ÜberLebensweg – Kajana aus Münster

ACHTUNG – TRIGGERWARNUNG!
Kajanas ÜberLebensweg handelt von Gewalt, sexualisierter Gewalt und psychischen Belastungen.
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Kajana
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Meine Eltern sind Flüchtlinge aus Sri Lanka. Als dort Krieg war flohen wir nach Deutschland. Da war ich 1,5 Jahre alt. Meine Eltern waren sehr gläubige Hindus und wir waren eine sehr glückliche und normale Familie.
Eines Tages standen Zeugen Jehovas vor der Tür, da war ich ca. 4 Jahre alt. Ab da fing der Horror in meinem und unserem Leben an.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Auf einmal durfte ich im Kindergarten keinen Geburtstag, kein Weihnachten und keine anderen Feiertage mitfeiern. Als Kind war das sehr schlimm für mich. In der Schule durfte ich nicht mit auf Klassenfahrt, das war auch sehr schlimm.

Dienstags und Donnerstags fuhren wir immer mit dem Bus zur Versammlung und zurück, sodass wir immer sehr spät im Bett waren. Natürlich war es sehr schwer, am nächsten Morgen aufzustehen und zur Schule zu gehen.
Samstags morgens putzten wir dann den Königreichssaal, danach war Treffpunkt und anschliessend Predigtdienst. Sonntags morgens konnte ich auch nicht ausschlafen, sondern musste in die Versammlung. Wir hatten ein Freibad neben dem Königreichssaal und gerade bei schönem Wetter hörte man die Kinder dort schreien und lachen. Ich musste stillsitzen und bei bestimmten Begriffen Striche machen, durfte nicht einschlafen, nicht malen und wenn ich nicht leise war und nicht mehr still sitzen konnte, ist eine Glaubensschwester mit mir auf die Toilette. Dort bekam ich Schläge auf meinen Popo.
Einmal die Woche war Familienstudium für eine Stunde – das war auch Horror. Ich hätte lieber gerne draußen gespielt. Jeden morgen Tagestext lesen war langweilig. Im Predigtdienst andere Kinder spielen zu sehen machte mich neidisch.
Wir waren fast nie im Urlaub.
Jehova war der Mittelpunkt in unserem Leben.

Die Kongresse waren toll, weil wir unsere Freunde wieder getroffen haben und wir immer neue Kleidung bekamen. Das schönste an den Kongressen war vor dem Programm, in den Pausen und nachher mit Freunden zu spielen, zu reden und zusammen den Saal zu putzen.
Eigentlich hätte ich mir einfach nur ein normales Leben gewünscht, wie alle anderen Kinder auch. Und eine normale Entwicklung. Ich bin heute immer noch in einer Lernphase.

Das allerschlimmste war für mich, dass mein Vater schizophren wurde, als ich ca. 4-5 Jahre alt war. Er hat mich mit einem Bügeleisen auf höchster Stufe verbrannt. Ich kam in ein Krankenhaus und nach einer sehr langen Behandlung (wegen Verbrennungen 3. Grades) kam ich danach direkt in ein Kinderheim. Durch die Hilfe der Zeugen Jehovas musste ich dann aber doch wieder zu meinen Eltern zurück. Danach ging es weiter mit Züchtigung, Strafen, Schlägen mit Kochlöffel, Bambusstock, Gürtel oder was sonst gerade parat war, z.B. Barbie Puppe.
(Ich war jetzt nochmal in dem Kinderheim wo ich war. Ich wollte einfach ein bisschen Klarheit und wissen, was damals geschehen ist, wie der Ablauf war und Einsicht in meine Akte bekommen. Damit ich es verarbeiten kann. Dort versicherte man mir, dass es damals ein sehr großer Fehler war, mich zu meinen Eltern zu lassen. Heute würden die das niemals machen.)

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Gab es ein ausschlaggebendes Ereignis?

