ÜberLebenswege – Sabrina N. aus Bochum

1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen? 

Meine Mutter war alleinstehend und folgte kurz vor meiner Geburt ihrer Mutter in die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Meine Oma war schon länger dort aktiv. Wir lebten mit meinen Großeltern zusammen in einem Haus und ich verbrachte viel Zeit bei meiner Oma, die sich sehr streng an alle Regeln der Gemeinschaft hielt. In meiner Erinnerung an sie gehören die Lehren der Zeugen Jehovas immer dazu.


2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Es gab da ganz unterschiedliche Phasen. In jungen Jahren fühlte ich mich unwohl in der Gemeinschaft; ich mochte die Menschen einfach nicht, vielleicht empfand ich sie als unehrlich. Am schlimmsten war jedoch die körperliche Nähe, wenn ich durch die engen Reihen des Königreichssaals zu einem Sitzplatz ging und jeden begrüßte. Dieses unangenehme Gefühl hatte ich bei anderen Menschen außerhalb der ZJ selten.

Alle Nachbarskinder durften in die Kita gehen, ich blieb bei meiner Oma. In dieser Phase manifestierte sich das Bild, dass nur Zeugen Jehovas in Harmagedon überleben. Harmagedon konnte bereits morgen sein. Ich wollte mit meiner Mutter überleben und auch mit den Kindern spielen. Mit ihnen zu spielen war gefährlich, da sie und ihre Eltern ja bald sterben würden.

In meiner Schulzeit wollte ich einfach nicht auffallen. In der Grundschule kannten sich alle Kinder aus der Kita, nur ich war neu. Spätestens zum Religionsunterricht wusste jeder, dass ich anders war. Bei jeder Geburtstagseinladung musste ich ablehnen, zu Karneval kam ich ohne Verkleidung und Weihnachten war für mich nur traurig. Freunde gab es zu Beginn der Schulzeit nur wenige.

Als ich älter wurde, kam eine Phase, in der ich die Lehre der Zeugen Jehovas verstehen wollte. Ich las und hinterfragte. Es gab keine Frage, auf die ich keine biblische Antwort hatte. Mit meinem Wissensdurst sprengte ich jede Versammlung. Ich entdeckte Widersprüche, die aber niemand wahrhaben wollte. Stattdessen wurde mir gesagt, es fehle mir an Glauben. Antworten oder Erklärungen gab es nie.

Meine Mutter sagte mir einmal „Behalte Deine Gedanken für Dich“. Als Reaktion schwieg ich immer öfter in den Versammlungen. Auf Nachfrage antwortete ich nur noch mit dem Vers aus dem Korintherbrief „Frauen sollen in der Gemeinde schweigen“.

Es begann eine Phase der Resignation. Ich ließ mir meine langen Haare abschneiden, sehr zum Schock meiner Mutter. Ich sammelte heimlich Schlaftabletten. Monate später ließ ich mich öffentlich taufen.


3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Es gab diesen einen Moment, in dem ich merkte: Ich kann nicht mehr. 
Es war kein besonderer Tag, kein besonderes Wort. Ich saß im Königreichssaal und wusste, heute ist es das letzte Mal. Zuvor hatte ich unterschiedliche Versammlungen besucht, hatte mir angeschaut, wie dort das Miteinander war. Und plötzlich stand für mich fest: Das wars.
Die Entscheidung stand und die Angst kam. Ich betrat nie wieder einen Versammlungssaal der Zeugen Jehovas. Obwohl ich jede Nacht in meinen Träumen von Dämonen besucht wurde und ich oft nicht mehr wusste, ob ich träume oder wach bin. Es dauerte Jahre, bis diese Alpträume verschwanden. Es gab jedoch keinen Moment, in dem ich daran dachte, zurückzugehen.


4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 

Die Gemeinschaft war mein Leben. Alle Entscheidungen, jeder Gedanke und jede Handlung wurden von ihr geprägt. Alle meine Gedanken kreisten nur um den Wunsch, Jehova zu gefallen, die Angst vor Bestrafung und um die Folgen für meine Mutter. Die Vorstellung, selbst zu sterben oder lieb gewonnene Menschen sterben zu sehen, war immer präsent. Es gab in mir keinen Rückzugsort, denn es gab keinen Unterschied zwischen Handlung und Gedanken. 

