ÜberLebensweg – Yvi Burian aus Hessen

Yvi Burian aus Hessen
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Ich wurde quasi reingeboren. Ursprünglich stamme ich aus einer römisch-katholischen Familie, sudetendeutscher väterlicherseits und oberschlesischer mütterlicherseits und ich wurde auch in einer Nottaufe römisch-katholisch getauft. Mit 4 Jahren änderte sich mein Leben und das der Familie grundlegend, da meine Mutter nach mehreren familiären Todesfällen von den Zeugen Jehovas gefischt wurde. Die gesamte Familie, d.h. Verwandtschaft wurde dadurch nachhaltig zerrüttet.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Irgendwie war ich anders als andere Kinder, weil es diese Regeln der Glaubensgemeinschaft gab, an die ich mich halten sollte und es doch nie richtig konnte. Die Kindheit und Jugend war von Angst geprägt. Angst etwas falsch zu machen, Angst vor Dämonen, die durch Wände kommen können, Angst davor, in Harmagedon sterben zu müssen. Angst, dass meine Familienangehörigen und Freunde sterben müssen, weil sie keine Zeugen Jehovas sind. Bei Gewitter mit Donnern und Blitzen hatte ich immer Angst, dass es jetzt losgeht und die Welt untergeht. Ich litt massiv an Essstörungen, Depressionen, Alpträumen und Angstzuständen.

Die Kindheit war sehr gewalttätig, ich wurde z.B. oft als Kindergartenkind stundenlang ins Kinderzimmer eingesperrt, wenn kein Kindergarten war. Meine Mutter war sehr brutal zu mir mit der Begründung: „Wer sein Kind liebt, der züchtigt es!“, weil das so in der Bibel steht. Als ich selber das Jugendamt und die Polizei anrufen wollte, damit die mich retten, drohte sie mir, dass ich dann meine ganze Familie und Freunde nie wieder sehen würde und ins Kinderheim käme und in Harmagedon sterben muss, wenn ich draußen erzähle, was wirklich passiert. Um meine geliebte Familie und Freunde nicht zu verlieren, schwieg ich dann und setzte keinen Notruf ab. Ich war innerlich zerrissen und gefangen zwischen dem Wachtturm-Leben, das ich ertragen musste und dem Leben, wie ich eigentlich wirklich bin und was ich liebte.

Ein Lichtblick war meine erste große Liebe, meine erste Lebensgefährtin, die ich innerhalb der Glaubensgemeinschaft kennenlernte. Wir sprachen vom Heiraten, wenn es irgendwann möglich wäre. Wir wurden als Jugendliche zusammen getauft, aber letztendlich wechselseitig als schlechter Umgang bezeichnet, bevor wir nacheinander rausflogen. Eine gleichgeschlechtliche Liebe, queeres Leben durfte nicht sein. Das hatte emotional schlimme Folgen für unsere Liebe, die später irgendwann zerbrach.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Man hatte mich erwischt, wie ich heimlich auf dem Schulweg Zigaretten geraucht hatte und ich wurde verpetzt. Ich musste alleine bei einem Rechtskomitee vor drei älteren Männern erscheinen, ein religionsinternes Gerichtsverfahren. Da ich innerhalb einer Frist von 7 Tagen das Rauchen nicht bereute und mich den drei älteren Männern nicht erneut aussetzen wollte, wurde ich als 17-Jährige exkommuniziert. Die Belehrungen, wie ich sein soll und was ich zu denken habe, konnte ich nicht ertragen. Danach hatte meine eigene Mutter sogar die Straßenseite gewechselt und nicht mehr mit mir gesprochen. Das war krass und emotional sehr verletzend. Es zog mir den Boden unter den Füßen weg, als ich den Halt am nötigsten gebraucht hätte. Es folgten mehrere Suizidversuche mit Phasen exzessiven Drogenkonsums und es dauerte viele Jahre, bis ich mich Gottseidank wieder richtig fangen konnte. Später sagte sie mehrmals verächtlich zu mir: „Du wirst sowieso in Harmagedon vernichtet!“

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?