Mit drei kleinen Kindern war ich 24/7 ausgelastet. Kindergarten, Schule, Hausaufgaben, Kinder duschen, anziehen, schlafen lassen und abends Versammlung. Morgens immer Tagestext lesen, nebenbei noch Haushalt, kochen, den Wachtturm und alle anderen Publikationen vorstudieren, Aufgaben für 5 Minuten auf der Bühne (Predigtdienstschule) ausarbeiten und 1 x die Woche Familienstudium, Samstag morgens Predigtdienst und Saalreinigung, Sonntags Versammlung.
Große Kongresse gingen über drei Tage. Die Vorbereitungen dafür, und dann 3 Tage lang von 9 Uhr bis 16-17 Uhr mit Kindern, Sitzplatzsuche, Wickeln, Stillen… Es war alles nur stressig und zuviel gewesen.

Als meine Jüngste 6 Monate alt war, hatten wir einen Kongress in Hamburg im Altona Stadium. Dort brach ich das erste mal zusammen und habe das ganze Programm über im Auto geschlafen. Dann bekam ich auf Kongressen immer Panikattacken und zum Schluss auch in der Versammlung. Ich meldete mich von der Predigtdienstschule ab, ging nicht mehr in den Predigtdienst und zum Schluss auch nicht mehr zur Versammlung. Mein schlechtes Gewissen war aber stärker und lauter. Ich war ja Tochter und Ehefrau von Ältesten. Wenn es nach der Versammlung Ältestenbesprechungen gab, kamen wir manchmal erst um Mitternacht nach Hause.
Ich konnte einfach nicht mehr und fing an, Alkohol zu trinken. Es wurde immer mehr, vor allem abends. Bis ich einen Burn Out hatte. Ich kam für drei Monate in eine Psychiatrische Klinik. Dort wollte ich meine Ruhe und nahm Abstand von allem. Ich lernte einen sehr netten Mitpatienten kennen und wir machten viel gemeinsam. Spazieren gehen, reden, puzzeln, malen usw. Meinem Mann gefiel es nicht, als er das sah. Er sagte, ich soll Abstand halten zu anderen Männern. Ich wollte mir diesmal aber nichts vorschreiben lassen. Also ließ ich mich auf den Mann ein und während eines Spaziergangs kamen wir uns näher. Es hat sich toll angefühlt. Direkt danach rief ich meinen Mann und die Ältesten an. Trotzdem, dass ich labil war, bestanden sie natürlich auf die Komiteesitzung mit ihnen und obwohl ich das nicht wollte, ging ich hin.
Ich sollte bereuen. Ich war selber so durcheinander und labil und gleichzeitig noch in Behandlung. War nur am Weinen.
Dann fragten sie mich, wie es dazu kommen konnte und ob ich als Kind sexuell misshandelt wurde. Ich sagte Ja, und weinte bitterlich. Der Missbrauch fand statt, als ich ca. 3 Jahre alt war und bevor meine Eltern Zeugen Jehovas wurden. Mein Vater bekam damals viel Männerbesuch. Dann wollten die Ältesten Einzelheiten wissen. Wer, wie, wo, was usw. Ich war fix und fertig danach. Ich sollte nach der Sitzung kurz draußen warten und dann riefen sie mich wieder rein und sagten mir, da ich nicht bereue (trotz, dass ich so bitterlich weinte) würden sie mir die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas entziehen und mich ausschließen. Eine Welt brach zusammen für meinen Mann, meine Kinder, mich, Familie, Freunde – einfach alle.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Als Kind fand ich es schon nicht so toll. Aber als ich später einen weltlichen Freund fand und wir uns näher kamen, wollte ich ihn wegen der Sünde vor Jehova und meines Gewissens heiraten. Mein Vater zwang ihn, die Bibel zu studieren und sich taufen zu lassen. Dies tat er auch und war sehr schnell mittendrin und ein sehr gläubiger Zeuge. Wir verlobten uns mit 17 und mit 18 heirateten wir.
Ich machte noch eine Ausbildung nebenbei. Ich bin die einzige, die eine Ausbildung hat. Meine Geschwister haben beide die Ausbildung abgebrochen, weil ihnen alles zuviel wurde. Zum Ende der Ausbildung wurde ich schwanger.

