1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?
Ich wurde in eine Zeugen Jehovas Familie hineingeboren.
Mein Vater kam als einer der letzten und einer der wenigen, die den 2. Weltkrieg und die russische Kriegsgefangenschaft überlebt hatten, zurück. Als Katholik war er von der Religion total enttäuscht. Seine erste Frau, die er kurz vor dem 2. Weltkrieg geheiratet hatte, hatte ihn mit seinem besten Freund verlassen. Aus einem Fronturlaub entstammten ein Sohn und eine Tochter, von denen er erst erfuhr als er heimkam. Da der jetzige Ehemann seiner ersten Frau mit dem Sohn nicht klar kam, wuchs dieser bis zur Rückkehr meines Vaters bei meiner Oma auf. Kaum den Krieg überlebt und die wirtschaftliche Existenz verloren (mein Opa hatte ein großes Taxigeschäft in Augsburg, das leider komplett ausgebombt wurde), stand mein Vater plötzlich mit einem Sohn da, für den er sorgen musste.
… und da kamen die Zeugen Jehovas zu meiner Oma und versprachen, dass in kürze, in 1 oder spätestens 2 Jahren, auf der Erde ein Paradies von Gott errichtet wird ohne Krieg, Krankheit, Hunger, wirtschaftlicher Not, Trauer und ohne Tod. Dieses Versprechen war genau der richtige Hoffnungsschimmer für meine Oma und meinen Vater und deshalb schlossen sie sich den Zeugen Jehovas an.
Meine Mutter wurde mit ihrer Familie als Deutsche aus Polen vertrieben. Vor dem Krieg heiratete sie ihre große Liebe. Leider sah sie ihn nur einmal während eines Fronturlaubs bevor er „fiel“. Sie hatte damit alles verloren. Über mehrere Stationen kam sie schließlich nach Augsburg.
Sie lernte dort, eine ebenfalls aus Polen Vertriebene, kennen, die mit ZJ in Kontakt war. Die Verbundenheit mit jemandem aus der alten Heimat, die ebenfalls Protestantisch war, und das bereits angeführte Versprechen der ZJ auf ewiges Glück im Paradies überzeugte sie sich den ZJ anzuschließen.
Über die ZJ-Versammlung (Gemeinde) lernten sich meine Mutter und mein Vater kennen und heirateten. Als sie mit mir schwanger wurde, schämte sie sich sehr so „kurz“ vor Harmagedon noch ein Kind zu bekommen. Als dann Harmagedon nicht kam, war meine Mutter sehr glücklich mich zu haben.
Warum erzähle ich das so ausführlich? Weil es zeigt, wie ZJ Menschen in Lebenskrisen „fischen“ und man dort – zumindest eine Zeit lang – Sinn im Leben finden kann. Da ist meine Familie das beste Beispiel dafür.
2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?
Mein Vater arbeitete Teilzeit, ging viel in den Predigtdienst und war auch sehr erfolgreich dabei. Er führte weit über 100 Personen zu den ZJ, auch Onkel und Tanten mütterlicherseits. Er war Versammlungsdiener (damals gab es noch keine Ältestenschaft) und er leitete den Ordnungsdienst auf Kreis- und Bezirkskongressen und hielt dort auch Vorträge. Bei uns zuhause waren immer Kreis- und Bezirksdiener (damals hießen sie noch so) und hochrangige Mitarbeiter aus dem Zweigbüro in Wiesbaden zu Gast. Wir waren eine absolute Vorbildfamilie und das war auch der Anspruch an mich, dem ich auch gehorchte.
Jeden Tag wurde der Tagestext gelesen. Jeden Sonntagvormittag ging es bei Wind und Wetter in den Predigtdienst – vorher natürlich noch in den Treffpunkt. Auch wenn ich warm angezogen war, froren mir immer Finger und Zehen. Dienstagabend, Freitagabend und Sonntagnachmittag ging es in die Versammlung, selbstverständlich haben meine Eltern mit mir das Buch für Dienstag und den Wachtturm für Sonntag „vorstudiert“. Im Urlaub haben meine Eltern meist Ferienpionier (75 Std. im Monat) gemacht. Sonntagsausflüge gab es nie und Urlaubsreisen für 2 Wochen nur alle paar Jahre. Das alles hat mich eigentlich nicht so sehr gestört, ich war von dem allem total überzeugt und es war normal für mich.
Als ich so ungefähr 10 Jahre alt war kam es zu einem großen Konflikt um meinen Vater. Mein Vater erzählte uns von einer Besprechung mit den Versammlungsdienern anlässlich eines Kongresses bei der der Zweigdiener Konrad Franke alle Versammlungsdiener aufforderte unmissverständlich in den Versammlungen zu pushen, dass 1975 Harmagedon kommt. Mein Vater widersprach ihm vor versammelter Mannschaft, weil das weder biblisch fundiert sei, noch eindeutig aus den Wachtturm-Publikationen hervorging. Später wurde ihm vorgeworfen, dass er zu streng als Versammlungsdiener sei – was wahrscheinlich auch stimmte. Dies führte zur Spaltung in der damaligen Versammlung, die einen waren für meinen Vater, die anderen gegen ihn. Der Konflikt gipfelte in einem außerordentlichen Treffen aller Beteiligten im „Königreichssaal“ unter der Leitung des damaligen Zweigdieners Konrad Franke. Letztlich wurde mein Vater entbunden, was ihn sehr schmerzte und was er nie verwinden konnte. Ich bekam das alles als Kind mit und es entfremdete mich von der Organisation der ZJ, nicht jedoch von deren Lehren.
