ÜberLebenswege – Jana K. aus Sachsen

Jana
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Ich bin durch meine Eltern hineingeboren. Die Familie meiner Mutter war schon immer bei den Zeugen Jehovas, die meines Vaters nicht. Als mein Vater sich dazu entschied, den Zeugen beizutreten, wurde er von seinem Vater genauso gemieden, wie er es heute mit mir macht. Erst als ich ca. 4 oder 5 Jahre alt war, wurde das Verhältnis zwischen den beiden wieder normal.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Ich bin ein DDR-Kind, geboren 1977, als 1. von 3 Kindern. Ich durfte in der Schule keine Weihnachtslieder singen, beim Geburtstag nicht gratulieren, war kein Jung- und Thälmann-Pionier oder in der FDJ. Als kleines Kind empfand ich das nicht als so schlimm. Ich war bei den Lehrern (zumindest in den unteren Klassenstufen 😉 ) beliebt, bekam extra Aufgaben zugeteilt. Ich könnte nicht sagen, dass ich in der Schule wegen meiner Religion Probleme hatte. Meine Eltern sorgten durch Gespräche mit den Lehrern dafür, erklärten die Sachlage. Alles war gut. Erst als ich älter wurde, wurde ich wohl rebellischer, „aufmüpfig“ wie mein Vater es immer nannte. Ich wollte sein wie die Anderen. Zur Wendezeit kam die Pubertät. Ich begann das berühmt berüchtigte Doppelleben. Rauchte heimlich, las die verbotenen Teenie-Zeitschriften, ja ich las sogar die verbotenen Briefe, die die Zeugen Jehovas früher immer zugeschickt bekamen. Es war spannend und aufregend, verstanden habe ich es aber nicht. Als ich älter wurde, wurden Klassenfahrten nicht mehr erlaubt, Tanzstunde und Abschlussfeier durfte ich nicht mitmachen. Es war sehr schade, ich hätte mich doch benommen, war doch gut erzogen. Aber meine Eltern schienen mir nicht zu vertrauen. 
Der Alltag in der Gemeinschaft war durch das Verbot der ZJ in der DDR für mich als Kind anders. Eine Versammlung, wie man sie heute kennt, gab es nicht. Wir hatten Bibelstudiengruppen mit 2-3 Familien, die regelmäßig wechselten. So lernte ich viele verschiedene Kinder in meinem Alter kennen. Ich hatte eine beste Freundin, wir spielten oft zusammen. Unsere Eltern verstanden sich auch gut. So war es nicht ganz so schlimm, dass ich keine weltlichen Freunde haben sollte. Später nach der Wende waren wir dann eine größere Truppe junger Leute aus verschiedenen Versammlungen und wir genossen unsere Jugendtreffs. Es war einfach schön. Wir sind genauso weggegangen, Pizza essen oder Billard spielen, Kino oder Schwimmen. Ich erinnere mich an einen Ausflug nach Berlin zum Russischen Tageskongress. Wir verstanden trotz Schulrussisch nicht viel, aber es war egal. Die Gemeinschaft zählte. Eigentlich brauchte man keine weltlichen Freunde. Trotzdem „durfte“ ich in der Nachbarschaft und auch in der Schule Kontakt zu „Weltlichen“ halten. Bis auf die Dispute, die sich durch meine Pubertät und den Wunsch meiner Eltern, aus mir eine gute Zeugin zu machen ergaben, muss ich sagen, hatte ich eine schöne Kindheit. Wir hatten Freiheiten, die manch anderen Zeugen-Kindern nicht gewährt wurden, wie eben weltliche Freundschaften oder Fernsehen.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Ich hatte schon als Teenager nicht dieses besondere Verlangen nach der Religionsgemeinschaft, wie andere es vielleicht verspürten. Ich hatte es nicht im Herzen. Mit 18 lernte ich einen weltlichen Mann kennen. Ich verliebte mich und da ich in der Gemeinschaft nicht wirklich einen potentiellen Ehemann fand, entschied ich mich zum Weggang. Ja ich weiß, mit 18 fängt das Leben eigentlich erst an und man denkt normalerweise nicht ans Heiraten, aber es ist ja bekannt, dass bei den Zeugen beziehungstechnisch einiges anders läuft. 

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Wir waren eine der normalen Familien in der Versammlung, mein Vater ging keinem Dienstamt nach. Trotzdem wurden wir geachtet. Ich glaube im Nachhinein war es eine „nette“ Versammlung. Im Glauben selbst war ich schwach. Die Bibel habe ich nie von vorne bis hinten durchgelesen. Die Wachtturmvorbereitung war bei mir in einer halben Stunde erledigt. Aufgaben in der Predigtdienstschule übernahm ich ungern. Ich konnte noch nie gut vor Menschen reden und ich war froh, wenn die anderen Schwestern vorn auf der Bühne saßen. Es lag sicher nicht an meinen Eltern, dass ich so wenig Interesse am Glauben zeigte. Sie waren stets bemüht, uns zu aufrichtigen Zeugen zu erziehen. Aber wie mein Vater sagte, hatte ich den Glauben nie im Herzen. Und nur um anderen zu gefallen, wollte ich mich nicht weiter damit beschäftigen. Deshalb kam mein Freund damals genau richtig. Es kam alles so schnell, ich habe nicht lange drüber nachgedacht. Ich wollte einfach nicht mehr und ja, es war vielleicht egoistisch. Im Nachhinein habe ich den Schritt aber nie bereut.

