ÜberLebenswege – Johannes Braun aus Berlin

Johannes Braun
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen? 

Ich bin 1975 in die Sekte der Zeugen Jehovas hineingeboren worden. Meine Eltern sind Anfang der 60ziger Jahre in Berlin im Haus zu Haus Dienst missioniert worden. 


2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Ich habe während meiner Kindheit eher wenige Bedrängungen erlebt, da man als Kind nicht unbedingt in der Lage ist, die Brüche dieses in sich geschlossenen Weltbildes überhaupt wahrzunehmen. Zum Glück hatte ich auch sehr fürsorgliche Eltern, vor allem meine Mutter und ich hatten ein sehr gutes Verhältnis. Meine Mutter war sehr eigenwillig, sehr bildungsnah und hat uns als Kindern sehr viel Liebe, aber auch ein starkes Gefühl für Gerechtigkeit, aber auch für Kunst und Kultur vermittelt. 
Was mich als Kind jedoch nachhaltig geprägt hat, war die inhaltliche Grausamkeit dieser Lehre. Die Bilder aus dem „Buch mit biblischen Geschichten“ sind mir bis heute im Kopf geblieben und auch ist es aus heutiger Sicht absurd, dass ich zwar ‚Ronja Räubertochter‘ nicht sehen durfte, aber in einem Umfeld aufwachsen musste, in dem die Erzählung von Jehovas direkt bevorstehendem blutigen Strafgericht gang und gebe war. Diese Angst vor Harmagedon hat mich stark geprägt, auch noch lange über meinen Ausstieg hinaus.
Problematisch wurde es dann eher mit Beginn der Pubertät, als ich anfing eine eigenständige Persönlichkeit zu entwickeln. Mit dem zunehmenden Entwickeln eigener Werte habe ich mich immer weniger mit dem von mir als grausam empfundenen Gott abfinden können. Auch hatte ich ab dem Punkt, an dem ich angefangen habe, Zweifel zu entwickeln, fast psychotische Ängste vor eben diesem strafenden Gott entwickelt, der ja eben meine Gedanken lesen kann.
So hat mich also der innere Widerspruch, an eben diesen Gott zu glauben, da ich ja in eben diesem Glauben aufgewachsen bin und nichts anderes kannte, aber diesen Gott mehr und mehr abzulehnen, in eine innere Zerrissenheit geführt, die mich als Teenager und dann junger Erwachsener völlig überfordert hat.
So habe ich statt einer gesunden Teenagerzeit eher Jahre mit einer inneren theologischen Auseinandersetzung geführt, die ich dann auch irgendwann angefangen habe mit meinem Vater, den Ältesten der Versammlung, über den Kreisaufseher, bis hin zum Bezirksaufseher zu führen. Doch keiner konnte mir meine Fragen zu meiner Zufriedenheit beantworten, mich hat mehr und mehr abgestoßen, dass alle diesen grausamen, Genozide befehlenden Gott akzeptiert haben.


3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Es war – wie oben beschrieben – eine Frage der Moral. Obwohl ich Zeuge Jehovas war, bin ich als Teenager mehr und mehr politisch geworden, ich bin sogar Klassen- und Schulsprecher geworden, was von meiner Mutter heimlich geduldet, wenn nicht sogar begrüßt wurde.
Vor allem hat mich aber die Frage beschäftigt, wie man einen Gott, der solche Grausamkeiten wie den alttestamentarischen Völkermord an den Kanaanitern befahl oder eben auch Auschwitz zugelassen hat, um die aus meiner Sicht lächerliche Streitfrage, wer der tollere Gott ist, zu entscheiden – wie man also einen solchen Gott lieben kann?
Ich habe für mich entschieden, dass dieser Gott nicht mein Gott ist und habe dann 1996 im Alter von 21 Jahren die Zeugen Jehovas verlassen und bin zu Hause ausgezogen. 
Einer Taufe hatte ich mich verweigert, obwohl, vor allem da mein Vater Ältester war, auf mich eine Menge entsprechender Druck ausgeübt wurde.
Mit dem Ausstieg habe ich jedoch nicht aufgehört an Gott zu glauben, die sogenannte ‚Wahrheit‘ war für mich weiterhin die Wahrheit, ich habe also in Kauf genommen, dass Harmagedon tatsächlich stattfinden kann und ich dann eben von Jehova getötet werde. Ich konnte es aber nicht mehr mit mir vereinbaren, diesem Gott zu dienen, der wie Richard Dawkins sagt, „eifersüchtig und auch noch stolz darauf; ein kleinlicher, ungerechter, nachtragender Überwachungsfanatiker; ein rachsüchtiger, blutrünstiger ethnischer Säuberer; ein frauenfeindlicher, homophober, rassistischer, Kinder und Völker mordender, ekliger, größenwahnsinniger, sadomasochistischer, launisch-boshafter Tyrann.“ ist. (Dawkins, Richard. Der Gotteswahn. Berlin: Ullstein, 2007, S. 45)
Mein Glaube an Gott hat sich dann erst im Laufe der Jahre ausgeschlichen und erst jetzt, im Alter von 45 Jahren, bin ich in der Lage mehr und mehr eine für mich geeignete Form der Spiritualität zu entdecken. Ein sehr heilsamer Prozess.


4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? Wann und warum hast du begonnen, deinen Glauben in Frage zu stellen?

