ÜberLebenswege – Raphaela G. aus B.

1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen? 

Ich wurde reingeboren.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Ich hatte eine sehr gute und glückliche Kindheit. Ich hatte wenig Probleme, für meinen Glauben einzustehen, da ich vollkommen davon überzeugt war, das Richtige zu tun.
Schwierigkeiten kamen ab der Pubertät. In Sachen Musik gab es oft Gespräche. Das größte Thema war aber die Sexualität bzw. erst einmal Jungs. Ich hatte mich in einen Nachbarsjungen verliebt. Dies habe ich nie zeigen dürfen, da ich ihn sonst nie hätte sehen dürfen. Also schmachtete ich in Freundschaft. Später dann kam es immer wieder zu schwierigen Situationen mit Männern, was die Hormone angeht. 

Während der vielen Jahren hatte ich große Probleme mit dem Predigtdienst – es kostete mich jedes Mal eine große Überwindung.  Mein Problem war, dass ich immer ein schlechtes Gewissen hatte, da ich nie genug geleistet habe. Wenn ich dann doch mal mehr studiert und in den Dienst gegangen bin, war ich unzufrieden. Das bringt einen in einen nie enden wollende Schleife des Nicht-Genügens. Und der ständige Selbstzweifel, Jehova nicht genug zu lieben und dadurch seine Gunst zu verlieren.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Ich konnte emotional nicht mehr. Weder in meiner Ehe und auch in der Gemeinschaft nicht mehr. Mein jetziger Mann war dafür der Katalysator.
Erst zwei Jahre später bin ich durch einen interessanten Zufall auf die Seite von Oliver Wolschke gestoßen. Von da ab ging es Schlag auf Schlag. Ich habe mir Beweise und Kritiken zusammengesucht und das wahre Gesicht der Organisation entdeckt.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 

Diese Frage ist denke ich bei Punkt 2 und 3 beantwortet. 
Ich war sehr stark dort verankert. 

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ich bin, wie ich es empfinde, in großem Ausmaß von Ächtung betroffen, da ich nun die Einzige in der Familie bin, die kein Zeuge Jehovas mehr ist. 
Mein Vater bekleidet einen recht verantwortungsvollen Posten – zumindest war das bei meinem Ausstieg so. Meine Familie ist in unserer Gegend schon seit über 60 Jahren als Vorzeigefamilie bekannt.
Mein Vater hat mit mir seit dem Tag, als ich ging, nicht mehr gesprochen. Einmal gab es eine WhatsApp, da er an mich appellieren wollte, keine Unternehmung in Richtung alleiniges Sorgerecht zu unternehmen. Dann hat er mich gesperrt.

Meine Mutter lässt den Kanal noch offen für den Fall, dass etwas Schlimmes passiert. Sie möchte aber absolut keinen Kontakt. Selbst Kleidung, die sie für meinen Sohn kauft darf nicht zu mir wandern, sondern muss bei seinem Vater bleiben. Meine Schwester und mein Schwager haben den Kontakt ebenfalls komplett abgebrochen. Der letzte Satz von meiner Schwester war: „Viel Spaß beim Leben-Zerstören deines Sohnes!“ Meine Nichte hatte von ca. 3 Jahren ihre erste Aufgabe in der Versammlung. Ich wäre natürlich für sie gekommen. Dies wurde mir mit den Worten „wir wollen dich nicht dabeihaben“ verboten. Ich weiß, dass sie umgezogen sind, habe aber keine Ahnung wohin. 

Mein Ex-Mann hat eine damalige Freundin von mir aus der Versammlung geheiratet. Immer wieder wird mir zu verstehen gegeben, dass ich ein Mitarbeiter des Teufels bin. Beispiel: Ich darf nur in Notfällen in das Haus (in dem übrigens mein Sohn zu 50% wohnt). In das Zimmer des Sohnes seiner Frau darf ich nicht einmal hineinsehen.

Natürlich sind gibt es auch noch einige Freunde, die sich ebenfalls komplett distanziert haben. 

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Ich leide seit vielen Jahren unter Ängsten, die sich auch gesundheitlich auswirken. Das ist in sämtlichen Lebenslagen der Fall. Die Angst vor Harmagedon konnte ich allerdings inzwischen ablegen. Was immer noch vorhanden ist, ist die Angst vor Dämonen. Sich zum Beispiel „irgendetwas ins Haus zu holen“.
Insgesamt würde es mir sehr gut gehen. Ich habe Gott sei Dank viele langjährige Freunde, die zu mir stehen (diese sind keine ZJ), und einen wundervollen Mann. Am meisten belastet mich die schreckliche Situation mit meiner Familie. Es fällt mir unheimlich schwer, damit abzuschließen. Ich hoffe und hoffe… Dann kommt die Sorge um meinen Sohn hinzu, da natürlich versucht wird, ihn zu halten. 

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Einerseits Dank, andererseits Wut und Traurigkeit. Ich wäre nicht der Mensch, der ich heute bin, wäre ich keine Zeugin Jehovas gewesen. Das steht fest. Aber ob dieser Mensch besser wäre ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Ich habe inzwischen die Erfahrung gemacht, dass ich mich auf meine Intuition verlassen kann. Mancher würde sagen, ich lasse mich von Gott und von Jesus leiten. Man muss es nur zulassen. Wenn man bei etwas ein sonderbares und schlechtes Gefühl hat, so hat dies einen Grund und dem sollte nachgegangen werden. Nicht aus Angst oder Pflicht die Ratio einschalten und es so tun, weil es einem so beigebracht wurde oder es andere so sagen. 

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Suche / behalte Freunde außerhalb der Gemeinschaft. Lies die Bibel nur für dich, ohne Hilfsmittel. Am Besten nicht die NWÜ und vergleiche dann, ob es sich so verhält, wie es die ZJ lehren. Sieh die Bibel immer im Zusammenhang – nie einzelne Texte. Ziehe immer in Betracht, in welcher Zeit für wen und warum bestimmte Bücher geschrieben wurden.
Informiere dich auch außerhalb über die ZJ. Frage dich: Wem will ich nachfolgen? Gott und Jesus oder einer Organisation? Sei dir bewusst, dass du dich bei der Taufe auch der Organisation hingibst. Ist das Bestehen einer Organisation biblisch?
Gab es von Seiten des Sklaven Vorhersagen, die nicht eingetroffen sind und was sagt die Bibel über „Propheten“, deren Vorhersagen nicht eintreffen?
Mache es wie die Menschen aus Beröa, die Paulus lobte, weil sie kritisch waren – sie forschten ständig in den Schriften, ob sich auch alles so verhielt, wie Paulus das sagte. 

Mehr über Raphaela erfährst du auch bei ihrem Interview mit Jason Wittmann auf dessen YouTube-Kanal Traum[a]welt.
Viel Freude beim Zusehen und -hören!