Als ich dann in die Pubertät kam, hatte ich einige „weltliche“ Freunde mit Partys, Alkohol, Knutschen und natürlich habe ich auch Zigaretten ausprobiert, obwohl ich immer noch alle ZJ-Aktivitäten mitmachte. Meine Eltern machten sich große Sorgen und organisierten ZJ-Freunde für mich, was mich dann verstärkt in die Gemeinschaft wieder einband. Da ich der jüngste in meiner ZJ-Freundesgruppe war, ließen sich alle vor mir taufen und mit 16 stand ich dann auch vor der Entscheidung. Aufgrund meiner schlechten Erfahrung mit der Organisation aus dem Konflikt um meinen Vater wollte ich mich nur Gott und Jesus mit der Taufe hingeben, nicht jedoch einer menschlichen Organisation. Damals bezog sich das Taufgelübde auch nur auf Gott und Jesus – deshalb ließ ich mich dann taufen. Jahre später bekam ich eher zufällig mit, dass das Taufgelübde geändert worden war und nunmehr auch die Organisation einschloss. Unter diesen Umständen hätte ich mich wahrscheinlich nie taufen lassen, rückgängig machen konnte ich sie aber auch nicht.
Meinen Eltern bin ich dankbar, dass sie immer Wert auf Bildung gelegt hatten und mir ein Elektrotechnik-Studium ermöglicht haben, obwohl auch damals höhere Bildung absolut verpönt war. Mir wurde gesagt wie unsinnig es ist ein Studium zu beginnen, das man noch nicht mal zu Ende führen kann, weil vorher Harmagedon kommt und mir wurde auch unterstellt, ich sei schwach im Glauben.
Mit 18 habe ich mich in eine ZJ verliebt. Die Freundschaft war kompliziert. Händchenhalten und Knutschen war verboten, nur wenn man auch heiraten wollte. Ich wollte die junge Frau zunächst jedoch einfach nur kennenlernen, aber sie stand permanent mit ihrem „geistlichen“ Vater in Kontakt, der auch ein prominenter Ältester war und mit dem sie sich offensichtlich auch über intimes austauschte und er sie instruierte. Ihr leiblicher Vater war kein ZJ. Der Standardsatz war immer „… aber Bruder W. hat gesagt“. Jahre später habe ich erfahren, dass sie eine unter sehr vielen jungen Mädchen war, die von Brd. W., auch in intimen Dingen, „beraten“ wurde. Aber wenn man verliebt ist, dann nimmt man das halt alles in Kauf und wir haben mit 19 geheiratet – noch während meines Elektrotechnik-Studiums – und im Laufe der Zeit 4 Kinder bekommen.
Mein Leben war jetzt noch mehr durchgetaktet. Als Alleinverdiener war es nicht einfach eine 6-köpfige Familie mit Essen, Kleidung und Obdach zu versorgen. Deshalb musste ich auch oft Überstunden machen und ich hatte einen stressigen Job. Zu dem bereits vorher beschriebenen ZJ-Programm kamen im Laufe der Zeit Vorträge und weitere Aufgaben als Ältester. In der Freizeit musste ich noch Haus und Garten instand halten. Einzig den Tagestext habe ich versucht ausfallen zu lassen – ich habe ihn seit den späten Kindheitstagen gehasst – leider hat da meine Frau meist nicht mitgemacht.
Ich langweilte mich immer mehr in den Zusammenkünften, da immer wieder derselbe Stoff „durchgekaut“ wurde. Die Kongresse als Kind oder später mit 4 kleinen Kindern, die unter völlig unzumutbaren Bedingungen stattfanden – 3 bis 4 Tage mit 8 bis 10 Std. bei brütender Hitze oder Regen und Kälte – waren für mich ein Alptraum.
3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Aufgrund der totalen Durchtaktung meines Lebens bekam ich mit ca. 50 Burnout-Symptome. Ich versuchte zunächst meine berufliche Arbeitsbelastung zu reduzieren. Die Symptome verstärkten sich jedoch und langsam wurde mir klar, dass meine Glaubenszweifel die Ursache waren. Darüber konnte ich jedoch mit niemanden wirklich offen sprechen, auch nicht mit meiner Frau. Es führte regelmäßig zu Streit und belastete unsere Beziehung immer mehr.
