
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?
Meine Familie mütterlicherseits war schon seit zwei Generationen und damit seit Beginn des 20. Jahrhunderts „in der Wahrheit“; Kämpfer der berühmten „ersten Stunde“, wann auch immer die gewesen sein mag. Meine Urgroßmutter und mein Großvater zählten sich zu denen mit „himmlischer Hoffnung“ (was für ein Begriff!), mein Vater war nach dem Krieg konvertiert und heiratete meine gläubige Mutter. Aus dieser Ehe gingen meine großen Geschwister und – nach 17 Jahren Pause – ich hervor. Meine großen Geschwister waren damals schon ausgezogen und beide über Jahre nicht mehr „in der Versammlung“, der Vater aufgrund seiner Arbeit immer abwesend und „untätig“, die Mutter und die Oma (auch 20 Jahre weg, weil „uneinsichtig“) waren also meine prägenden Figuren, auch in religiöser Hinsicht.
Meine Familie war auf ihre Weise eigen, unbeugsam und irgendwie anarchisch. Jeder einzelne war für mehrere Jahre untätig, inhaltlich nicht an Bord, oder gar ausgeschlossen. Keine ferngesteuerten, stromlinienförmigen Zeugen Jehovas. Aber der Umgang mit dem Glauben war selbstverständlich, immer präsent, es war eine Auszeichnung nicht so zu sein, wie alle anderen. Ich war Teil einer Elite.
2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?
Als ich etwa sieben Jahre alt war, wurde mir klar, dass ich von Gott getötet werden würde. Ich wusste nicht wann, wusste aber warum und wie. Ich war nämlich keiner von den Guten, von denen, die sich so richtig bemühen, die gesegnet werden und es deshalb leicht haben mit dem Glauben und dem Gehorsam.
Abgesehen vom Umstand meiner bevorstehenden Tötung hatte ich aber eine behütete Kindheit. Wir hatten genug Geld, ein Haus, machten viele Reisen und es gab feine Sachen zu essen. Die äußeren Umstände waren prächtig: intakte Familie, intaktes Umfeld, stabile 70er Jahre, viel Bewegung nach vorne. Die inneren Umstände waren es – zumindest für meine Seele – nicht.
Bei uns zuhause war man stolz darauf, einerseits freundlich-angepasst und bürgerlich zu leben, andererseits ganz abgegrenzt und elitär aber die „wahre Religion“ zu haben. Der kontrastreiche, dramatische und ziemlich banale Glaube der Zeugen Jehovas („Leben und Tod sind ganz einfach: es gibt Licht und Finsternis, tu was und sieh zu, dass Du auf der Seite des Lichts Deinen Platz findest. Wir wissen wie das geht. Aber pass auf!“) war für mein Inneres prägend: ich hätte bei den Guten sein können, eingeladen war ich, ich war nur nicht geeignet, und das wusste ich schon früh.
Seit ich ein Baby war, saß ich folgsam neben meinen Eltern auf relativ unbequemen Stühlen im „Königreichssaal“ und habe Worte, Bilder und Gefühle in mich aufgenommen – aktiv und passiv: Hoffnung und Vernichtung, Segen und Blutschuld, Straucheln und Siegeszug, Engel und Huren, Krieg Gottes und Paradies waren meine Begleiter. Der sehnlichst erwartete Gottes-Milliarden-Genozid hieß „unsere Hoffnung“ oder „die gute Botschaft“ und machte mir seit ich denken konnte, große Angst.
Beim „Volk Gottes“ wird nicht zwischen Erwachsenen- und Kinderprogramm unterschieden. Nette und mir vertraute Menschen haben mir von der Bühne herunter und am Kaffeetisch völlig unverarbeitbare Grausamkeiten erzählt. Meine Eltern zum Beispiel – sonst durchaus feinsinnige Menschen – haben sich nichts dabei gedacht mir leichten Herzens aus der Bibel vorzulesen, dass wir alle vom „glühenden Atem Gottes verschlungen werden“, wenn wir nicht „Gehorsam lernen“.
