ÜberLebenswege – Annika J. aus Aachen

1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen? 

Meine Mutter fing ein Bibelstudium mit den ZJ an, als ich etwa zwei Jahre alt war, und ließ sich taufen, als ich vier Jahre alt war. An die Zeit davor kann ich mich nicht erinnern, also bin ich praktisch reingeboren.


2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Die positiven Aspekte waren für mich der Zusammenhalt, das Gemeinschaftsgefühl und die Bestätigung, „auf dem richtigen Weg“ bzw. „auserwählt“ zu sein. Es hat mir immer einen Lebenssinn gegeben und ich hatte das Gefühl, dass ich damit anderen Menschen helfen und sogar Leben retten kann. Als Kind fand ich die Kongresse bzw. das Drumherum immer sehr aufregend: die Vorbereitungen, die Anreise, der Campingurlaub, den wir im Sommer immer damit verbunden haben, die Filme und Dramen (biblische Theateraufführungen), das Träumen vom Paradies… 

Die negativen Aspekte waren vor allem das Mobbing in der Schule und die Tatsache, dass ich viele schöne Dinge in der Schule nicht mitmachen durfte. Ich war immer eine Außenseiterin, weil ich an keinen der Feiertagsaktivitäten teilnehmen durfte. Manchmal wurde ich sogar (auf Wunsch meiner Mutter) aus der Klasse geschickt, wenn z.B. Weihnachtslieder gesungen wurden. Selbst wenn meine Mutter versuchte, mir zu erklären, warum „Jehova das nicht mag“, habe ich es nicht wirklich verstanden. Ich war oft einsam und habe mich in mich selbst zurückgezogen.

Ab der dritten Klasse wurde ich von einem älteren Mitschüler besonders schlimm gemobbt: er beschimpfte, beleidigte und schlug mich. Die Lehrer haben nichts dagegen unternommen. Das ging über mehrere Jahre so, bis ins Teenageralter. Viele Mitschüler und auch Lehrer hatten natürlich kaum Verständnis für meinen Glauben und sagten mir, dass das eine verrückte Sekte ist usw. Ich habe aber alle Zweifel oder Kritik abgeblockt. Je mehr ich in der „Außenwelt“ ausgegrenzt und abgelehnt wurde, desto mehr identifizierte ich mich mit den ZJ. Die Gemeinschaft gab mir Halt und Bestätigung, die ich so dringend brauchte. 

Als Kind hatte ich furchtbare Angst vor Harmagedon und vor Satan und den Dämonen, weil uns diesbezüglich immer Horrorgeschichten erzählt wurden (einige davon direkt aus der Bibel). 

Die Zusammenkünfte zweimal in der Woche waren ein fester Bestandteil meines Alltags, genauso wie der Predigtdienst am Wochenende. Obwohl ich das Predigen von Haus zu Haus nicht mochte und ich sogar etwas Angst davor hatte, musste ich mitgehen. Mir war es immer furchtbar unangenehm, die Leute morgens am Wochenende rauszuklingeln, aber ich hatte kaum eine andere Wahl. Wenn ich zu wenige Stunden in den Bericht schrieb, gab es ein Gespräch mit den Ältesten, was mich unter Druck setzte, mehr predigen zu gehen. Und der Gedanke, dass es unterlassene Hilfeleistung (oder sogar „Blutschuld auf mir“) wäre, wenn ich es nicht tue, hat mich dazu gebracht, weiterzumachen. Aber in Wirklichkeit habe ich es gehasst.

Ich fand es furchtbar, mit manchen Menschen Zeit verbringen zu müssen, die ich nicht mochte, nur weil sie mein Glaubensbrüder waren. Ich konnte mit niemandem wirklich über meine wahren Gedanken und Gefühle reden, v.a. wenn etwas als „zu kritisch der Organisation gegenüber“ oder gar als „abtrünniges Gedankengut“ hätte wahrgenommen werden können – ich hatte Angst, dass die Person mich bei den Ältesten verpetzt. Zweifel wurden einfach vom Tisch gewischt mit „Da musst du auf Jehova vertrauen.“ Ich konnte mich nicht wirklich entfalten, weil ich mich bei jeder noch so kleinen Entscheidung fragen musste: „Findet Jehova (=die Organisation der ZJ) das gut oder nicht? Wie denken die anderen in der Versammlung über mich, wenn ich das tue?“

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Nach dem Ausschluss meiner Eltern und meinem Suizidversuch 2017 habe ich mich nach monatelangem Abwägen dazu entschieden, die ZJ zu verlassen. Ich habe einen Austrittsbrief verfasst, in dem ich auf mehreren Seiten meine Gründe für den Austritt aufschrieb. Danach bekam ich noch einen Anruf von einem Ältesten, der versuchte, mich umzustimmen, aber ich lehnte dankend ab. Am 13. Dezember 2017 wurde dann öffentlich bekannt gegeben, dass ich keine ZJ mehr bin. 


