Zusammenfassung – Mental Health, Religion & Culture, 2023 

Deutsche Zusammenfassung des auf Englisch publizierten Artikels Thoma et al., Mental Health, Religion & Culture, 2023 

Gesundheit und Wohlbefinden ehemaliger Zeugen Jehovas in Deutschland, Österreich und der Schweiz 

Im Folgenden werden die Resultate der Publikation «Characteristics of health and well-being in former Jehovah’s Witnesses in Austria, Germany, and Switzerland» (2023) zusammengefasst. 

Die Studie entstand im Rahmen des Forschungsprojekts «Psychologische Belastung und Resilienz nach dem Austritt oder Ausschluss aus einer fundamentalistischen christlichen Glaubensgemeinschaft» an der Universität Zürich. 

Hintergrund und Ziele der Studie

Es gibt nur wenige Studien zum Befinden ehemaliger Mitglieder fundamentalistischer christlicher Glaubensgemeinschaften. Das Verlassen einer solchen Gruppe ist mit hohem Stress verbunden – ganz besonders, wenn zu ehemaligen Mitgliedern der Kontakt abgebrochen werden muss, sie „geächtet“ werden, wie das bei den Zeugen Jehovas der Fall ist. Durch die Abgeschlossenheit der Gruppe sind Ausgestiegene mit dem Verlassen der Gruppe oft sozial komplett isoliert. Es ist davon auszugehen, dass ehemalige Mitglieder der Zeugen Jehovas besonders gefährdet sind, schlechte körperliche und psychische Gesundheit zu entwickeln.

Daraufhin weisen die Resultate der ersten Studie des Forschungsprojektes «Psychologische Belastung und Resilienz nach dem Austritt oder Ausschluss aus einer fundamentalistischen christlichen Glaubensgemeinschaft». 38 % der Ausgestiegenen aus fundamentalistischen christlichen wurden als gefährdete Personen identifiziert: Ihr Wohlbefinden und ihre psychische Gesundheit waren beeinträchtigt. 

Die dritte Studie des Forschungsprojekts fokussiert auf ehemalige Zeugen Jehovas, die 68 % der Teilnehmenden des Forschungsprojekts ausmachten. Es werden auch Belastungen in der Kindheit sowie die Art des Ausschlusses, ob selbst gewählt oder unfreiwillig, berücksichtigt. Die Studie will folgende Fragen beantworten: 

  • Was zeichnet ehemalige Zeugen Jehovas aus und wie steht es um ihre Gesundheit sowie ihr Wohlbefinden?
  • Anhand welcher Eigenschaften können besonders gefährdete Personen erkannt werden?

Datenerhebung und Datenanalyse

Die Studie wurde zwischen Februar und Juni 2021 durchgeführt. Volljährige deutschsprachige ehemalige Mitglieder fundamentalistischer christlicher Glaubensgemeinschaften aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz konnten daran teilnehmen, indem sie einen Online-Fragebogen ausfüllten. In diese Publikation wurden die Daten der 424 Teilnehmenden einbezogen, die angaben, ehemalige Zeugen Jehovas zu sein. Davon waren 65 % weiblich und 35 % männlich. 

Im Online-Fragebogen wurden sozio-demografische Angaben wie Alter und Geschlecht, aber auch Ausbildung und Beruf, Angaben zu Mitgliedschaft, Austritt/Ausschluss und der aktuellen Situation, Stress und Trauma, Wohlbefinden, und Angaben zur körperlichen und psychischen Gesundheit erfragt. 

Die Teilnehmenden wurden je nach Art des Ausscheidens aus der Religionsgemeinschaft in drei Gruppen eingeteilt: 1. ausgeschlossen, 2. ausgetreten aufgrund traumatischer Erfahrungen und 3. ausgetreten aufgrund persönlicher Gründe. 

Weil die meisten der teilnehmenden Personen in Deutschland wohnhaft waren, wurden für Vergleiche soziodemographische Vergleichsdaten aus Deutschland herangezogen. 

Ergebnisse 

Merkmale der Stichprobe

Von den 424 Teilnehmenden der Studie waren 65 % weiblich, 35 % männlich, das Durchschnittsalter betrug 42 Jahre. 87 % der Teilnehmenden wohnten in Deutschland, 8 % in der Schweiz, 5 % in Österreich.

Im Vergleich zur deutschen Allgemeinbevölkerung waren die Teilnehmenden der Studie häufiger ledig, getrennt lebend, geschieden oder verwitwet (23 % vs. 33 %). Ansonsten waren ihre soziodemographischen Daten, mit Ausnahme der Überrepräsentation der Frauen, mit jenen der deutschen Allgemeinbevölkerung vergleichbar.  

Angaben der Teilnehmenden zu Vernachlässigung und Misshandlung

Formen von Vernachlässigung und Kindesmisshandlung wurden von den Studienteilnehmenden drei bis sechsmal häufiger berichtet als in der deutschen Allgemeinbevölkerung. Nur von körperlicher Vernachlässigung berichteten die Teilnehmenden in der aktuellen Studie seltener.