Erst Jahre später wurde mir klar, dass die grauenhaften Bilder aus den Lehrbüchern der ZJ diese Vorstellung prägten. Im Teenageralter fing ich an, die Bibelauslegung zu hinterfragen. Meine Schulfreunde stellten Fragen, die ich nicht beantworten konnte, also forschte ich. Ich wollte sie von meiner Sicht überzeugen und stellte fest, dass es auf viele Fragen keine Antwort gab. Obwohl ich früh merkte, dass das ganze Regelwerk gar nicht wirklich auf der Bibel basierte, konnte ich erst Jahre später die Gemeinschaft verlassen.


5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Kurze Zeit nach dem Verlassen der Gemeinschaft zog ich an das andere Ende von Deutschland. Ich erfand mich neu: neue Stadt, neuer Job, neue Freunde, neue Gewohnheiten, neue Interessen und viele durchweinte Nächte.

Meine Oma, bei der ich mehr oder weniger groß wurde, sah ich nie wieder. Vom Tod meiner Mutter erfuhr ich erst nach ihrer Beerdigung. Da sie zu Lebzeiten beschloss, sich anonym bestatten zu lassen, gibt es keinen Ort, um zu trauern. „Warum hat man mich nicht gewollt?“ bleibt für mich unbeantwortet. Ich tat alles in meiner Macht Stehende, um den Kontakt zu behalten und damit fühlt es sich für mich heute stimmig an. Was ich tun konnte, tat ich.

Jahre später zog ich in meinen Heimatort zurück. Es klingelte an der Tür und ein früherer „Bruder“, den ich aus meiner Zeit bei den ZJ kannte, und seine Frau standen vor mir. Sie waren in ihrem Predigtdienst unterwegs. Mit den beiden hatten meine Mutter und ich einen Urlaub in den Bergen verbracht. Es war dieser kleine Moment in dem ich wieder wie ein Kind fühlte. Ich atmete durch und begrüßte sie freundlich. Sie erkannten mich sofort, aber von ihnen kam kein persönliches Wort, sie wollten mich nur in die Versammlung zurückholen. Meiner Einladung, uns doch mal darüber zu unterhalten, was in den letzten Jahrzehnten passiert war, folgten sie nicht. Sie klingelten nie wieder. 

In der Nachbarschaft wohnte auch eine sehr enge Freundin, eine Glaubensschwester meiner Mutter. Ich sprach sie einmal auf der Straße an. Sie erschrak, es war ein sehr kurzes Gespräch und ich sah sie nicht wieder.


6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Es dauerte einige Jahre, bis ich mich öffentlich dazu bekannte, dass ich bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen bin. Das ist auch der Grund, warum es mir leicht fällt, vor Menschen zu reden. Ich wurde stabiler in meiner Persönlichkeit, ich bin ein Stehaufmännchen.

Klar gibt es Situationen die mich traurig machen, da ich in meiner Kindheit bestimmte Erfahrungen nicht machen konnte, doch dann schau ich auf meinen Sohn und stelle fest, dass er ganz anders aufgewachsen ist als ich. Es beruhigt mich, dass ich die Erfahrungslinie von meiner Großmutter zu meiner Mutter unterbrach. Manipulationen erkenne ich sehr schnell. Dieser Sensor, wenn sich die Nackenhaare aufstellen, ist hilfreich.


7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Meine Kindheit kann ich nicht ändern. Ich lernte jedoch durch die Kinesiologie den Stressfaktor meiner Erfahrungen zu reduzieren. Es war für mich ein Schlüsselerlebnis, da ich bei dieser Methode nicht über meine Erlebnisse sprechen musste. Das half mir diese Erfahrung für mich zu heilen.

Meine Fähigkeiten in der Rhetorik und vor Menschen entspannt sprechen zu können, verdanke ich meiner Kindheit. Mein Forscherdrang in Bezug auf Sprache und Wortwirkung wurde durch meine Erlebnisse angespornt.
Ja, meine Kindheit prägte mich, brachte im weiteren Leben jedoch eine Tiefe und auch Hartnäckigkeit bei Themen zum Vorschein. Dankbar bin ich nicht für meine Erlebnisse, jedoch beeinflussen sie mich heute nur in dem Ausmaß, wie ich es bewusst zulasse. Ich genieße mein Leben und freue mich an jedem Tag.


8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Übernehmt Eigenverantwortung für euer Leben und ganz besonders für das Leben eurer Kinder.
Lest Bücher, zum Beispiel von Misha Anouk „Goodbye Jehova“. Hört Podcast, zum Beispiel „Kopfkino- Aussteiger berichten“ von Dina Hellwig.
Sucht euch andere Gemeinschaften, in denen ihr ein zuhause findet. Guckt welche Unterstützung zu Euch passt und nutzt sie. Geht achtsam mit euch um.