Irgendwann war ich dann selber eine sehr überzeugte Zeugin und belehrte meine Kinder von klein auf über Jehova. Als meine Kinder in den Kindergarten kamen fing es dann an, weil ich an meine Kindheit dachte und wie es mir damals dabei ging. Immer musste ich überall vorsprechen „Meine Kinder machen das nicht und dies nicht!“ Dann sprach ich eines Tages meinen Vater und sagte ihm, meine Kinder tun mir leid. Donnerstag abends so spät ins Bett und morgens früh aufstehen, das ist sehr schwer, die Kinder sind sehr müde und das tut mir so leid. Er sagte nur, ich dürfe nicht so denken und zweifeln, weil das alles für Jehova ist.
Ich war noch total unerfahren, um Kinder zu erziehen.

5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Oh jaaaaaa und wie!
Als mein Ausschluss in der Versammlung bekannt gemacht wurde, war ich zuhause. Als ich nach der Versammlung auf mein Handy schaute, verschwanden immer mehr Bilder aus meinem Whats App.
Natürlich versuchten einige – auch meine Familie – mit mir das Gespräch zu suchen und mich zu bekehren. Ich war aber in diesem Moment nicht in der Lage zu reden. Alles brach zusammen.
Und weltliche Freunde durften wir nicht haben.
Mein Mann sagte dann: „Zieh aus! Komm nicht wieder!“ Wir erklärten den Kindern, dass wir uns trennen. Die Kinder wollten unbedingt bei ihrem Vater bleiben und ich dachte, mein Leben ist jetzt sowieso kaputt, dann ist es wirklich besser, sie bleiben bei ihm. Ich musste mein Leben erst wieder aufbauen und klarkommen.
Vorübergehend wohnte ich im selben Haus im Keller.

Meine ganze Familie nahm Abstand, weil ich ja alles kaputt gemacht hatte.
So blöd wie ich damals war, vertraute ich meinem Ex und gab ihm das komplette Sorgerecht. Größter Fehler! Er war ein Choleriker und so behandelte er auch meine Kinder. Er schlug sie, schrie sie an und machte ihnen Angst. Meine Kinder liefen weg. Meine Geschwister stellten einen Antrag bei Gericht und nahmen meine Kinder zu sich. Ich äußerte noch vor Gericht, dass meine einzigen Bedenken die Religion wären, und dass meine Kinder den Kontakt zu mir irgendwann komplett abbrechen werden. Denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich zu allen drei Kindern sehr guten Kontakt und eine sehr gute Beziehung mit regelmäßigen Treffen, Ausflügen und Übernachtungen bei mir. Es war immer sehr lustig, harmonisch und wunderschön. Sie wollten sogar länger bleiben und nicht zum Vater zurück.

Natürlich war ich selber noch in der Verarbeitungsphase. Als meine Kinder mich um Hilfe baten, war ich nicht in der Lage, den Termin beim Jugendamt wahrzunehmen. Das verzeihen sie mir nicht. Also schaltete die Versammlung meine Geschwister ein, damit meine Kinder erst mal vom Vater weg kommen. Bei einer Schwester waren sie während der Gerichtsverhandlung vorübergehend untergebracht. Dort entwickelten sich meine Kinder sehr gut. Sie bekamen Therapie. Und waren soweit ganz glücklich. Der Umgang mit mir war auch sehr gut. Besonders meine Jüngste war sehr anhänglich und wollte immer kuscheln. Sie brauchte ganz viel Liebe von Mama.

