ÜberLebenswege – Rebekka M. aus C.

1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen? 

Reingeboren.
Meine Eltern ließen sich taufen, als meine Mutter mit mir schwanger war.

 
2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?
Womit hattest du am meisten zu kämpfen?

Sehr geprägt durch Verbote, Gebote und vor allem Termine. Für Zusammenkünfte, Studieren und Predigtdienst. 
Am meisten zu schaffen machte mir die Abgrenzung zur „Welt“. Freunde sollte man bestenfalls nur intern haben und für die „Kinder in der Welt“ war man ja immer etwas suspekt, weil man z.B. keine Geburtstage gefeiert hat, sich nicht mit ihnen treffen sollte, nach Hause musste, weil religiöse Verpflichtungen anstanden usw.


3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Gab es ein ausschlaggebendes Ereignis?

Bei mir war es ein schleichender Prozess. Immer mehr hat mich das „normale“ Leben gereizt, bis ich anfing mit ca. 15, 16 ein Doppelleben zu führen. Ich behauptete z.B. länger arbeiten zu müssen, um nicht mit in die Versammlung zu müssen. Ich tat im Predigtdienst oft nur so, als würde ich klingeln, damit niemand aufmacht. 

Oft habe ich mich auch krank gestellt, um irgendwo nicht mitzumüssen und ich habe heimlich meine „weltlichen“ Freundschaften gepflegt. Im Detail würde das hier ausufern, alles zu erzählen. Zusammengefasst habe ich mich ganz langsam rausgeschlichen. 

Allerdings war für mich lange nicht vorstellbar, komplett auszutreten, aus Angst vor den Konsequenzen und auch aus Angst, dass das Gelernte doch richtig sein könnte und ich damit einen riesigen Fehler machen könnte. Ich bin mit 18 ausgezogen in eine WG mit meiner Arbeitskollegin. Dort ist dann mein Freund (heute Mann) heimlich nach und nach mit eingezogen. Die beiden haben mich sehr unterstützt und mir immer versichert, für mich da zu sein, auch wenn meine „Freunde“ aus der Gemeinschaft und meine Familie mich nach dem Austritt meiden bzw. verstoßen sollten. Aber der Mut hat mir immer noch gefehlt.

Eines Abends habe ich im Fernsehen eine Reportage über die Aussteigerin Barbara Kohout gesehen. Ich war so beeindruckt, wie sie gesprochen und von ihrer Geschichte erzählt hat. Auch dass sie deutlich älter war als ich, hat mir sehr geholfen. Ich dachte manchmal, es sei nur mein Empfinden, dass das Ganze zu streng sei und es mir schwerfalle, mich an alle Regeln zu halten, weil ich ja noch so jung sei. Später, wenn ich älter wäre, würde das sicher alles Sinn machen. 

Auf jeden Fall war diese Reportage das letzte Stück Überzeugung, das mir gefehlt hatte, es zu wagen. Und dafür bin ich Barbara heute noch so dankbar.


4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Bis ich ca. 15 war, war ich sehr stark verankert. Meine Familie war sehr in die Gemeinschaft involviert und hundert Prozent überzeugt. Es war selbstverständlich und gab keine Diskussion, dass wir ALLES taten, unseren Glauben zu leben. Ich begann zu zweifeln, als ich eine Essstörung entwickelte, weil ich nicht geschafft habe, mich an alle Gebote zu halten. Ich war der Meinung, das Essen nicht zu verdienen, da ich es nicht schaffe, alles zu tun, was Gott sich von mir wünscht. 

Zur gleichen Zeit fing ich dann auch an, immer mehr Kontakte nach außen zu pflegen. So begann langsam der Prozess. 


5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?
Welche Menschen hast du durch dein Verlassen der Organisation verloren? Wie wirkt sich das aus?

„Freunde“ aus der Gemeinschaft haben sich nach meinem Austritt sofort zurückgezogen. Da habe ich nie wieder was von jemandem gehört. Als ich noch im gleichen Ort wohnte, haben viele sogar die Straßenseite gewechselt, wenn wir uns zufällig begegnet sind.

Meine Familie hatte erstmal lockeren Kontakt zu meinem Mann und mir gehalten. Bis der Druck der Gemeinschaft zu groß wurde. Dann wurde mir vor über 10 Jahren in einem Brief mitgeteilt, dass sie den Kontakt abbrechen und wir uns nur melden dürfen, falls etwas Dramatisches passieren würde. Seitdem ist quasi Funkstille. 

Das wirkt sich zum Beispiel so aus, dass meine 8-jährige Tochter ihre Großeltern nicht kennt und einfach ein großer Teil in meinem Leben fehlt. Vor allem wenn ich im Freundeskreis z.B. beobachte, wie viele mit ihren Eltern in den Urlaub fahren, regelmäßig Ausflüge machen, sich gegenseitig zum Essen einladen oder einfach telefonieren, um über dies und das zu sprechen. 


6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?
Spielen z.B. Ängste eine Rolle?

Ich bin inzwischen seit fast 20 Jahren weg. Daher spüre ich die Auswirkungen immer weniger. Anfangs fand ich sehr extrem, wie viele Situationen es gab, in denen ich darüber nachdenken musste, wie ich zu einer bestimmten Sache stehe oder wie ich über etwas denke, da ich das ja plötzlich selbst entscheiden durfte.

Um ein Beispiel zu nennen. Es hat sich jemand aus meinem engsten Umfeld als schwul geoutet, als ich noch nicht lange raus war. Ich liebe diese Person sehr und war völlig geschockt darüber, dass ich jetzt eine Entscheidung treffen muss, wie ich dazu stehe. Mir wurde ja 19 Jahre lang beigebracht, dass das eine große Sünde und höchst verwerflich sei. Aber eigentlich hatte ich damit ja überhaupt kein Problem. Die Person war ja die gleiche wie davor. Natürlich hat es für mich auch keinen Unterschied gemacht. Doch fand ich es so verstörend, dass ich solche Dinge jetzt selbst entscheiden konnte und wie oft diese Situationen auftraten, in denen ich vorher total ferngesteuert war. 

Ansonsten spüre ich heute noch, dass ich leider viel zu oft versuche, es allen recht zu machen. Als ob mich eine Strafe ereilen würde, wenn andere nicht „zufrieden“ mit mir sind. Und ich denke oft, dass ich irgendwie einen Teil meines Lebens verschenkt habe.


7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Ich bin froh, nicht noch mehr Zeit verschwendet zu haben und in noch recht jungen Jahren den Absprung geschafft zu haben. Nie wieder möchte ich so fremdbestimmt leben und werde meine Tochter nie in solche Verhaltensweisen zwingen. 


8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft (die sich z.B. bereits in einem Bibelstudium befinden oder sich zur Organisation hingezogen fühlen) bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Den Personen, denen der Mut fehlt zu gehen, kann ich nur von Herzen Mut zusprechen. Ihr werdet neue Freunde finden. Solche, die nicht an vorgegebene Bedingungen knüpfen, ob sie mit euch befreundet sind oder nicht. Sie sind es, weil sie euch lieben und nicht, weil ihr alles tut, was euch eine Organisation vorschreibt.

Die, die sich dazu hingezogen fühlen, kann ich nur bitten, mal hinter die Kulissen zu sehen. Tut ihr wirklich alles aus freien Stücken? Was ist, falls ihr nicht funktioniert, wie ihr solltet? Studiert ihr wirklich die Bibel oder die Publikationen einer Gesellschaft, die alles vorgibt und kein eigenes Denken wünscht?