Ziviler Ersatzdienst und Zivildienst

Tausende Zeugen Jehovas sind in Deutschland vorbestraft­ – weil sie gezwungen waren, den zivilen Ersatzdienst und Zivildienst abzulehnen. In den 1960er Jahren verbüßten deshalb viele junge Zeugen-Jehovas-Männer monatelange Gefängnisstrafen. Diese Vorstrafe schränkte später viele  in ihrer beruflichen und gesellschaftlichen Entwicklung ein. Doch sie hatten keine Wahl: Hätten sie den zivilen Ersatzdienst oder Zivildienst absolviert, wären sie wie Ausgeschlossene geächtet und mit einem Kontaktverbot belegt worden und sie hätten Familie und Freunde verloren.

Wolfram Slupinas falsche Behauptung

In einem Interview in der taz am 1. 11. 1997 antwortete Wolfgang Slupina von der Leitung der Zeugen Jehovas in Deutschland zum Thema Zivildienstverweigerung folgendermaßen:

Zivildienst haben Sie abgelehnt?
„Weil er dem Verteidigungsministerium zugeordnet war. Jetzt untersteht er dem Familienministerium. Und ist dadurch kein Tabu mehr. Jeder Zeuge muß also selbst entscheiden.“

Mit der Aussage, dass Zivildienst jetzt „kein Tabu mehr“ sei, gesteht Slupina ein, dass der Zivildienst vorher bei den Zeugen Jehovas nicht erlaubt war. Mit schwerwiegenden Folgen für junge Männer, die deshalb ins Gefängnis mussten.

Dabei ist die Behauptung, der Zivildienst sei früher dem Verteidigungsministerium zugeordnet gewesen, falsch. Tatsächlich wird in einer Chronik des Bundesamtes für Familie und gesamtgesellschaftliche Aufgaben ausgeführt, dass bereits 1965 der Zivildienst an das Bundesverwaltungsamt, eine nachgeordnete Behörde des Bundesministeriums des Innern, verlagert wurde. 1975 wurde die Errichtung des Bundesamtes für den Zivildienst als selbstständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung eingerichtet.

Gemäß den Ausführungen von Slupina hätte der zivile Ersatzdienst bei den Zeugen Jehovas seit 1965, spätestens jedoch seit 1975, erlaubt sein müssen. Das war aber nicht der Fall. Generationen junger Männer wurden von der Leitung der Zeugen Jehovas ohne Grund ins Gefängnis geschickt.

Sanktionen bei den Zeugen Jehovas

Wenn ein Zeuge Jehovas trotz Verbot Zivildienst leistete, verstieß er damit gegen die Vorschrift der „Neutralität“ – mit der Konsequenz, dass ein Ältesten-Komitee „das Verlassen der Gemeinschaft“ feststellte und er in der Folge sozial geächtet und mit einem Kontaktverbot belegt wurde.

„Wenn jemand einen Lauf einschlägt, der im Widerspruch zur neutralen Haltung der Christenversammlung steht, ist die Versammlung gezwungen, ihn as jemand zu betrachten, der sich dafür entschieden hat, sich von uns zu trennen. Die Versammlung sollte daurch eine kurze Bekanntmachung unterrichtet werden, dass der Betreffende durch die von ihm gewählte Handlungsweise zeigt, dass er kein Zeuge Jehovas mehr sein möchte.“(Ältestenbuch ks91, S. 101, 102)

„Jehovas Zeugen verhalten sich gegenüber den politischen und militärischen Angelegenheiten der Nationen neutral […] Da wahre, Gott hingegebene Christen kein Teil der Welt sind, verläßt ein Glied der Versammlung, das fortgesetzt die christliche Neutralität verletzt und nicht bereut, durch seine Handlungsweise die Gemeinschaft […]“ (Ältestenbuch ks91, S. 140)

Es gab eine Ausnahme für zivile Tätigkeiten, unter die der zivile Ersatzdienst oder Zivildienst jedoch nicht fiel.
„In einigen Ländern wird von allen Personen verlangt, Straßen zu bauen oder auf dem Feld zu arbeiten. Sofern dies keine Form des Militärdienstes ist, sondern mit einer Steuer zu vergleichen ist, wäre dagegen nichts einzuwenden […] „(Ältestenbuch ks91, S. 141).

Weil jedoch der zivile Ersatzdienst oder Zivildienst nicht alle Personen betraf, wurde er von der Wachtturm-Organisation als eine Form des Militärdienstes betrachtet, der für Mitglieder nicht gestattet war.

Raymond Franz, ehemaliges Mitglied der Leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas in den USA, beschrieb in seinem Buch  Der Gewissenskonflikt (2014, orig. 1983) ausführlich die Hintergründe für die Verbote im Zusammenhang mit der Neutralität bei Ersatzdiensten.

Seit wann ist Zivildienst bei Jehovas Zeugen gestattet?