Oder Mama übers Zweifeln: „Er entzieht Dir seinen Segen, Du wirst schwach im Glauben, Du stürzt, du bringst „Schande“ über Deine Familie und über die gesamte „Herde Jehovas“, lädst „Blutschuld“ auf dich. Es fängt immer mit Dir an, Jehova ist da!“
Und ich habe dazu genickt, sobald ich das verstehen konnte, mir war das auch klar: so gehörte das. Ich habe sie eingeatmet, diese grausigen Themen, diese alternativlosen Immer- und Nie-Ansichten, diese großen und kleinen „korrekten“ unbedingt notwendigen Haltungen und Einstellungen, vor allem aber: mengenweise Verbote.
All das erschien in meinem Umfeld niemandem grausam, die Lehren waren komplett integrierter Teil unser aller inneren Welt. Ein ambivalenter Zeichenvorrat im kollektiven Gedächtnis aller Zeugen Jehovas, egal wie alt. Ich habe ein zwischentonloses, schwarz-weißes Bild von der Welt und mir darin kennen und glauben gelernt. Und ich habe schon als kleines Kind die große (und im Fall eines Zeugen Jehovas tödliche) Angst kennengelernt, nicht zu genügen. „Gott will mir übel.“ Ich wusste tief im Inneren, dass ich all das, was ein echter „Diener Gottes“ tun muss, nicht würde schaffen können, dass ich kein „gottgefälliges Kind“ bin, dass ich damit zur „Welt Satans“ gehöre und, dass ich umkommen würde. Es war abgemacht: erschlagen, erwürgt, angezündet, pulverisiert … irgendwie halt. Und ich war überzeugt: das hätte ich auch verdient. Ich liebte Jehova einfach nicht genug, sonst wäre ich doch ein besserer Mensch. Ich war angezählt.
So war also meine Kinder-Erfahrung mit Gott: „Ich werde jeden Moment vernichtet.“ Wie lebt ein Bub mit dem Wissen, dass jede Sekunde alles zu Ende sein kann, weil er vor dem Allmächtigen nichts gilt?
3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Wenn man als kleiner Mensch in solchen Umständen lebt, entwickelt man automatisch Strategien, um damit umzugehen: man macht mit, man wird passiv, man verzweifelt, man lügt, man duckt sich weg, man kämpft dagegen … In meinem Fall waren es sehr unbewusste Strategien, die zusammen aber ziemlich effektiv waren: ich bin nämlich als Kind und Jugendlicher nicht verzweifelt.
Ich habe (keine Ahnung wie …) innerlich entschieden, nicht unter der Last meiner Ängste zusammenzubrechen, sondern mich zu bewaffnen und den Kampf aufzunehmen: gegen Gott und gegen Satan. Ich war, in einer Art Doppelleben, außen brav und innen trotzig. Das hat dazu geführt, dass ich zwar äußerlich weiterhin ein folgsamer Zeugen-Jehovas-Bub war, mit in die Zusammenkünfte und zum Predigen gegangen bin, schön „studiert“ habe, aber im Inneren nach und nach, mit vorsichtigen Schritten Distanz gewonnen habe. Irgendwann – ich mag so etwa 12 gewesen sein – habe ich begonnen mich abzuschotten, habe das ganze Getriebe der Zeugen Jehovas nicht mehr auf mich bezogen. Bald dann kamen wirkliche Zweifel an der Richtigkeit von alldem auf. Irgendwann schlug das Ganze in Verachtung um: „Wenn Gott mich nicht liebt, dann ist er ein Arsch! Wenn der mich tötet, dann bin ich schneller und töte IHN: ich höre auf, an ihn zu glauben!“ Ohne schweres Herz bin ich auf diesem Weg ein Gottloser geworden. Das wusste aber nur ich.
