ÜberLebensweg – Birgit Kluge aus Berlin

Birgit
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen? 

Ich wurde in eine riesige Zeugen-Jehovas-Familie hineingeboren. Meine Urgroßeltern waren schon „Ernste Bibelforscher“ – und so hatte ich nicht nur Eltern, sondern auch Großeltern, Tanten, Onkel und eine Menge Cousins und Cousinen, die alle Zeugen Jehovas waren – darunter eine Menge Älteste und Pioniere. Ich fand es ganz natürlich, ein Zeuge Jehovas zu sein: Ich liebte meine Familie – und meine Familie liebte Jehova.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

In meiner Kindheit habe ich einerseits die Geborgenheit in meiner Familie als angenehm erlebt – andererseits fehlte mir der Kontakt nach außen: In der Schule waren meine Zwillingsschwester und ich Sonderlinge im Doppelpack, und in der Versammlung gab es auch nichts Passendes. Ich war als Kind einfach oft einsam.
Nach der Grundschule wurden meine Schwester und ich für das Gymnasium empfohlen. Das ging aber nicht, weil meinen Eltern gesagt worden war, dort würden die Schüler zur Rebellion erzogen. So wechselten wir beide auf die Realschule – und waren jetzt Sonderlinge und Streber im Doppelpack.
Die schwierigste Zeit war für mich, als Stefan und ich geheiratet hatten – und wir beide in dem Pionierdienst waren. Wir waren gerade Anfang Zwanzig – und völlig überlastet mit der neuen Rolle als junge Erwachsene, Ehepartner und dem immens hohen Stundenziel von 1000 Predigtdienststunden jährlich. In der Zeit ging es mir immer schlechter, bis ich morgens kaum noch die Kraft hatte, aus dem Bett zu kommen. Stefan und ich haben beide gelitten – aber wir konnten nicht über unsere Gefühle sprechen – weil wir sie gar nicht klar wahrnahmen. Irgendwann habe ich dann mit dem Pionierdienst aufgehört, weil ich dachte, ich sei krank. Ich habe auf einmal die kleinen Freiheiten genossen, wenn ich einfach mal ein paar Stunden ein Buch lesen konnte. Aber ich habe mich nicht getraut, eine neue Ausbildung zu machen oder nochmal zur Schule zu gehen – schließlich hatte ich ja den Pionierdienst aufgegeben, weil ich krank war.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Es gab mehrere parallele Entwicklungen: Zum einen merkte ich, dass meine Kinder – besonders meine Tochter – sehr darunter litten, nicht zur Klassengemeinschaft dazuzugehören. Und ich bekam immer mehr das Gefühl, dass sie einen weiteren Erfahrungshorizont brauchten. Heute glaube ich, dass ich Gefühle, die ich selbst als Kind zwar schon spüren, aber nicht benennen konnte, erst bei meinen Kindern deutlich wahrnahm.
Zum anderen hatte ich eine therapeutische Praxis, in der ich auch mit Zeugen Jehovas arbeitete. Ich merkte, dass das rigide System, in dem wir als Zeugen Jehovas lebten, für viele Probleme einfach keine vernünftige Lösung zuließ. Dagegen konnte ich mit sogenannten Weltmenschen in einem viel größeren Bezugsrahmen Lösungen finden. Als ich diese Diskrepanz sah, wollte ich der Sache auf den Grund gehen.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen deinen Glauben in Frage zu stellen?

Ich war sehr stark im Glauben verankert. Er war einfach da – wie die Luft zum Atmen und das Wasser zum Trinken. Ich hatte immer einen Glauben an einen guten, sehr liebevollen und mitfühlenden Gott. Wenn ich dachte, meine Grenzen sind erreicht, dann war ich sicher, dass Gott dafür Verständnis hatte. Und das habe ich in meinen Gebeten auch gespürt. Insofern war ich psychisch etwas geschützt. Allerdings merkte ich mit der Zeit auch, dass ich meine Gedanken über einen so liberalen Gott nicht überall herumerzählen sollte, wenn ich weiter als „reife Schwester“ angesehen werden wollte. Ich behielt mein Gottesbild dann im öffentlichen Raum der Versammlung mehr für mich. Aber ich fühlte mich zunehmend einsam in der Versammlung.