4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen deinen Glauben in Frage zu stellen?

Ich habe mich stark mit der Gemeinschaft identifiziert und der Glauben war mein wichtigster Lebensinhalt. Ich hatte den Ruf, eine besonders vorbildliche Zeugin zu sein. Ich spielte eine Zeit lang im Versammlungsorchester mit, bekam besondere Aufgaben und Vorrechte (innerhalb des begrenzten Rahmens für eine Frau, natürlich) und machte hin und wieder den Hilfspionierdienst. Ich war sehr überzeugt von dem Glauben und hatte immer das Ziel, eines Tages Pionierin oder Missionarin im Ausland zu werden und/oder einen Ältesten zu heiraten. Innerhalb der Gemeinschaft hatte ich auch recht viele Freunde. 2015 heiratete ich einen Bruder mit einem „vorbildlichem Ruf in der Versammlung“.

Die Zweifel begannen etwa 2016, als ich 22 Jahre alt war. Meine Mutter und mein Stiefvater hatten angefangen, auf eigene Faust in der Bibel zu forschen, und sind dabei auf einige massive Unstimmigkeiten in den Lehren der ZJ gestoßen. Irgendwann kam heraus, dass sie ihre Forschungsergebnisse auf einer Website veröffentlicht haben, wo sie auch die Organisation der ZJ offen kritisierten. Es dauerte nicht lang und die beiden wurden aus fadenscheinigen Gründen ausgeschlossen. Das Ganze hat mich sehr durcheinander gebracht und psychisch stark belastet. 

Nach dem Ausschluss meiner Eltern war ich in einem Loyalitätskonflikt: Halte ich mich an die Regel der ZJ, den Kontakt zu Ausgeschlossenen abzubrechen, obwohl es mir das Herz zerreißt? Oder halte ich trotzdem den Kontakt zu meinen Eltern, riskiere damit aber, selbst ausgeschlossen zu werden? Ich sah nicht ein, dass ich meine Eltern wie Fremde behandeln muss, obwohl in der Bibel steht, dass man „Vater und Mutter ehren“ soll. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass ein Gott der Liebe so etwas Grausames von mir verlangen würde, nur, weil sie die Bibel etwas anders interpretieren als die ZJ. Also hielt ich den Kontakt. Ich musste mich aber heimlich mit meiner Mutter in Cafés treffen, weil mein Mann strikt dagegen war, dass sie mich zu Hause besucht. Er hat ziemlich abfällig über meine Eltern geredet, weil sie jetzt als „Abtrünnige“ galten. Ich war schockiert, wie kalt und herzlos die Ältesten mit ihnen umgingen und wie hart sie – auch von den Mitgliedern der Versammlung – dafür verurteilt wurden, dass sie einfach nur in der Bibel geforscht hatten. Und ich bemerkte, dass viele Lehren der ZJ überhaupt nicht stimmig waren, was mich immer mehr daran zweifeln ließ, dass ich „in der Wahrheit“ bin. Plötzlich verlor all das, woran ich mein ganzes Leben so fest geglaubt hatte, sein Fundament; mein Glaubensgerüst wurde instabil und ich fing an zu zweifeln. Ich war so verwirrt, dass ich nicht mehr wusste, woran ich noch glauben konnte. Es machte mir eine enorme Angst, weil an dem Fundament meines gesamten Lebens, meiner Identität, gerüttelt wurde und alles einzustürzen drohte. Ich war zu diesem Zeitpunkt schon schwer depressiv (u.a. durch die unglückliche Ehe), dazu kamen dann noch die (sozialen) Existenzängste, meine Glaubens- und Identitätskrise und der Loyalitätskonflikt. Irgendwann konnte ich es nicht mehr ertragen und versuchte im Juli 2017, mir das Leben zu nehmen. Dieser Zeitpunkt war trotz der Tragik der entscheidende Wendepunkt in meinem Leben. Ich verstand endlich, dass ich nicht mehr wie bisher weiterleben konnte und dringend etwas verändern musste. In den darauffolgenden Monaten, die ich stationär in einer psychiatrischen Klinik verbrachte, veränderte sich viel in meiner Denkweise. Ich konnte erstmals meine wahren Gedanken und Gefühle zulassen und aussprechen. Letztendlich fasste ich den Entschluss, sowohl die ZJ als auch meinen Mann zu verlassen. 

