehr früh als eine rachsüchtige Bedrohung wahrgenommen habe, die durch permanente Überwachung nur darauf wartet, etwas zu finden, das ich falsch mache.
Dass sich die Lehre der ZJ auf jeden Bereich des persönlichen Lebens auswirkt, ist ein weiterer Punkt, der die Organisation für mich zu etwas Verabscheuungswürdigem macht. Schon früh wurde ich damit abgespeist, dass ich Behauptungen, die sich auf die Bibel oder die Interpretationen der LK [Leitende Körperschaft, Führungsgremium in NY/USA] stützen nicht hinterfragen, sondern hinnehmen solle. Ich interessiere mich sehr für wissenschaftliche Themen und fand schon sehr früh, also vielleicht im Alter von 10 Jahren, dass die Antworten, die die Organisation auf grundlegende Fragen gibt, keine Antworten, sondern lediglich weitere verdrängte Fragen sind.
Dass es keine wirkliche Freizeit gab, hat mich zusätzlich belastet. Wenn andere in der Schule vom Wochenende oder dem Urlaub erzählt haben, hatte ich im Sinn, dass ich Freitagabend in die Versammlung musste, samstags bitte in den Predigtdienst gehen sollte, Sonntagvormittag wieder in der Versammlung sitzen und am Nachmittag meine Zeit mit dem Familienbibelstudium absitzen musste. Ich habe es gehasst, aber als Kind gelang es natürlich noch nicht, mich dagegen erfolgreich zur Wehr zu setzen.
3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist? Gab es ein ausschlaggebendes Ereignis?
So etwa jeder Lebensbereich, der mir etwas bedeutet, beinhaltet etwas, das von JZ abgelehnt oder verurteilt wird. Mein Musikgeschmack, meine sexuelle Orientierung, die Sichtweise, Fragen wissenschaftlich und nicht theologisch zu beantworten sind die wichtigsten Punkte, die mir spontan einfallen. Sobald ich in der Schule etwas über das Grundrecht der Religionsfreiheit erfahren habe, war für mich sofort klar, dass der Countdown läuft, und das Einzige, was mich dazu bringt, das Leben eines ZJ zu führen ist die Fassade, die ich aufrecht erhalten musste, um Konflikte zu vermeiden. Deshalb stand für mich auch unerschütterlich fest, dass ich mich niemals taufen lassen würde, sondern einfach nur die Zeit absitze, bis ich mein eigenes Leben starten kann.
Als ich 15 oder 16 war, fiel in der Versammlung auf, dass ich jede Gelegenheit nutze die Zusammenkünfte zu meiden, mich weigerte eine Krawatte zu tragen und mich auch in Freizeit durch schwarze Kleidung eher als Metal-Fan statt als „Diener Jehovas“ zu erkennen gab. Als ich dann gar keine Zusammenkünfte mehr besucht habe, hat dann der Älteste, der mit mir ein persönliches Studium durchführte im Gespräch mit mir gemeint, dass er erkennt, in welche Richtung ich mich entwickle und darauf das Studium eingestellt. Für mich war das ein erster großer Schritt in Richtung Freiheit.
Nachdem ich bei meinen Eltern ausgezogen war, lebte mein jüngerer Bruder noch weiter bei meinen Eltern. Er teilt in nahezu allen Punkten meine Sichtweise und wir haben uns in dieser Zeit gegenseitig sehr unterstützen können. Als er den Mut aufbrachte, sich gegenüber den Eltern noch weit vor mir als homosexuell zu outen, konnte ich durch den größeren Abstand zur Welt der Zeugen Jehovas dabei helfen, meinen Eltern klar zu machen, dass wir kein Verständnis für die homophoben Ansichten der ZJ haben. So war es möglich klarzustellen, dass wir tolerantes Verhalten verlangen und religiöse Sichtweisen nicht als Rechtfertigung für menschenverachtendes Verhalten akzeptieren. Das war zuerst schwierig, hat aber mittelfristig sehr gute Früchte getragen und auch dazu beigetragen, dass das Verhältnis zu meinem Bruder durch diese Erfahrungen so stark gefestigt wurde, dass wir nach wie vor eine sehr enge Bindung und regelmäßigen Kontakt haben.
4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?
Zweifel begleiten mich, so lange ich mich erinnern kann. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass ich mich erfolgreich gegen die Religion gewehrt habe und meine Weltanschauung auf rein wissenschaftlichen Erkenntnissen fußt. Was mich auch immer wieder hellhörig gemacht hat, war die Vehemenz, mit der vor gewissen Themen wie dem Ursprung des Lebens oder der deutlich profaneren Frage nach dem Umgang mit Abtrünnigen, Ehemaligen bzw. der allgemeinen Welt gewarnt wird. Wer so viel daran legt, andere Sichtweisen auszuklammern, muss Angst davor haben, was ein inhaltlicher Vergleich ans Licht bringt.