Jetzt haben meine beiden Älteren (inzwischen getauft) gar keinen Kontakt mehr zu mir. Und meine Jüngste leidet an PAS [PAS = „Parental Alienation Syndrom“, wenn von einer gewollten Entfremdung eines Kindes vom anderen Elternteil ausgegangen wird – Anm. JZ Help e.V.].
Sie ist in der Schule schlecht geworden, ist schnell überfordert, muss sich viel Ruhe gönnen. Jetzt soll sie auch noch den Gitarrenunterricht pausieren, was der Lehrer sehr bedauert, denn sie ist seine beste Schülerin. In eine andere Richtung wird nicht gedacht. Vielleicht, dass mein Kind von Versammlung, Predigtdienst, Bibelstudium und dem ganzen Zeug mal pausieren sollte.

b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?

Weil ich ausgeschlossen bin und nicht an Jehova glaube. Um mich zurück zu gewinnen, betreibt man diesen Kontaktabbruch. Ein sehr großer Konflikt für meine jüngste Tochter. Das Ächten ist 100 Prozent von oben angeordnet, damit keiner nach rechts oder links schaut. In den neuen aktuellen Publikationen wird auch vor uns gewarnt. Uns Ausgeschlossenen sei kein Gehör zu schenken.
Wenn also einer eurer Familienmitglieder ausgeschlossen wird, handelt „in Liebe zu Jehova“ und seid ihm gehorsam! Denn dann gibt es eine Möglichkeit, dass Ausgeschlossene zurückkommen. So sagen sie.
Und es wird immer schlimmer…
Dazu die Webseite der Organisation JW(dot)org besuchen und mal die Kindervideos oder die aktuellen Studienausgaben des Wachtturms anschauen.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Ich leide sehr wegen meinen Kindern, besonders aber wegen meiner Jüngsten. Ich weiß sie liebt, braucht und vermisst mich, ist aber in Konflikt mit den Lehren Jehovas.
Mittlerweile bin ich soweit, dass ich mit Jehovas Zeugen und meiner Familie abgeschlossen habe. Das einzige, warum ich mich damit noch beschäftige, sind meine Kinder.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Zeugen Jehovas machen meiner Erfahrung nach das ganze Leben eines Menschen kaputt. Ich wünschte mir, ich könnte die Uhr nochmal zurück drehen und als Kind nochmal komplett neu anfangen. Wir haben auf so vieles verzichtet. Und das schlimme ist, selbst wenn die Zeugen Jehovas verboten würden, werden die noch immer daran glauben. Sie sagen ja, „das Ende ist sehr nahe, denn es wurde vorausgesagt, dass am Ende alle gegen die Zeugen sein werden, aber wir müssen uns fest an Jehova halten.“
Die Gläubigen werden nie erkennen, was da wirklich los ist. So verblendet sind sie. Hätte ich meine Kinder nicht, wäre ich schon viel früher damit durch gewesen und könnte einen kompletten Schlussstrich ziehen.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Bloß die Hände weg davon! Das sind meiner Meinung nach Heuchler, die euer ganzes Leben kaputt machen können. Sie zerstören Familien, erzeugen psychische Krankheiten. Manche bis zum Selbstmord. Das ist nur eine menschliche Organisation die euch verar***t.

Habt ein gutes Herz, seid gastfreundlich, habt Mitgefühl, behandelt andere Menschen mit Respekt, seid hilfsbereit, und noch viele weitere gute Eigenschaften. Und dafür braucht man keine Religion!

Buddha hilft mir für meinen inneren Frieden. Oder die 10 Lebensregeln im Hinduismus.
Glaube an Karma, die guten Taten wirken positiv auf unser Leben und schlechte Handlungen werden negative Konsequenzen haben. Das, was du tust, kriegst du zurück.

Für mich ist Liebe das Wichtigste in dieser Welt!

„Für die Liebe darf man alles verlieren, aber verliere niemals die Liebe für irgendetwas!“
Das waren die Worte meines Vater als er noch im Hinduglauben war.