ÜberLebenswege – Lucas Weber aus Gummersbach

1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Ich bin tatsächlich hineingeboren worden.
Meine Eltern sind beide Zeugen Jehovas und deren Familien auch. Hatte daher immer engen Kontakt zur Gemeinde, da unsere Versammlung zu 50% aus Verwandten bestand.
Angesprochen hat mich so gesehen nichts. Für mich war es undenkbar, einen anderen Weg zu gehen als der, der von mir verlangt wurde.


2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt? 
Womit hattest du am meisten zu kämpfen?

Meine Erfahrungen sind vielfältig und nicht nur negativ. Auf der einen Seite habe ich das Gemeindeleben und den vermeintlichen „Zusammenhalt“ als Segen wahrgenommen.
Was mir bereits im jugendlichen Alter aufgefallen ist, ist die unheimliche Doppelmoral innerhalb der Gemeinde. Und das Denunziantentum, dem ich selber öfters zum Opfer gefallen bin.
Dinge die mich in der Kindheit und Jugend sehr belastet haben, war die Angst vor Geistern und Dämonen. Ich hatte bis zu ungefähr meinen 22. Lebensjahr noch damit zu tun. Als Kind war es besonders schlimm, sodass einschlafen jedesmal eine Qual war. Außerdem standen meine Oma und meine Tante darauf, immer gruselige Geistergeschichten zu erzählen, die Bekannter oder Verwandter XY erlebt hat. Das hat alles natürlich extrem verschlimmert.

Als Jugendlicher hatte ich starke Gewissensbisse da ich, wie wahrscheinlich jeder Jugendliche, meine Sexualität entdeckt habe und entsprechend auch Selbstbefriedigung praktiziert habe. Ich habe damals wirklich Angst davor gehabt in Harmagedon vernichtet zu werden. Habe vor meiner Taufe versucht meine Sexualität zu unterdrücken. Ratschläge wie „geh einfach joggen wenn’s juckt“ sollten mir dann helfen. Irgendwann habe ich den Kampf dann zum Glück, aufgegeben

Ich war schon als Kind ein großer Musikfan. Natürlich immer von extremer Musik. Für mich gehörte (und gehört es noch immer) dazu, sich seiner Szene entprechend zu kleiden und zu geben. Als ich als Jugendlicher meine „Hip-Hop-Phase“ hatte, wurde dies sofort unterdrückt. Ich wurde von Brüdern und Schwestern gesehen, wie ich mit meiner Baggiepants, dem viel zu großen Shirt und der Cap durch die Stadt ging. Darüber wurde mein Ältestenvater natürlich informiert. (Meine Eltern waren geschieden und ich habe bei meiner Mutter gewohnt).
Sätze wie „wenn du so aussiehst will niemand etwas mit dir zu tun haben“ oder „Die Brüder sagen, du siehst aus wie ein Verbrecher“ haben sich damals tief eingeprägt. Schon damals war ich in einem krassen Konflikt gefangen, mich selber auszuleben oder den anderen zu gefallen.
Zudem wurde meine Musik kontrolliert, jedes kleinste Schimpfwort angeprangert auf dem dann jedesmal eine Predigt folgte. Das Thema hat unheimlich viele Konflikte verursacht.

Der Erwartungsdruck meines Vaters hat mich zusätzlich sehr depressiv gemacht. Es war so krass, dass sogar Aussenstehende dies kritisierten.


3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist? 
Gab es ein ausschlaggebendes Ereignis?

Im Jahr 2014 hatte ich eine krasse Identitätskrise. Ich wusste nicht wer ich bin, was ich mag und was meine Ziele sind. Ich fing an, mich für Harleys zu unteressieren. Dazu folgte meine große Liebe zur Rock-und Metalmusik. Nicht nur mein Charakter änderte sich sondern auch mein Aussehen. Langer Bart, Tattoos und Bandshirts folgten. Trotz dessen habe ich an der Religion festgehalten, auch wenn ich vieles für übertrieben hielt. Durch meine Veränderungen hat die Gemeinde mich zu einem Aussenseiter gemacht und mich an den Rand gedrängt. Das war hart, aber so konnte ich den nötigen Abstand gewinnen.

Im Jahr 2017 saß ich auf dem Bezirkskongress in Dortmund. Damals kam das Drama mit Lots Frau, wenn ich mich recht erinnere. Beim Drama ist mir aufgefallen, dass irgendetwas nicht stimmt. Das Video war so manipulativ das ich merkte, da müssen Psychologen am Werk sein. Vor allem, weil alle auf Knopfdruck still waren oder geheult haben. Das war das erste mal, dass ich langsam merkte: Ich bin in einer Sekte!

Auf dem Kongress im Dezember 2018 war es noch viel krasser. Ich fühlte mich wie ein lebender unter lauter Zombies. Alle klatschten als ein 12-Jähriger berichtete, dass er den Hilfspionier macht. Das konnte ich nicht mehr mit mir vereinbaren.

Ich ging nochmals im Januar 2019 in die Versammlung. Als ein Bethelredner den Kindesmissbrauch leugnete und als „Propaganda Satans“ abtat, war für mich endgültig Schluss. Damals sagte ich meiner Frau, dass ich keine Zusammenkunft mehr besuchen werde.