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ja das bin ich. Begonnen mit meiner Schwester. Durch ihren Ehemann wurde ihr der Kontakt zu mir untersagt, als Abtrünnige passte ich nicht in deren Familienleben. Es schmerzte sehr. Ich war 12 als sie geboren wurde und die ersten drei Jahre hatte ich sie überall dabei. Auch später hatten wir ein sehr enges Verhältnis. Da mein Bruder auch die Gemeinschaft verließ (allerdings ungetauft und deshalb gut raus, weil ihm so der Kontakt zu den Eltern geblieben ist), fühlte sie sich vielleicht verpflichtet bei den Zeugen zu bleiben. Und ihr Mann stellte dann die Forderung, den Kontakt zu mir abzubrechen.
Seit Januar 2017 habe ich nun auch keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern. Es gab im Vorfeld einige Vorfälle, die an dem wirklich harmonischen Verhältnis zwischen uns rüttelten und so kam es zu einem letzten Gespräch. Ich erinnere mich genau an die letzte Umarmung meiner Mutter im Treppenhaus und dem „Tschüß“ meines Vaters. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Sie wollten den Kontakt zu meiner Tochter aufrechterhalten, aber diese sagte damals mit ihren 10 Jahren „wenn sie nichts mehr mit dir zu tun haben wollen, brauchen sie mich auch nicht sehen!“. Somit haben sie ihre Enkeltochter auch verloren, was sie eigentlich nicht wollten. Verloren habe ich nach meinem Weggang auch alle „Freunde“, die ich in der Gemeinschaft hatte, sowie die Familie meiner Mutter, die wirklich sehr groß ist. Einzig meine Oma mütterlicherseits war bis zu ihrem Tod 2002 immer für mich da.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Manchmal gibt es Momente, wo ich echt zu kämpfen habe. Ich erfahre z. B. über fünf Ecken vom Krankenhausaufenthalt meines Vaters. Sicher, ich kann ihm eh nicht helfen. Aber ich bin sein Kind, ich habe auch Gefühle und mache mir Gedanken. Aber das ist alles egal. Sie interessieren sich nicht für meine Gefühle. Und das ist jetzt auch der ausschlaggebende Moment, warum ich diesen Bericht schreibe. Ich will meine Eltern immer noch schonen, aber wer nimmt denn Rücksicht auf mich? Ja ich habe mich durch meine Taufe zu Gott bekannt und mich dann entschlossen, ihm doch nicht zu dienen. Aber trotzdem bin ich noch ihr Kind und ich würde nie auf den Gedanken kommen, mein Kind zu verstoßen, weil es mir andere Menschen so sagen. Nicht Jehova sagt das, sondern die Oberältesten der ZJ verlangen solch verwerfliche Dinge. Mit gesundem Menschenverstand hat das nichts mehr zu tun, sein eigenes Kind aufzugeben. Egal was meine Tochter anstellen wird, sie wird immer mein Kind sein und ich werde sie immer lieben und immer für sie da sein, ohne das Ganze an Bedingungen zu knüpfen. Mein Kind ist noch nie weinend ins Bett gegangen, sie wurde noch nie geschlagen und ich bin der Meinung, dass sie ein anständiger Teenager ist. Mein Vater wünschte mir immer Kinder, so wie ich es war. Ich glaube fest daran, dass meine Tochter nicht so rebellisch sein wird. Ich habe mir fest vorgenommen, es anders zu machen, als meine Eltern es mit mir getan haben. Vielleicht lag es auch daran, dass ich das 1. Kind war. Bei meiner Schwester wurde vieles nicht mehr so streng gesehen, wie bei mir. Wo ich längst eine Ohrfeige bekommen hätte, gabs nur einen bösen Blick für sie.
Angst habe ich keine, auch wenn ich manchmal an gewisse Bibelstellen denke. Vor allem jetzt in der Coronapandemie oder wenn Naturkatastrophen über uns hereinbrechen. Die Zeichen der Zeit, wie es so schön heißt. „Und was ist, wenn sie doch Recht haben?“ – diese Frage stelle ich mir schon lange nicht mehr. Ich weiß, dass es eine von Menschen gemachte Angst ist. Und ich kann und werde es nie verstehen, wie man sich von Menschen so einlullen lassen kann. Wie man ständig helleres Licht akzeptieren kann, oder dass man nicht auf eigene Faust studieren soll, dass man in den alten Publikationen nicht nachlesen soll. Dass man eine Gemeinschaft unterstützt, in der Kindesmissbrauch vertuscht wird. Wie kann man nur so blind sein? Mein Vater sagte beim letzten Gespräch, dass es alles nur Menschen seien und sie am Ende allein vorm Schöpfer stehen und für ihre Taten Rechenschaft ablegen müssen. Das hilft den vielen Kindern aber nicht, die sich angreifen lassen müssen und nichts dagegen tun können. Ich habe mit den Zeugen Jehovas abgeschlossen. Diese Gemeinschaft hat mir vor Allem meine Eltern und meine Schwester genommen. Ich war eine Zeit lang in Gruppen von Aussteigern, habe dort auch viele nette Menschen kennengelernt, zu denen ich teilweise immer noch engen Kontakt habe. Diese Gruppen habe ich verlassen. Ich möchte nichts mehr davon wissen. Dieser Beitrag hier ist meine Art damit abzuschließen. Für ein Buch reicht es nicht 😉