Und ich habe mich in eine innere Welt zurückgezogen, die für niemandem außer für mich zugänglich war, intakt und in der ich bestehen konnte. Ich habe die Phantasie entdeckt. Und das alleine sein. Die geheime Welt, in der ich gelernt habe zu leben, hat mir dabei sehr geholfen. Ich habe die Bücher und Geschichten entdeckt (alles voller herrlicher „weltlicher Weisheit“, aber gerade das fand ich toll: ich war ein Lese-Anarchist), habe sehr ernsthaft zu zeichnen und zu malen begonnen, habe das Klavier und mit ihm die Welt der klassischen Musik kennen gelernt, war ein wissbegieriger (wenngleich nicht allzu guter) Schüler mit unpopulären, sehr eigenen Interessen und im Lauf der Zeit vielen Freunden. Alles „Weltmenschen“, von meinen Eltern geduldet, aber nicht wirklich gern gesehen.
Das Lernen wurde zu einem enormen Antrieb in mir. Unbewusst hatte das sicherlich damit zu tun, dass es mich weg vom strafenden Jehova und den Lehren seiner Zeugen führte und mir Alternativen aufzeigte, andere Denkmodelle und andere Geschichten von der Welt. Ich wollte wissen, wollte all das Neue sehen, hören, fühlen. Schließlich fehlte durch den Wegfall des massiven Volumens „Gott“ viel von meiner inneren Beschäftigung. Mein Elternhaus war fürs Lernen theoretisch ein guter Ort, wenngleich die Zeugen-Jehovas-Borniertheit, die alles weltliche Wissen verteufelt, eine wirkliche Bildung, die Offenheit voraussetzt, nicht zulassen konnte.
Ohne es zu merken, begann ich im Lauf der Jahre mit diesen neuen Vorstellungen langsam zu heilen. Mit den Geschichten, dem gewonnen inneren Reichtum und den neuen Freunden, mit vielen mir bis dahin unbekannten Aktivitäten, hatte ich mich behutsam davongeschlichen, war im Inneren fernab von meinem „liebevollen Gott“.
In diese Zeit fiel auch die Erkenntnis, dass ich Männer liebe und nicht – wie im großen Weltenplan vorgesehen – Frauen. Das war der endgültige innere Bruch mit meiner Religion: ich passte ja schon von meiner Anlage her nicht dazu, da ließ sich auch durch noch so viel studieren und beten nichts machen. Wie so vieles, behielt ich auch dieses große Thema für mich und verachtete Gott für seine Banalität.
Der äußere Bruch kam während des Studiums. Ich wohnte nicht mehr bei meinen Eltern, war schon lange nicht mehr in den Zusammenkünften erschienen, plante meine berufliche Selbständigkeit, und war unerfüllt, aber heftig verliebt. Ich brauchte meine Kraft für andere Dinge, als dafür, ein religiöses Doppelleben aufrecht zu erhalten. Und ich brauchte einen klaren Schnitt, um einen klaren Kopf zu behalten.
Es war weniger schlimm, als ich erwartet hatte. Meine Familie war zwar entsetzt, als ich das Gespräch über meinen Austritt erbeten habe, aber genau genommen war es keine Überraschung für sie. Mir war bewusst, dass ich sie an diesem Tag möglicherweise alle zum letzten Mal sehen würde. Doch so kam es nicht. Sie haben aus Liebe zu mir ihren Glauben und ihren Gott verraten und zu mir gehalten, meine Geschwister tun es bis heute. Ich kann ihnen nicht genug danken für diese Großherzigkeit und diesen Mut. Ich wage nicht mir vorzustellen, was aus mir geworden wäre, hätte meine Familie sich verhalten wie Zeugen Jehovas.
Mein Austrittsbrief hatte drei Zeilen und war sehr klar, was Bekehrungsversuche betrifft: „Ich verbitte mir jegliche Kontaktaufnahme, sei es persönlich, per Telefon, Brief, oder Email.“ Seither habe ich nie wieder etwas von jemandem aus der „Versammlung“ gehört.
Gott sei Dank!
4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?
siehe Punkt 3.
5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?