„1996 öffnete sich die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas gegenüber zivilem Wehrersatzdienst. Zeugen Jehovas, die sich zum Ersatzdienst entschließen, werden seitdem nicht mehr als ausgeschlossen oder ausgetreten betrachtet.“ (Wikipedia – Kriegsdienstverweigerung der Zeugen Jehovas)

1996 erschien ein Wachtturm, in dem erstmalig zugestanden wurde, dass der Zivildienst eine freie Gewissensentscheidung eines jeden männlichen Zeugen Jehovas ist. (w96 1. 5. S. 19, Zivile Dienste)

[…] In vielen dieser Länder ist vorgesehen, daß Personen, die ihrem Gewissen folgen, nicht zum Kriegsdienst gezwungen werden. Manche Länder verlangen von den Betreffenden, Zivildienst zu leisten, zum Beispiel eine nützliche Tätigkeit für das Allgemeinwohl zu verrichten, die als nichtmilitärische Dienstpflicht betrachtet wird. Könnte ein Christ einen solchen Dienst durchführen? Auch in diesem Fall muß ein Gott hingegebener, getaufter Christ eine persönliche Entscheidung treffen, gestützt auf sein biblisch geschultes Gewissen. (Abs. 16)

Doch was ist, wenn der Staat von einem Christen für einen begrenzten Zeitraum einen zivilen Dienst verlangt, der Bestandteil einer staatlichen Dienstpflicht ist, die unter der Verwaltung einer Zivilbehörde steht? Auch in diesem Fall muß der Christ eine persönliche Gewissensentscheidung treffen, nachdem er sich informiert hat […] (Abs. 19)

[…] Die ernannten Ältesten sollten, wie alle anderen auch, das Gewissen des Bruders voll und ganz respektieren und ihn weiterhin als Christen betrachten, der in gutem Ruf steht. Sollte ein Christ dagegen das Empfinden haben, diesen zivilen Dienst nicht leisten zu können, sollte auch seine Haltung respektiert werden […] (Abs. 21)

Keine Entschuldigung und keine Entschädigungen für die Betroffenen

Von der Leitung der Zeugen Jehovas kam nie eine Entschuldigung oder gar Entschädigung für all jene, die in den 1960er Jahren viele Monate in Gefängnissen absaßen. Für Betroffene war das mit enormen Kosten verbunden. Die jungen Männer, von denen manche bereits Familien hatten, wurden aus ihrem sozialen und beruflichen Kontext herausgerissen. Die Zäsur des Gefängnisaufenthaltes wirkte sich oft auf die berufliche Entwicklung aus und die Vorstrafe stellte für manche ein Handicap dar, das den weiteren Verlauf ihres Lebens bestimmte.

Die Wachtturm-Organisation stellt es heute so dar, als ob die Verweigerung des Zivildienstes nicht die Folge des Verbots der Organisation, sondern vielmehr die freie Entscheidung jedes einzelnen war. Es wird gar insinuiert, dass sich die Betroffenen das erlebte Leid selbst zuzuschreiben hätten, weil sie nicht fähig waren, „die Dinge ausgeglichener zu sehen“.

In der Vergangenheit haben einige Zeugen Jehovas leiden müssen, weil sie eine Tätigkeit ablehnten, die ihr Gewissen heute zulassen würde. Das könnte zum Beispiel mit der Entscheidung zusammenhängen, die sie vor Jahren hinsichtlich bestimmter Formen von zivilen Diensten getroffen haben […]“

In der Neuzeit gab es einige Zeugen Jehovas, die sehr streng mit sich selbst waren, was sie tun oder nicht tun durften. Aus diesem Grund hatten sie mehr zu leiden als andere. Später half ihnen eine vermehrte Erkenntnis, die Dinge ausgeglichener zu sehen. Aber es gibt für sie keinen Grund, zu bedauern, daß es seinerzeit womöglich zusätzliches Leid bedeutete, im Einklang mit ihrem Gewissen zu handeln […]“ (w98 15. 8. S. 16-17, Abs. 6, 9)

Weitere Informationen zum Gebot der „Neutralität“ und zu deutlichen Hinweisen auf ein Wahlverbot finden Sie hier.

Presse- und Erfahrungsberichte

Gemäß vorgenannten Ausführungen waren die nachfolgenden Aussagen Betroffener nicht der freien Gewissensentscheidung geschuldet, wie von ihnen verlautet, sondern einem Verbot durch die Leitung der Zeugen Jehovas.

Mehrere Haftstrafen für Zeugen Jehovas bei Totalverweigerung
12.11.1965 ∙ Nordschau ∙ NDR

Die Zeugen Jehovas gehen für ihren Glauben auch ins Gefängnis, z.B. als Wehr- und Ersatzdienstverweigerer. Ein Zeuge Jehovas begründet seine Verweigerung. Generalstaatsanwalt Eduard Nehm denkt über Lösungen nach.
NDR, Norddeutsche Geschichte(n) | 28.03.1965

Zivildienst oder nicht – war für einen Zeugen Jehovas nie eine Gewissensfrage?
Presseartikel und Erfahrungsbericht eines Betroffenen
Netzwerk Sektenausstieg, Gerhard Hempel, 01.07.2001