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Ich habe alles richtig gemacht. Ich frage mich heute oft, was mit mir passiert wäre. Ob ich heute eine eifrige Zeugin wäre, die doch noch einen Bruder abbekommen hätte. Vielleicht wäre ich aber auch wie die alleinstehenden Schwestern, verbittert im Hilfspionierdienst, weil‘s sonst nichts Schönes im Leben gibt. Vielleicht wäre meine Einstellung doch noch anders geworden. Aber am Ende bin ich mit meinem Leben zufrieden. Ich habe einen tollen Mann, ein liebes Kind und führe ein anständiges und geordnetes Leben, auch ohne Jehova. Erfahrungen macht jeder, egal ob positive oder auch negative. Aber man kommt immer irgendwie auf die Füße. Ich hatte das Glück, ohne psychische Probleme aus der ganze Sache herauszufinden. Auch dank der Familie meines Vaters, allen voran meiner Tante, die mich immer wieder aufgefangen haben. Ich hatte einen leichten Ausstieg, auch weil ich mich Komiteesitzungen und Gesprächen mit den Ältesten verweigert habe. Durch den Besuch der Berufsschule hatte ich glücklicherweise Kontakt zu „Weltmenschen“ und konnte mir damals schon einen kleinen Freundeskreis aufbauen, der bis heute besteht. Und auch jetzt im Alter habe ich echte Freundschaften schließen können.  Auch wenn ich meine Eltern verloren habe, die die Einzigen sind, die mir wirklich am Herzen liegen, möchte ich um nichts in der Welt zurück in diese Gemeinschaft.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Lest euch die Erfahrungsberichte durch, nehmt Euch Bücher zur Hand, die von Aussteigern geschrieben wurden. Das erste Buch, was ich nach meinem Austritt las, war von Günter Pape „Ich war Zeuge Jehovas“. Das Buch, das damals auf dem Index der Zeugen stand. Ich weiß noch wie mein Vater schimpfte, als er das Buch in meinem Zimmer fand. Aber ich habe mich trotzdem bestätigt gefühlt, auf dem richtigen Weg zu sein. Damals gab es noch kein Internet. Nutzt es heute, macht euch schlau. Lasst euch nicht täuschen von der Freundlichkeit und Herzlichkeit. Es sind keine Lügengeschichten, die wir Aussteiger erzählen. Es sind unsere Empfindungen, unsere Erfahrungen.

An die zweifelnden Mitglieder, auch für Euch gilt mein obiger Rat. Ihr habt heute die Möglichkeit dank des Internets zu recherchieren. Schaut Euch Barbara Kohout an. Sie war 60 Jahre im Dienst der Zeugen Jehovas und bekam selbst nach dieser Zeit Zweifel und trat aus. Redet mit Aussteigern. Durch das Internet habt ihr heutzutage ganz andere Möglichkeiten. Ich habe erst in den letzten Jahren Menschen aus meiner Gegend kennengelernt, die auch weggegangen sind. Ich dachte immer, ich bin allein. Aber nein. Es ist manchmal echt lustig, wenn man sich über früher unterhält, über Personen, die man gemeinsam kennt.

Man muss selbst wissen, was man tut. Jeder ist seines Glückes Schmied. Das Leben ist zu kurz für irgendwann und bloß, weil man nicht mehr zur Gemeinschaft der Zeugen Jehovas gehört, führt man noch lange kein kriminelles, unmoralisches Leben. Werdet eigenständig, nutzt euren gesunden Menschenverstand und denkt über manche Dinge mehr nach. Lasst euch psychologisch helfen, wenn ihr Probleme habt. Es gibt viele gute Therapeuten, die auf Aussteiger spezialisiert sind. Man muss selbst den ersten Schritt machen. Sucht euch Freunde außerhalb der Gemeinschaft, redet mit ihnen, baut ein neues Netzwerk an Menschen um Euch auf. Menschen, die es ehrlich meinen, die euch mögen, weil ihr IHR seid und nicht, weil ihr wie sie die gleichen Lieder singt und Amen sagt.
Das Leben ist schön und wer nicht zu meinem Leben gehören möchte, muss es lassen. Die Zeit ist viel zu kostbar. Lasst Euer Leben nicht von Menschen beherrschen, die nur auf Macht und Profit aus sind, die kriminelles Verhalten in ihren eigenen Reihen vertuschen und so tun, als würden sie es gut mit euch meinen.
Wacht auf und lebt euer Leben!