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Alle meiner damaligen ZJ-Freunde haben sofort den Kontakt zu mir abgebrochen. Nicht einer hat sich noch mal bei mir gemeldet, abgesehen von meiner damals besten Freundin. Sie war die einzige, die gefragt hat, warum. Ich habe ihr versucht es zu erklären, aber sie konnte oder wollte es nicht verstehen. Sie war am Boden zerstört. Ab diesem Zeitpunkt war ich für sie wie tot und sie trauerte um mich. Das hat mich sehr traurig gemacht. Aber ich kann es ihr nicht wirklich übelnehmen, weil ich weiß, wie tief die Indoktrination geht und wie schwierig es ist, sich dem entgegen zu stellen. 

Anfangs war es sehr schwer für mich, realisieren zu müssen, dass meine ZJ-Freunde anscheinend keine „echte“ bzw. keine bedingungslose Freundschaft für mich empfunden hatten. Ich zweifelte, ob ich überhaupt jemals von ihnen um meiner selbst willen gemocht wurde oder nur, weil ich eine „vorbildliche Schwester“ war. Ich habe noch heute deswegen starke Selbstzweifel und Schwierigkeiten, Freundschaften zu knüpfen.

Wenn ich heute eine/n ZJ von damals treffe, werde ich praktisch immer wie Luft behandelt. Anfangs hat mir das wehgetan, vor allem wenn es frühere Freunde waren, aber mittlerweile kaum noch. Da aus meiner Familie nur ich und meine Eltern bei den ZJ waren, habe ich das Glück, dass ich keine ZJ-Familienmitglieder habe, die mich ächten. 


6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Im Vergleich zu der Zeit vor meinem Ausstieg geht es mir wesentlich besser, weil ich endlich ich selbst sein kann und so lebe, wie ich es möchte. Ich habe das Gefühl, endlich Kontrolle über meine Lebensgestaltung zu haben. Trotzdem habe ich noch mit verschiedenen Problemen zu kämpfen wie Unsicherheit, schlechtes Selbstwertgefühl, Versagensängste, Gefühle von Wertlosigkeit und Scham. Oft zweifle ich an meiner eigenen Wahrnehmung oder misstraue meiner Intuition. Ich leide unter wiederkehrenden depressiven Episoden, teils schweren Angstzuständen und einer posttraumatischen Belastungsstörung, weswegen ich auch in psychotherapeutischer Behandlung bin. Aber ich bin schon sehr weit gekommen auf meinem Weg zur Heilung und ich bin zuversichtlich, dass es mir langsam immer besser gehen wird.


7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Ich kann mittlerweile akzeptieren, dass die ZJ in der Vergangenheit mal ein wichtiger Teil meines Lebens waren, der mich stark geprägt und zu dem gemacht hat, was ich bin. Aber es bestimmt jetzt nicht mehr mein Leben. Ich habe gelernt, dass ich eine unglaubliche Stärke und Widerstandsfähigkeit habe. Alles, was ich durchgemacht habe, hat mich stärker gemacht und ich bin stolz darauf, dass ich mich aus dieser Sekte befreien konnte. Ich habe verstanden, dass mein Wert als Mensch nicht davon abhängt, wie ich lebe, wie viel ich leiste oder woran ich glaube. 


8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Wenn du dich für die ZJ interessierst: Informiere dich gründlich, hinterfrage alles. Zuerst klingt alles toll, aber glaube nicht alles, was die Zeugen dir erzählen. Hör dir auch die andere Seite an. Sei dir bewusst, dass die ZJ sehr geschickt darin sind, Menschen von einer Sache zu überzeugen und so zu argumentieren, dass es logisch zu sein scheint. Frage nach, und lass dich nicht mit einfachen Argumenten abspeisen.

Wenn du zweifelst, ob die Organisation der ZJ „die Wahrheit“ ist: hör auf dein Bauchgefühl, und schieb die Zweifel nicht einfach zur Seite. Sie sind ein Warnsignal, dass etwas nicht stimmt – höre darauf! Sprich mit jemandem, dem du vertraust (am besten einem Nicht-ZJ oder einer anderen neutralen Person). Lass deine Gedanken und Gefühle ehrlich zu; schreib sie auf. Mir hat es geholfen, eine Pro- und Contra-Liste zu schreiben; dann sieht man oft klarer. Suche online nach Antworten und nimm Kontakt mit Aussteigern oder Hilfsorganisationen wie JZ Help auf. Auch www.die-vierte-wache.eu ist eine lesenswerte Seite.
Du bist nicht allein, und du kannst es schaffen, dich aus dieser Sekte zu befreien. Es gibt immer einen Weg in die Freiheit.