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Seit meiner Kindheit hatte ich ein super-enges Verhältnis zu meinen Schwestern. Auch als Erwachsene hatte ich fast jeden Tag mit irgendeiner Schwester Kontakt. Als ich zusammen mit meinem Mann und unseren zwei Kindern die Zeugen Jehovas verlassen habe, waren alle geschockt. Zuerst gab es noch ein wenig Smalltalk. Aber die Themen wurden allmählich weniger. Mein Anderssein stand wie ein großer Elefant im Raum, über den nicht gesprochen wurde.
Mich störte es irgendwann sehr, dass jeder neue Zeuge Jehovas allen Verwandten und Freunden von seinem neuen Glauben erzählen soll, aber wenn ich mich neu orientiere – und nicht mehr als Zeuge Jehovas sehe –, dann sollte das möglichst heimlich passieren. Also wollte ich meinen Austritt auch erklären. Mir war klar, dass meine Familie nicht mehr mit mir reden würde. Und das hält sie durch. Meine Mutter wollte auch kurz vor ihrem Tod nicht nochmal mit mir sprechen. Meine Schwestern haben in Verbindung mit dem Tod meiner Mutter alles Organisatorische mit mir geregelt. Sie haben mir auch freundlicherweise berichtet, wie ihre letzten Tage und Stunden waren. Gleichzeitig haben sie mich aber auch gebeten, nicht zur Beerdigung zu kommen.
Der Verlust meiner Ursprungsfamilie tat mir sehr weh, weil sie so lange mein Ein und Alles waren. Mittlerweile kann ich an meine Schwestern und Eltern denken, ohne ganz traurig zu werden.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Ich bin jetzt mehr als 10 Jahre aus dieser Gruppe raus – und ich bereue diesen Schritt nicht, obwohl es oft sehr anstrengend war. Meine Sorge galt zuerst den Kindern. Als ich dann das Gefühl hatte, die kommen ganz gut in dem neuen Umfeld zurecht, habe ich mich mehr um meine Gefühle gekümmert – und hatte mit viel Trauer und Wut zu tun. Nun kann ich meine Vergangenheit und meine Verluste akzeptieren und fühle mich sehr lebendig. Ich habe Spaß, Neues auszuprobieren, bin sehr dankbar für meine Freiheit – und weiß, dass ich sie mir selbst erkämpft habe. Das macht mich auch stolz. Aber ab und zu gibt es auch schlechte Tage, da schleichen sich alte Überzeugungen einfach wieder ein. Meistens ist das ein Zeichen dafür, dass ich müde und erschöpft bin – und nicht gut für mich gesorgt habe. Dann kümmere ich mich darum.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Ich kann meine Vergangenheit nicht ändern. Sie hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich bin – mit allen Stärken und Problemen. Sie hat mich stark gemacht – und dankbar für viele kleine Freuden des Alltags. Da ich nun weiß, dass es kein Paradies gibt, genieße ich das Schöne um mich herum. Ich lebe meistens im Hier und Jetzt. 

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Mein Rat an Interessierte: Zieh dich nicht von deiner Familie und deinen Freunden zurück – sprich mit ihnen über deine neuen Erfahrungen (den besonders Guten und den Merkwürdigen) und nutze ihr Feedback. Frag die netten Leute, die dich besuchen, wie in ihrer Gruppe mit Personen umgegangen wird, die Dinge kritisieren. Frag nach, ob sie dir einen Kritiker nennen können, damit du dich auch mal mit ihm unterhalten kannst (Schließlich liest man bei Amazon ja auch die beste und schlechteste Bewertung).
Mein Rat an Zweifelnde: Zweifeln ist eine ganz normale Funktion unseres Gehirns. Es kann nicht anders. Lass dir nichts anderes einreden: Zweifeln zu verdammen ist, als würde man nicht mehr atmen wollen. Nutze deinen Verstand, um Infrage zu stellen und Fakten zu prüfen. Dann kannst du dir selbst ein Urteil bilden, das für dich stimmig ist und eine gute Grundlage für dein Handeln bildet. Jeder erwachsene Mensch kann das selbst.