Inzwischen leben von meiner Familie nur mehr meine beiden älteren Geschwister. Sie sind eher unabhängige Geister, beide aber noch Zeugen Jehovas. Wir haben zusammen unsere Eltern gepflegt und beim Sterben begleitet, sind verbunden, aber sicherlich nicht so tief, wie es ohne die Kluft des Glaubens möglich wäre.
Ansonsten fehlt mir keiner der mich ächtenden Zeugen Jehovas. Ich lebe immer noch in meiner Geburtsstadt, sehe ab und an jemanden von früher auf der Straße, der sich wegdreht, oder mir verlegen zunickt. Das tut aber nur kurz weh und erinnert mich, welchem Verein ich mal angehört habe und, dass ich mich früher auch weggedreht, oder jemandem kurz zugenickt habe.
Ich habe manche schöne Erinnerung an damals wichtige Menschen. Die bewahre ich, denke manchmal, was die wohl heute alle machen, wie sie sich fühlen, ob wir uns heute noch was zu sagen hätten … Ehrlich könnten wir nicht zueinander sein, sonst wär‘s gleich wieder vorbei … Aber solche Gedanken gehen schnell wieder weg und das war´s dann auch.
6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?
Es geht mir gut.
Ich war nach meinem Austritt (trotz der langen Vorbereitung und der milden Umstände) 10 Jahre lang in Psychotherapie. Ohne diese professionelle und liebevolle Begleitung hätte ich das nicht so relativ unbeschadet überstanden. Ich habe erkannt, dass die Lehren der Zeugen Jehovas mich imprägniert haben; ich hab‘ sie überall drin, und ich werde sie nicht loswerden. Aber: ich kann lernen, in Frieden damit zu leben, ihre toxische Wirkung klein zu halten und meine Kraft nicht aufs Leiden, sondern aufs Handeln zu richten. Jeden Tag von neuem, jeden Tag mehr. Ich bin nicht fertig mit alledem. Ein Kult-Ausstieg ist kein Ereignis, es ist ein Prozess, und der wird dauern.
Es ist ein guter Prozess; intensiv (noch immer), anstrengend (weil es Rückschläge gibt), heilsam (für mich und meine Lieben), verheißungsvoll (weil es besser und besser wird) und: das Bedeutsamste in meinem Leben, denn er hat mit ALLEM zu tun. Ich lerne Schritt für Schritt frei zu leben und es zu genießen.
7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit
Es war unauswechselbar meine Vergangenheit mit all dem Schlimmen und all dem Guten. Ich bin froh, das alles nicht nochmal erleben zu müssen, aber sie war richtig für mich, denn sie war dazu da, mich an genau den Punkt zu bringen, an dem ich jetzt stehe.
Ich helfe im Rahmen meiner Möglichkeiten anderen Zeugen-Jehovas-Aussteigern dabei, ihre Schritte auch in ein freies Leben zu lenken und für sich selbst verantwortlich leben zu können. Diese wunderbare (und anstrengende) Arbeit könnte ich nicht machen, diesen Beitrag für andere nicht leisten, wenn ich nicht meine Erfahrungen hätte. Ich versuche sie in etwas Gutes zu verwandeln.
8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?
Informiert Euch! Augen auf, Ohren auf, Herz auf, Gehirn an!
Glaubt nicht alles was man Euch erzählt!
Gebt die Verantwortung für Euer Leben nicht ab, nicht mal an einen Gott!
Nehmt wichtig, was IHR möchtet!
Lernt auf Eure innere Stimme zu hören, folgt Euren Gefühlen!
Wenn es Euch nicht gut geht, sucht Euch Hilfe, aber nicht bei den Zeugen Jehovas!
Und ganz ehrlich der beste Rat ist:
Nehmt die Beine in die Hand und rennt weg!
Mehr über Andreas erfährst du auch bei seinem Interview mit Jason Wittmann auf dessen YouTube-Kanal Traum[a]welt.
Teil 1 + Teil 2
Viel Freude beim Zusehen und -hören!