ÜberLebenswege – Barbara Kohout aus A.

Barbara Kohout aus A.
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

1948 wurden meine Eltern von Zeugen Jehovas an der Haustüre angesprochen. Wir waren Flüchtlinge und mein Vater war beeindruckt von der Information, dass viele Zeugen Jehovas wegen ihrer Weigerung am Krieg teilzunehmen in Konzentrationslager zu leiden hatten. Während meine Mutter daran interessiert war, die Bibel besser kennen zu lernen. Sie war der Überzeugung, dass wir durch die Kriegsjahre von Gott beschützt waren und die Verheißung aus Jesaja, dass wir Häuser bauen werden und nicht mehr vertrieben werden, hat sie gefesselt.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?
Womit hattest du am Meisten zu kämpfen?

Als Kind folgte ich der Begeisterung meiner Eltern und wurde eine sehr gewissenhafte Wachtturm-Schülerin. Ich predigte mit dem größten Eifer und hatte keinerlei Scheu auch Geistliche, Nonnen, Stadtratsmitglieder, Lehrer, Mitschüler oder Wohnungsinhaber in Stadt und Land anzusprechen. Ich ließ mich auch nicht entmutigen, wenn wir aus einem Dorf vertrieben wurden, indem man uns mit Steinen bewarf, weil der Pfarrer von der Kanzel vor uns gewarnt hatte
Ich wurde Pionierin und heiratete einen Pionier, der meinen Eifer teilte. Wir bewarben uns für den Sonderpionierdienst, lebten in einem Gebiet, in dem Hilfe Not tat, auch nachdem unsere drei Kinder geboren waren. Es war an der Zonengrenze und mein Mann und ich bauten dort eine Versammlung auf und fühlten uns wie der Bergungsort vor dem Sturm für jeden in der Versammlung. 
Doch das hatte zwei Seiten. Die Arbeit machte sich ja nicht von allein und ich war schließlich völlig erschöpft und gesundheitlich an meinem Limit. Darum traf mein Mann eine spontane Entscheidung, die Versammlung zu verlassen und in Camberg im Taunus einen Neuanfang zu starten. 
Nach einer kurzen Erholungszeit, die auch für meine Tochter, dank eines hervorragenden Arztes endlich die Heilung ihrer extrem häufigen Infektionskrankheiten brachte, folgten wir dem Ruf meines Vaters und zogen wieder in meine Heimatversammlung nach Weilheim. 
Dort gingen wir wieder in der Arbeit für die Versammlung auf. Ich begleitete meinen Vater auf seinem letzten Weg bis zu seinem Tod 1985. Er hat noch erlebt, dass wir ein Grundstück für den Bau eines Königreichssaales kaufen konnten. Doch seine Fertigstellung hat er nicht mehr erleben dürfen. 
An diese Zeit denke ich nur noch mit Schaudern zurück. Wir hatten so viele Herausforderungen zu meistern, sowohl in der Versammlung mit all den Belangen, um die sich ein Ältester zu kümmern hat, dann die Arbeit am Bau. Unsere berufliche Belastung mit dem Raumausstatter Geschäft, bei dem wir immer gerade das Minimum verdienten um zu überleben. Wir hatten drei Kinder, die wir „in der Wahrheit“ erziehen mussten. 
Wir haben uns verausgabt bis zum geht nicht mehr. Es war nie genug. 
Vor allem, dass wir so viel Zeit und Kraft verwendet haben, um den Interessen des Königreiches – wie wir es nennen sollten – zu dienen, anstatt sie für die Interessen unserer Familie einzusetzen, bereue ich heute zutiefst. 

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Gab es ein ausschlaggebendes Ereignis?