Stichprobe ehemaliger ZJDeutsche Allgemeinbevölkerung
Emotionale Vernachlässigung81 %13.9%  
Körperliche Vernachlässigung33 %48.4 %
Emotionale Misshandlung65 %10.2 %
Körperliche Misshandlung34 %12 %
Sexueller Missbrauch18 %6.2 %

Mehr weibliche als männliche Teilnehmende gaben an, von Kindesmisshandlung betroffen gewesen zu sein. Auch bezüglich des Schweregrads gaben Frauen ein größeres Ausmaß von Kindesmisshandlung an als Männer. Hingegen gab es keine Geschlechtsunterschiede bezüglich emotionaler oder körperlicher Vernachlässigung. 

Die Autor:innen der Studie weisen darauf hin, dass die Kindesmisshandlung (auch) vor der Mitgliedschaft stattgefunden haben könnte. Angesichts der Tatsache, dass ein Großteil der Teilnehmenden in die Glaubensgemeinschaft hineingeboren worden ist und das Sozialleben größtenteils auf die Glaubensgemeinschaft beschränkt war, muss von einem Zusammenhang zwischen Mitgliedschaft und dem Risiko, Opfer von Kindesmisshandlung zu werden, ausgegangen werden.

Gründe für den Beitritt zur Glaubensgemeinschaft 

66 % der Teilnehmenden waren in die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas hineingeboren worden, 17 % waren in ihrer Kindheit beigetreten, 6 % während der Adoleszenz und 11 % im Erwachsenenalter. Minderjährige waren mit ihren Eltern oder anderen nahestehenden Personen beigetreten. 

Andere Gründe für den Beitritt waren der Glaube, die Suche nach einer Lösung für persönliche Probleme oder nach Antworten, der Lebensstil, der Kontakt zu nahestehenden Personen, beigetretene Freunde und Familienmitglieder, die Suche nach einem Ort der Zugehörigkeit oder nach Unterstützung infolge eines Schicksalsschlags. 

Soziales Leben während der Mitgliedschaft 

Bei 62 % der Teilnehmenden war ein großer Teil der Familie oder die gesamte Familie Teil der Glaubensgemeinschaft, von 71 % waren viele oder alle engen Freundinnen und Freunde Teil der Glaubensgemeinschaft. 75 % der Befragten reduzierten Kontakt zu Außenstehenden oder brachen ihn ganz ab aufgrund der Vorstellungen der Glaubensgemeinschaft. 

Verbundenheit, Aktivitäten der Glaubensgemeinschaften und Finanzielles 

Von den Teilnehmenden fühlten sich 62 % während ihrer Mitgliedschaft der Glaubensgemeinschaft (sehr) stark verbunden und verbrachten durchschnittlich fast 16 Stunden pro Woche damit, die Ziele der Glaubensgemeinschaft mitzuverfolgen: durch den Besuch von Versammlungen, Missionieren oder Studium der Wachtturm-Literatur. 

Entsprechend gaben 70 % an, immer oder oft nicht genug Zeit für eigene Verpflichtungen gehabt zu haben. 56 % investierten Geld in die Glaubensgemeinschaft, wovon 8 % deswegen in (große) finanzielle Schwierigkeiten gerieten. 

Art des Verlassens der Glaubensgemeinschaft und Gründe dafür

Zum Zeitpunkt der Online-Fragebogen-Studie betrug die durchschnittliche Dauer seit Verlassen der Zeugen Jehovas fast 13 Jahre, wobei die durchschnittliche Mitgliedschaftsdauer fast 30 Jahre betrug. Die Hälfte verließ die Zeugen Jehovas freiwillig, 21% wurden von dieser Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen und 31 % verließen sie aufgrund von Erfahrungen von Kindesmisshandlung. 

Gründe für freiwillige Austritte waren Zweifel an den Lehren, Einschränkungen und abweichende Moralvorstellungen, teilweise aber auch erlebte oder beobachtete Misshandlungen, Konflikte, die Verlagerung des Lebensmittelpunktes und in seltenen Fällen der Wechsel zu einer anderen Glaubensgemeinschaft. Für 16 % der Teilnehmenden führte der Ausschluss aus der Gemeinschaft auch zur Auflösung ihrer Ehe oder Partnerschaft. 

Umgang und Erlebnisse nach Verlassen der Glaubensgemeinschaft 

Von den Teilnehmenden berichteten 65 % über Verbesserungen ihrer psychischen und 47 % ihrer körperlichen Gesundheit nach Verlassen. 6 % berichteten, keine psychischen Veränderungen wahrgenommen zu haben und 29 % berichteten von Verschlechterungen. 34 % berichteten, keine körperlichen Veränderungen wahrgenommen zu haben und 20 % berichteten von Verschlechterungen. 

Nach Verlassen nahmen 31 % der Teilnehmenden professionelle Hilfe in Anspruch. 38 % sahen sich in einer Krise und wussten nicht mehr, was sie mit ihrem Leben machen sollten. 33 % berichteten von Suizidgedanken und 10 % unternahmen einen Suizidversuch. 