Der Glaube hat mein Weltbild definiert, schließlich bin ich darin aufgewachsen. Ich beschreibe meinen Ausstieg somit auch immer als einen Prozess, der meine Sicht der Welt von ‚flach‘ zu ‚rund‘ gestaltet hat.
Wie oben beschrieben, begann der Abnabelungs- und Frageprozess mit Beginn der Pubertät. Vor allem dadurch bedingt, dass ich ein starkes politisches Interesse entwickelte und eine Unmenge von Büchern las – und meine Eltern, vor allem meine Mutter mich diese zum Glück auch lesen lies.
Interessanterweise hat eben dieser Zweifel dazu geführt, dass ich mich zeitweise extra stark bemüht habe, zum Beispiel verstärkt in den Predigtdienst gegangen bin. Ich bin aufgrund meines Zweifels zeitweilig daran verzweifelt, dass ich die Liebe Gottes nicht gespürt habe. Eine völlig bescheuerte Art und Weise, seine Pubertät zu verbringen.


5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?
Welche Menschen hast du durch dein Verlassen der Organisation verloren? Wie wirkt sich das aus?

Tatsächlich habe ich selbst nach dem Ausstieg alle Kontakte abgebrochen – auch zu meinen Eltern. Meine Mutter ist mittlerweile verstorben, das Verhältnis zu diesem Teil meiner Familie – gelinde gesagt – schwierig. 
Ich habe immer wieder mit meinem Vater gerungen, dass er sein Verhältnis zu mir klärt. So hat er damals bei meinem Ausstieg zu mir gesagt, dass ich jetzt nicht mehr sein Sohn bin. Und auch vor einigen Jahren habe ich ihn nochmals mit der Frage konfrontiert, was ihm wichtiger ist, seine Religion oder seine Familie. Und wieder war es die Religion, sein Gott, den er uns seiner ihn immer noch liebenden Familien, mittlerweile auch mit Enkeltochter, vorgezogen hat. Da habe ich ihn dann also final verloren und habe damit mittlerweile auch meinen Frieden gemacht und meine Bemühungen eingestellt.


6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?
Spielen z.B. Ängste eine Rolle?

Mittlerweile geht es mir nach vielen Jahren mit schweren Depressionen … gut! 
Ich habe fast 10 Jahre therapeutische Begleitung hinter mir und all diese Themen aufgearbeitet. Ich habe mit tiefenfundierter Psychotherapie meine Psyche analysiert, mit all diesen bedrängenden Mustern und Glaubenssätzen (im wahrsten Sinne des Wortes) aufgeräumt, ich habe mit Körpertraumatherapie den Folgen dieser Verletzungen in meiner Kindheit in meinen Körper nachgespürt und diese geheilt, ich habe mit Familienaufstellungen meine väterliche Linie gekappt und mit einem schamanistischen Ritual meine Heilung abgeschlossen. Wenn das überhaupt möglich ist …

Ich bezeichne mich selber als ‚trockenen Depressiven‘, das heißt, dass ich weiß, das mich meine Depressionen, wie eben auch meine Sektenkindheit Zeit meines Lebens begleiten werden, ich aber mit ihnen umgehen kann. Mal besser, mal schlechter. Aber ich eben auch weiß, wo und wie ich mir Hilfe suchen kann.
Die Depressionen waren das Ergebnis einer erschöpfenden Kindheit in einem destruktiven Kult. So bezeichne ich mich auch selber als Missbrauchsopfer: Zwar wurde ich nicht körperlich missbraucht (auch wenn ich von dementsprechenden Fällen weiß), doch haben mich meine Eltern für ihre Angst missbraucht und mich in dieser Sekte aufwachsen lassen.

Das Entwickeln von Ambiguitätstoleranz hat mir dazu verholfen, über den Widerspruch hinwegzukommen, dass ich meine Eltern trotzdem liebe.
Und mittlerweile habe ich aus meinen Leichen im Keller meine Ressourcen gemacht und helfe als psychotherapeutischer Heilpraktiker und systemischer Coach anderen Sektenaussteigern in ihren Prozessen, denn eben darin bin ich Experte!
Diese Arbeit erfüllt mich mit viel Freude und Stolz, denn sie gibt meiner Geschichte nun final eine Sinnhaftigkeit!
https://johannesbraun.berlin/


7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Darauf möchte ich mit diesem Gedicht antworten, das mir über die Jahre immer Kraft gegeben hat:

Out of the night that covers me,
Black as the Pit from pole to pole,
I thank whatever gods may be
For my unconquerable soul.

In the fell clutch of circumstance
I have not winced nor cried aloud.
Under the bludgeonings of chance
My head is bloody, but unbowed.

Beyond this place of wrath and tears
Looms but the Horror of the shade,
And yet the menace of the years
Finds, and shall find, me unafraid.

It matters not how strait the gate,
How charged with punishments the scroll,
I am the master of my fate:
I am the captain of my soul.

William Ernest Henley (Invictus)
😉


8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Den Interessierten möchte ich raten, sich gründlich zu informieren, auf was und wen sie sich eingelassen haben und dem anfänglichen ‚Love-Bombing‘ zu misstrauen. Hinterfragt genau, was ihr sucht und ob ihr es wirklich bei den Zeugen Jehovas findet.

Den Zweifelnden möchte ich empfehlen, ihrem Zweifel Raum zu geben, keine Angst zu haben und sich bewusst zu machen, dass das Leben nicht statisch, sondern immer in Bewegung ist. Und vor allem, dass es viele und nicht nur die eine ‚Wahrheit‘ gibt. Dieses Konzept ist lebensfeindlich. Und den Ausgestiegenen, egal ob frisch oder schon lange, möchte ich raten: Fragt nach Hilfe, wenn ihr Euch von diesen Erfahrungen überwältigt fühlt. Mir hat meine Therapie das Leben gerettet.