Nach der Fertigstellung des Saales fassten die Ältesten der Versammlung Weilheim den Beschluss, dass sie nicht mehr mit meinem Mann zusammenarbeiten wollten. Karl erlitt einen totalen Nervenzusammenbruch. Wir waren beide nicht in der Lage, unter diesen Bedingungen in der Versammlung Weilheim zu bleiben. Um nicht „am Glauben Schiffbruch zu erleiden“, wechselten wir in eine italienische Versammlung um dort zu helfen, ihr fremdsprachiges Gebiet zu bearbeiten. Allerdings hat sich das für unseren Jüngsten nicht gut ausgewirkt. Er hat natürlich die Sprache nicht verstanden, war auch nicht so ehrgeizig wie wir, sie in kürzester Zeit zu erlernen. Es wurde ihm langweilig und wir befürchteten, dass er uns für das ewige Leben verloren geht. Seine Schwester war bereits verheiratet und sein Bruder arbeitete in der Zentrale in Selters als Bethelmitarbeiter.
Seinetwegen sind wir nochmals umgezogen. Zunächst nach Schwandorf und dann nach Regensburg. 
Mein Mann hat sich selbst verleugnet. Trotz seiner schweren Depression ließ er sich wieder zum Ältesten ernennen und hat funktioniert. Wir hatten so einen Tunnelblick auf das Ziel, Harmagedon zu überleben, dass wir nicht in der Lage waren, die Ereignisse zu hinterfragen.
Bis zu dem Zeitpunkt, als Jörg Alexander begann, im Internet die Lehre der Wachtturm Gesellschaft kritisch zu analysieren. Da bekam ich Panik. Er durfte nicht abtrünnig werden. Er musste loyal zu Jehova bleiben. Ich musste ihn aus dem Feuer reißen.
Ich habe ihn in den einschlägigen Foren gesucht und bei Manfred Gebhard als Plus gefunden.
Ich begann mit ihm zunächst unter dem Avatar „Alphabethus“ eine Konversation, bei der ich ihn davon überzeugen wollte, dass er sich irren muss, denn wir hatten ja die Wahrheit und waren in der Wahrheit – davon war ich damals tatsächlich überzeugt. Alles was wir erlebt hatten, schob ich dem mangelnden Geistiggesinntsein Einzelner zu.
Doch Plus veröffentlichte die Dokumente, auf die er sich berief. Ich konnte mit eigenen Augen lesen, dass ich mich irrte und nicht er. Dann bekam ich das Buch von Raymond Franz, „Der Gewissenskonflikt“. Nach dieser Lektüre war ich restlos fassungslos. Das hat mich ziemlich aus den Fugen gebracht. 
Nachdem auch Karl das Buch gelesen hatte, beschlossen wir, die Versammlung nicht mehr zu besuchen. 

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen? 

Mein Glaube war extrem stark. Ich glaubte bedingungslos daran, dass wir „in der Wahrheit“ sind. Über Jahrzehnte haben wir in verschiedenen Versammlungen die Bürden der Anderen getragen. Wir waren für sie da. Das war meine Definition von Liebe. Es gab durchaus auch Phasen, in denen ich mutlos war. Mich kraftlos fühlte und mich fragte, warum mache ich das alles? Doch mein Mann hat mich aus solchen Tiefs immer wieder herausgeführt. Ich habe dann den Rat des „treuen und verständigen Sklaven“ befolgt und mehr studiert, mehr gebetet und bin mehr in den Dienst gegangen. An den Kongressen ließ ich mich auf die emotionale Manipulation voll ein. Ich dachte wirklich, das war jetzt wieder eine Kraftstation. Ein Segen Jehovas. Zweifel habe ich im Prinzip nicht zulassen können, denn dann wäre ich den Erwartungen nicht mehr gewachsen gewesen. Wir hatten stets und immer vorbildlich zu sein. Erst die direkte Konfrontation mit den Fakten, die Jörg mir präsentierte, hat mir die Möglichkeit gegeben rationale Fragen zu stellen. Erst seine Beweise erlaubten meinem Intellekt aufzuwachen und eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. 

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?
Welche Menschen hast du durch dein Verlassen der Organisation verloren? Wie wirkt sich das aus? 