Bei 37 % zeigte sich ein anderes Bild, sie genossen ihr Leben in vollen Zügen und unternahmen Dinge, die ihnen vorher verboten worden waren. 58 % knüpften neue Freundschaften oder bauten Kontakt zu früheren Bekanntschaften wieder auf. 

77 % der Befragten erlebten Ächtung durch aktive Zeugen Jehovas. 71 % mussten Beziehungen innerhalb der Glaubensgemeinschaft aufgeben. 36 % hatten Angst vor einer Strafe durch Gott. 7 % berichteten von keinen negativen Folgen. 

Generelle Aspekte und der Glaube 

15 % wurden stark und 11 % sehr stark im Alltag durch ihre ehemalige Mitgliedschaft beeinflusst. Bei 13 % der Teilnehmenden wurde der Glaube nach Verlassen schwächer, bei 59 % sogar deutlich schwächer. 

Aktuelle Lebensqualität und Gesundheit 

Grundsätzlich berichteten die Teilnehmenden von moderater körperlicher und signifikant beeinträchtigter psychischer Gesundheit. 

  • 43 % gaben an, mit einer chronischen körperlichen Erkrankung zu leben, die sie unterschiedlich stark in ihrem Alltag beeinträchtigte (Vergleich Deutschland: 26.5 %) 
  • 36 % nahmen regelmäßig Medikamente gegen körperliche Beschwerden ein. 
  • 41 % hatten eine diagnostizierte psychische Störung (Vergleich Deutschland: 27.7%)
    28 % befanden sich aktuell in Psychotherapie und 20 % nahmen regelmäßig Medikamente gegen ihre psychischen Beschwerden ein. Weibliche Teilnehmende gaben mehr psychische Symptome an als männliche.
  • Das Stresslevel der Teilnehmenden war relativ hoch (Skalen-Wert von 19.39 vs. 12.57 in repräsentativer deutscher Studie). Auch hier gaben weibliche Teilnehmende ein höheres Stresslevel an als männliche. 
  • Ihre Lebensqualität wurde von den Teilnehmenden als relativ tief wahrgenommen, hier auch bei weiblichen Teilnehmenden tiefer als bei männlichen (Skalen-Wert von 11.26 vs. 17.58 in repräsentativer deutscher Studie).

Die Dauer der Mitgliedschaft zeigte keinen Einfluss auf die aktuelle psychische Gesundheit oder Lebensqualität, dafür jedoch auf das aktuelle wahrgenommene Stresslevel. Je länger die Mitgliedschaft dauerte, desto tiefer fiel das aktuelle Stresslevel aus. Je mehr Zeit zwischen dem Verlassen und der Studie lag, desto besser war der aktuelle psychische Gesundheitsstatus. 

Teilnehmende, welche die Glaubensgemeinschaft aus persönlichen Gründen verlassen hatten, erlebten weniger Stress und berichteten über eine bessere Lebensqualität als Teilnehmende, welche die Gruppe nach traumatischen Erfahrungen verlassen hatten. Diese berichteten von mehr psychischen körperlichen Symptomen und auch von mehr erfahrener Misshandlung als Kind. 

Schlussfolgerung 

Dem hohen Vorkommen von Kindesmisshandlung in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas muss sowohl von Seiten der Forschung als auch von Seiten der Glaubensgemeinschaft Aufmerksamkeit geschenkt werden. 

Es gibt recht große Unterschiede bezüglich Wohlbefinden und Gesundheit der Befragten nach dem Verlassen der Gemeinschaft geht. Das mag mit den Gründen und den Umständen des Ausschlusses zu tun haben, aber auch mit dem individuellen Umgang mit stressreichen Lebenssituationen. 

Bezüglich der körperlichen und psychischen Gesundheit weichen ehemalige Mitglieder der Zeugen Jehovas deutlich von der Allgemeinbevölkerung ab. Gründe hierfür könnten die Erfahrungen nach dem Verlassen der Zeugen Jehovas sein, da ehemalige Mitglieder oft Ächtung erleben, Beziehungen und Partnerschaften verlieren und somit großem Stress ausgesetzt werden, der sich negativ auf die Gesundheit auswirken kann. 

Um solche negativen Effekte zu vermindern, könnten spezifisch zugeschnittene medizinische und psychotherapeutische Maßnahmen eingesetzt werden. Insbesondere Personen, die in dieser Studie als Hochrisikogruppe anhand ihres stark beeinträchtigten körperlichen und psychischen Gesundheitszustands erkannt wurden, könnten davon profitieren. 

Referenz 

Thoma, M.V., Goreis, A., Rohner, S.L., Nater, U.M., Heim, E. & Höltge, J. (2023) Characteristics of health and well-being in former Jehovah’s Witnesses in Austria, Germany, and Switzerland. Mental Health, Religion & Culturehttps://10.1080/13674676.2023.2255144