Glücklicherweise war ich nie 100prozentig verankert. Mich hatten die Menschen mehr interessiert als das Glaubenskorsett. Der Glaube war tatsächlich vorhanden, jedoch auch die Zweifel. Die Wachtturm-Regeln waren eine große Last für mich und engten mich in meiner Persönlichkeitsentwicklung zu sehr ein. Ich war immer zwischen allen Glaubenswelten. Dankbar bin ich da meiner böhmischen Großmutter und auch meiner oberschlesischen Großmutter, die mich immer wieder mal verbotenerweise in die katholische Kirche mitgenommen hatten und die mir auch familiäre Wurzeln gaben und mich Brauchtum wie Geburtstage, Ostern, Weihnachten usw. lehrten. Solches Brauchtum war verboten bei den Zeugen Jehovas. Zu Weihnachten z.B. sind mein Vater und ich immer wieder heimlich abgehauen von zuhause, um vor dem Weihnachtsbaum, der Weihnachtspyramide und dem Schwibbogen bei meiner lieben böhmischen Großmutter zu sein und uns frei zu fühlen. Bei Zeugen Jehovas gibt es solche schönen Sachen nicht. Das war verwirrend.

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Selbstverständlich bin ich davon betroffen. Ächtung wird als ein Ausdruck der Liebe Jehovas bezeichnet, um zur Rückkehr zu motivieren. Aus meiner Wahrnehmung empfinde ich das allerdings als emotionale Erpressung. Verloren habe ich dadurch meine Mutter und alle meine Freunde und Bekannten, mit denen ich in dieser Religionsgemeinschaft aufgewachsen bin. Ich hatte nie aufgehört, die Menschen zu lieben die dort sind. Doch man würde mich nur dann zurück lieben, wenn ich mich wieder in deren Kollektiv unterordnen würde. Als freiheitsliebender Mensch mit eigener Meinung bin ich leider unerwünscht, eine Persona non grata.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Heute fühle ich mich frei und möchte anderen Betroffenen helfen. Es bleibt jedoch immer etwas zurück und manchmal bekomme ich Flashbacks und die alten Ängste holen mich für einen kleinen Moment wieder ein. Wenn ich dann auf Bäume schaue, wie die Blätter sich im Wind bewegen, komme ich wieder zu mir. Auch die langjährige Ehe mit meinem (inzwischen) Ex-Mann, meiner zweiten großen Liebe, war noch von unverarbeiteten destruktiven Glaubenssätzen aus der Zeugen Jehovas Kindheit geprägt. Es gab vorübergehende „Kontakte“ zur Religionsgemeinschaft, die meiner Rückgewinnung dienen sollten, weil die Zeugen Jehovas in die Sterbefallabläufe meines Vaters und die meiner Mutter involviert waren. Das war nochmal ganz schlimm, die Flashbacks und Alpträume kamen dadurch ganz massiv und geballt überwältigend zurück. Nachdem sämtliche Todesfallabwicklungen beendet waren und diese Kontakte wieder weg waren, verschwanden auch die ganz krassen Flashbacks und Alpträume wieder.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Es ist traurig, dass ich nicht direkt nach meiner Exkommunizierung als Jugendliche, sondern erst nach dem Tod meiner Eltern richtig frei werden konnte, weil ich vergeblich bis zu deren Todeszeitpunkt auf eine Entschuldigung und Wiedergutmachung gehofft hatte. Das war vergebene Liebesmüh.
Mehrmals bin ich dem eigenen Tod von der Schippe gehüpft und konnte reanimiert werden. Es gab viele filmreife Lebensszenen. Ich bin heute dankbar, dass ich überlebt habe. Ich wünschte, ich hätte mir selber erlaubt, öfters auf mein Bauchgefühl zu hören und danach zu handeln. Es fühlt sich an, als habe ich zu viele Jahre vergeudet. Heute bin ich umso sensibler geworden, wenn Gruppierungen Sektenmerkmale aufweisen. Ich möchte nicht mehr missioniert werden, egal aus welcher Richtung.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Renn weg so schnell du kannst!
Einen Rat möchte ich eigentlich überhaupt nicht geben, weil ich das auch als Rat-Schläge empfinde und es sollte jeder Mensch selber über sich entscheiden dürfen.
Nichtdestotrotz: Auf das eigene Bauchgefühl achten! Und wegrennen!
Eine wichtige Bitte an Angehörige: Lasst bitte eure Menschen, die sich dort verirren nicht im Stich!