Getreu den Anweisungen wurden wir ein Jahr nachdem wir den Besuch der Zusammenkünfte und den Predigtdienst eingestellt hatten von zwei Ältesten besucht. Sie wollten unsere Gesinnung prüfen und wir fragten sie, wie es sich mit der Bibel vereinbaren lässt, dass so viele Lehren immer wieder geändert würden. Der Geist Jehovas kann sich doch nicht ändern. Sie haben natürlich verstanden, dass wir den „Sklaven“ nicht mehr als treu und verständig betrachteten. Sie konstatierten unverzüglich, dass wir Abtrünnige wären. Uns wurde die Gemeinschaft entzogen. 
Das bedeutete, dass wir unsere gesamten Verwandten, die Zeugen Jehovas sind verloren haben. Alle, meine Mutter, mein Bruder, meine Schwestern eingeschlossen ihre Ehepartner und Kinder, haben sich an das Kontaktverbot gehalten. Meine Mutter hat bis zu ihrem Tod nicht mehr mit mir gesprochen. Meine Geschwister haben mich nicht von ihrem Tod verständigt, nicht zu der Beerdigung eingeladen, mir nicht gesagt, wo ihre Grabstätte ist. Gleiches gilt vom Tod meiner Schwägerin. Natürlich gibt es auch keinerlei Kontakte zu den allermeisten Zeugen Jehovas, für die wir in der Vergangenheit Zeit und Kraft und unsere materiellen Mittel geopfert haben. Das ist keine bedingungslose Liebe, die sie praktizieren. Sie handeln nach dem Motto, wer nicht mit mir ist, ist gegen mich. Wer nicht gehorcht, wird gemieden. Sie fühlen sich im Recht. 

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?
Spielen z.B. Ängste eine Rolle? 

Heute schaue ich auf eine lange Reise zu mir selbst zurück. Es war ein schwerer Kampf, sich selbst zu finden und zu entdecken, wer man wirklich ist. Es hat mir sehr gutgetan, dass ich anderen aus meiner Erfahrung etwas geben konnte. Mir geht es jetzt sehr gut, denn ich kann vergeben. Ich kann die Verantwortung für das was gewesen ist übernehmen, denn ich habe es ja zugelassen. Es gibt zwar immer wieder noch Momente, in denen ich mit alten Glaubenssätzen konfrontiert werde. Das sind dann verborgene Verletzungen die mir Lektionen erteilen, aus denen ich lernen kann. Was ich aber vollständig überwinden konnte, das sind die Ängste und Schuldgefühle. Ich fürchte mich nicht mehr davor, dass Jehova mich bestraft, oder dass Harmagedon vor der Türe steht, oder dass ich zu wenig getan habe, oder dass ich vielleicht sterben könnte. 
Ich bin unendlich dankbar dafür, dass ich in den vergangenen Jahren so viel Neues lernen durfte. Ich kann sagen, das Leben ist so spannend und faszinierend, dass ich es in vollen Zügen genieße. Also nicht mit Halli-Galli oder so. Nein, ich sauge Wissen auf wie ein trockener Schwamm das Wasser und ich genieße es. 

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit? 

Ich habe ein unglaublich spannendes Leben geführt. Ich konnte Dinge erfahren, die mich wissender gemacht haben. Ich bin inzwischen dankbar für das „Trainingslager“ wie ich heute mein Leben sehe. Ich habe gelernt, dass man selbst die Entscheidung treffen kann, wie man mit seinem Schicksal umgeht. Ich wollte nicht in der Opferrolle bleiben. Ich fühlte mich nicht gut dabei, wenn ich mich darüber beklage, was mir angetan wurde. Ich wollte lieber fragen, was konnte ich daraus lernen? Wie kann ich damit etwas Nützliches anfangen? Die Arbeit in der Aufklärung und Opferhilfe war und ist eine sehr sinnvolle Aufgabe. Ich hätte sie so nicht tun können, wenn ich nicht auf den reichen Schatz der Erfahrung zurückgreifen könnte. 

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. zweifelnden Mitgliedern mitgeben? 

Wer sich für „die Wahrheit“ interessiert, sollte unbedingt bedenken, dass es nicht nur eine Wahrheit geben kann. Denn es kommt immer auf die Perspektive der Betrachtung an, was man als Wahrheit sehen kann. Wer mit seinem Gesicht zur Sonne blickt, wird den Schatten hinter sich nicht sehen können. Es ist darum ganz wichtig, sich auch mal umzudrehen und die andere Seite zu betrachten. Es ist nicht verkehrt, wenn ein Erwachsener sagt, ich suche eine Gemeinschaft mit strengen Regeln, die mir Sicherheit für meine Handlungen gibt und sich für eine Glaubensgemeinschaft seiner Wahl entscheidet. Solange er ganz sicher ist, dass er sich in dem Konstrukt wohl fühlt mag es für ihn das Richtige sein. Aber wer seine Zweifel hat, sollte unbedingt auf sein Gefühl hören und seinen Zweifeln auf den Grund gehen. Wenn man nicht am richtigen Platz ist, kann es einem nicht wirklich gut gehen. Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Habt den Mut zum Zweifel!