4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Das ist sehr unterschiedlich. Also verankert war ich durch meine Familie immer in der Versammlung. Mein Vater war Ältester (KDÄ) und deshalb war ich immer der Ältestensohn.
Bis zu meinem 14. Lebensjahr war ich nur Mitläufer. Doch damals änderte sich was. Auf einem Kongress wurde mein Herz angesprochen und bewegte mich so sehr, dass ich mich taufen lassen wollte. Von da an war mein Glaube sehr stark und meine Ansichten wurden extremer. Ich dachte schlecht über meine ungläubigen Mitschüler, hoffte Gott werde sie bald alle vernichten. Dann lernte ich ein Mädchen kennen, die ähnlich gestrickt war wie ich. Ich würde sagen sie war noch extremer. Mit 15 ließ ich mich taufen und war auf dem Höhepunkt meines Glaubens
Als mit 16 die Beziehung zu diesem Mädchen, das ich sehr geliebt habe, zu Ende ging, wurde mein Glaube schwächer und ich wurde mehr und mehr zum Mitläufer. Meine Ansichten wurden ausgeglichener da ich damals auch von meinem Vater wieder zurück zur meiner Mutter zog. Meine Mama ist sehr weltoffen und war auch nie besonders streng. Das half mir viele Dinge wieder ausgeglichener zu sehen.

Meinen beginnenden Zweifel habe ich im Punkt 3 bereits veranschaulicht.


5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?
Welche Menschen hast du durch dein Verlassen der Organisation verloren? Wie wirkt sich das aus?

Ich bin wie 99% der Aussteiger von Ächtung betroffen. Meine gesamte Famile – bis auf meinen Bruder und meine Mutter – haben sich von mir abgewendet. Dazu zählen 17 Cousins und Cousinen, 2 Tanten und 3 Onkels, mein Vater und meine Stiefmutter. Außerdem noch einige Freunde und Bekannte, die ich schmerzlich vermisse. Die ersten Jahre war ich deswegen schwer depressiv. Das Leben hat keinen Spaß mehr gemacht. Ich hatte meine Freude verloren und das, obwohl ich ein sehr lebensfroher Mensch war. Selbstmordgedanken machten sich breit und ich hatte einen Abschiedsbrief mit meinem letzten Willen, schon verfasst. Trotzdem war zurückkehren nie eine Option.

Schwierig war am Anfang auch neue Freunde zu finden da ich mir nie einen Freundeskreis außerhalb aufgebaut hatte. Zudem kamen einige Unsicherheiten wenn ich neue Leute kennenlernte. Nicht gut genug zu sein, nagte oft an meinem Selbstbewusstsein. Das hatte man mir schließlich jahrelang eingeredet.


6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?
Spielen z.B. Ängste eine Rolle?

Ich habe mich zum Glück sehr schnell von der Doktrin mit allen ihren Ängsten, befreien können. Es gibt immer noch Dinge, die tief in mir verankert sind. Aber das meiste konnte ich abschütteln.
Durch meinen Austritt konnte ich zum ersten mal echte Freiheit erfahren. Dieses Gefühl war unbeschreiblich. Allerdings muss man damit auch erstmal zurecht kommen.

Was mich am meisten belastet, ist die Ächtung seitens meiner Familie. Ich bin ein Familienmensch und liebe alle meine Verwandten unheimlich. Sie nicht sehen zu können und kein Teil ihres Lebens mehr zu sein macht mich oft sehr traurig.

Ansonsten habe ich mich nach den 2 härtesten Jahren nach meinem Ausstieg ganz gut von vielen Dingen erholt.


7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Mein Fazit ist eine verlorene Jugend, eine kaputte Familie und jede Menge Schmerz durch meine Zeit bei den Zeugen Jehovas. Es war mit Sicherheit nicht alles schlecht, aber die besten Jahre meines Lebens, ein Zeit wo gleichaltrige Party gemacht haben und zu sich selber gefunden haben, habe ich mit predigen und studieren verschleudert. Zudem habe ich aufgrund des Systems sehr jung geheiratet und musste früh Verantwortung tragen. Meine berufliche Laufbahn wäre auch eine andere gewesen, wenn ich nicht in der Sekte aufgewachsen wäre. Da bin ich mir zu 100 % sicher.

Am Ende bleibt nur ein Trümmerhaufen, den es nun gilt wieder aufzurichten.


8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft (die sich z.B. bereits in einem Bibelstudium befinden oder sich zur Organisation hingezogen fühlen), bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Ich kann nur den Rat geben, sich von den Zeugen Jehovas fernzuhalten. Man mag das Gefühl haben, dass es sich hierbei um eine liebevolle Gemeinschaft handelt. Das entspricht aber nicht der Realität sondern ist nur Fassade um Menschen anzusprechen.
Die Liebe ist immer an Bedingungen geknüpft und gilt niemals der Person selber, sondern nur dessen Glauben-und Glaubenswerken. Sobald man anders ist, wird die Liebe entzogen und man wird fallen gelassen. Diese Erfahrung habe ich und viele andere machen müssen.

An zweifelnde Zeugen der Rat:
Durchforstet das Internet nach den Zeugen Jehovas. Informiert euch auch über andere Sekten wie Scientology und ihr werdet Parallelen finden. Manchmal ist es leichter, sich zuerst über andere Glaubensgemeinschaften zu informieren da man da aufgeschlossener ist.
Habt keine Angst davor euch zu „versündigen“ weil ihr Material von Aussteigern wie Sophie Jones lest. Die Wachtturmgesellschaft hat Angst vor uns, weil wir die Wahrheit aufdecken. Alle totalitären Systeme haben Angst vor Leuten, die die Wahrheit sagen.
Und vorallem: Hört auf eure inneren Stimme, wenn sie sich bei der ein oder anderen Begebenheit meldet. Euer Bauchgefühl alarmiert euch meist, wenn etwas nicht stimmt. Bei mir war es auch der Fall.