5. Bist du von Ächtung betroffen?
Nein. Da ich sehr früh erkannt habe, welche Konsequenz ein Gemeinschaftsentzug haben würde, habe ich den Fehler, mich taufen zu lassen, vermeiden können. Deshalb bin ich auch nicht von Ächtung betroffen. Mein Bruder hat sich ebenso verhalten und so ist es uns möglich, ein relativ normales Verhältnis zum Rest der Familie aufrechtzuerhalten. Eine Entscheidung, über die ich sehr glücklich bin.
6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?
Die Erziehung als Zeuge Jehovas hat nachhaltig Schaden angerichtet. Das habe ich lange verdrängt, aber im Rahmen meiner persönlichen Aufarbeitung etwa Anfang 2022 nicht mehr leugnen können. Die Auswirkungen sind besonders in meinem Sozialverhalten zu finden. So hat sich durch die permanente Bedrohung durch eine unsichtbare, verurteilende, allmächtige und allgegenwärtige Fantasiefigur eine sehr ungesunde Art der Kommunikation und Konfliktvermeidung entwickelt. Dadurch, dass mir vermittelt wurde, dass alles was ich tue fehlerbehaftet und niemals vollkommen ist, hat sich eine extrem selbstkritische Persönlichkeit entwickelt, die ich zwar heute besser kontrollieren kann, aber immer wieder merke, dass dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Mein Selbstbild ist daher immer noch labiler als es mir gefällt und ich erwische mich noch häufig in den unterschiedlichsten Lebensbereichen bei dem Gedanken, dass alles, was ich zu bieten habe, niemals gut genug sein kann.
Weil ich außerdem meine Persönlichkeit nicht so entwickeln konnte, wie es gesund gewesen wäre, habe ich lange meine Homosexualität geleugnet und mache dadurch jetzt mit einer gefühlten Verzögerung von etwa 20 Jahren Erfahrungen, die für mich schon bedeutend früher wichtig gewesen wären. Dadurch fühlt es sich heute manchmal so an, als würde mich mit Mitte 30 verhalten wie ein pubertärer Teenager.
7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?
Heute bin ich überzeugter Atheist. Das habe ich mir selbst erarbeitet und bin sehr glücklich darüber. Ich habe im Vergleich zu anderen viel Glück gehabt. Durch meinen Zugang zu Bildung, der mir auch durch meine Eltern ermöglicht wurde, sowie Unterstützung durch Freunde und einen Verbündeten im engsten Familienkreis war es mir möglich, aus diesem Umfeld auszubrechen und, zwar langsam, doch mit immer größer werdenden Lebensfreude und Zufriedenheit, meinen eigenen Weg zu beschreiten. So sehr ich auch die Zeugen Jehovas verabscheue – ich bin meinen Eltern heute sehr dankbar für ihre Unterstützung und die erarbeitete Akzeptanz. Ich weiß, dass sie meinen Bruder und mich in bester Absicht auf diesen Weg bringen wollten. Deshalb bin ich nicht wütend auf sie, sondern sehe sie viel mehr als Opfer an, denen ich lieber helfen würde in die Freiheit zu finden, als weiter dabei zuzusehen, wie sie sich einer Illusion hingeben. Vermutlich werde ich sie nicht umstimmen, aber mir ist wichtig zu zeigen, dass es bessere Wege gibt, Menschen zum Nachdenken zu ermutigen, als alle Türen zu verschließen.
Ich bin heute einer derjenigen, vor denen die Organisation der ZJ warnt, wenn sie sagt, man solle sich nicht mit „Abtrünnigen und Spöttern“ einlassen. Als ein guter Freund selbst ausgetreten ist und er in diesem Zeitraum mit den Ältesten der Versammlung Gespräche führen musste, sagte einer dieser Ältesten über mich, dass „Satan die Abtrünnigen schickt, um Schafe aus der Herde zu reißen“. Diese Aussage fühlt sich für mich heute an, wie ein Ritterschlag, da es mir zeigt, wie sehr sich dieser Verein vor aufgeklärtem Denken fürchtet.
8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?
Lasst euch nicht einschüchtern. Das Konstrukt der Zeugen Jehovas basiert zu großen Teilen auf Angst vor Vernichtung. Sobald eine Gruppe ihre Mitglieder davor warnt, sich mit kritischen Fragen auseinanderzusetzen oder den Kontakt mit Außenstehenden als Gefahr einstuft, sollten alle Alarmglocken schrillen. So verlockend die Versprechungen der ZJ auch in vulnerablen Situationen sein mögen, so sehr bleiben sie manipulative Lügen, die auch wenn sie scheinbar Trost spenden trotzdem nicht zur Wahrheit werden. Mir ist bewusst, dass es mir auch durch einige günstige Umstände möglich war, der Falle der Religion zu entkommen. Deshalb möchte ich denjenigen, die im Begriff sind sich ebenfalls zu befreien, Mut machen sich zu emanzipieren und deutlich machen, dass Erfüllung und Zufriedenheit, die man aus eigener Kraft erreicht hat unendlich viel nachhaltiger sind als das Versprechen von „unverdienter Güte“.