Mit 57 war ich an einem gesundheitlichen Tiefpunkt angekommen – extreme Rückenschmerzen, so dass ich teilweise nicht mehr gehen konnte und dauernde Erkältungen, die sich über Wochen hinzogen und noch einiges mehr. Ich dachte, ich benötige eine Kur, aber meine Ärztin empfahl mir statt dessen eine Psychologin. Mit ihr konnte ich endlich über alles offen reden, was mir sehr gut tat. Da wurde mir bewusst, dass ich bei den ZJ aussteigen musste. Inzwischen waren meine Eltern verstorben, ohne dass sich das Versprechen der ZJ erfüllt hatte „Millionen jetzt Lebender werden nie sterben“. Wenn meine Eltern noch gelebt hätten, weiß ich nicht, ob ich es geschafft hätte. Den Weg meines Ausstiegs konnte und wollte meine Frau nicht mitgehen, was dann zur Trennung und später zur Scheidung führte. Mit 58 habe ich im Mai 2016 per Email meinen Austritt erklärt. In dieser Zeit habe ich auch meine jetzige Frau kennengelernt, die mir sehr geholfen hat.
4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?
Als Kind war ich bis ca. 8 völlig vom Weltbild der ZJ überzeugt und bin in den ZJ-Aktivitäten aufgegangen. Aufgrund des Konflikts um meinen Vater bekam ich dann Abstand zur Organisation, nicht aber zur Lehre, auch wenn ich in der Pubertät „weltliche“ Freunde hatte. Mit meiner Taufe und meiner Heirat bin ich dann wieder ganz in den ZJ-Aktivitäten aufgegangen. Ich habe begonnen sehr intensiv „die Bibel anhand der Wachtturm-Schriften zu studieren“. Je intensiver ich mich damit beschäftigte, desto mehr Widersprüche und Zweifel traten auf, z.B. dass das Herz und nicht das Gehirn der Sitz des Gewissens und der Bewegründe sein sollte, die weltweite Sintflut oder die Zeitrechnung der Schöpfungstage (damals 7000 Jahre je Schöpfungstag) und der 6000-jährigen Menschheitsgeschichte – etwas, was komplett im Widerspruch zu Wissenschaft stand. Vieles konnte ich damals nicht verifizieren – es gab noch kein Google – und ich beschloss nur noch das unbedingt Notwendige zu „studieren“.
Zu meiner Zeit war Wehrdienst für jeden Mann Pflicht, den ich jedoch aus Gewissensgründen ablehnte. Da auch der Zivildienst von den ZJ verboten war, verpflichtete ich mich, nach Rücksprache bei meinen Ältesten, beim Roten Kreuz im Katastrophenschutz. Plötzlich änderten die ZJ jedoch die Regeln ohne diese öffentlich zu publizieren und ich musste innerhalb einer kurzen Frist die Verpflichtung widerrufen, was für mich gravierende Konsequenzen haben konnte. Ich verstand schon nicht, weshalb der Zivildienst bei den ZJ verboten war, weil die Begründung mit falschen Fakten geführt wurde. Als dann noch plötzlich die Regeln geändert wurden, verlor ich jedes Vertrauen in diese Organisation.
Später beschäftigte ich mich mal intensiver mit der Berechnung des Jahres 1914 und seiner Bedeutung für das Ende der Welt und erkannte, dass die Argumentationskette völlig hirnrissig ist. Auch stellte ich fest, dass das Bluttransfusionsverbot unmöglich mit der Bibel argumentiert werden kann. Das Leben ist heilig. Das Blut ist lediglich das Symbol. Nach der Bibel müsste es also ein Transfusions-Gebot geben.
Mit 50 forschte ich dann im Internet nach und fand Seiten wie bruderinfo.de und jwsurvey.org, wo von noch-ZJ heimlich die Lehren analysiert wurden. Im Gegensatz zur Wachtturm-Literatur fand ich hier keine Widersprüche. Viele Bibelstellen, die dort zitiert wurden, kannte ich nicht wirklich oder stellte fest, dass ZJ sie in einem völlig sinnentstellten Zusammenhang gebrauchen. Damit fand ich Antworten auf viele Zweifel, die mich mein Leben lang beschäftigt hatten. Mir wurde aber auch immer mehr bewusst, dass die Bibel unmöglich der moralische Maßstab im 21. Jahrhundert sein kann, z.B. wenn darin die Sklaverei legitimiert wird, wie auch die Diskriminierung von Frauen und Homosexuellen. Als ich mich mit dem Ursprung der Bibel beschäftigt habe und feststellte, dass jede große christliche Religion ihren eigenen Kanon hat und sich der Jüdische gravierend von der Zeit Jesu verändert hat, habe ich den Glauben an die Bibel und letztlich auch an einen Gott als Person verloren.
5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?
Da ich von Kind an in einer strengen ZJ-Familie aufgewachsen bin, alle Onkel und Tanten und deren Kinder fast alle ZJ sind und ich später auch eine strikte ZJ als Frau hatte, hatte ich keinen „weltlichen“ Freundeskreis. Nach meinem Ausstieg brachen alle, meine Frau und auch meine Kinder und Enkel, den Kontakt zu mir ab. Somit musste ich mir ein völlig neues soziales Umfeld aufbauen. Meine jetzige Frau hat mir dabei sehr geholfen.
6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?
Gesundheitlich geht es mir heute wieder sehr gut. Rückenschmerzen habe ich keine mehr, auch, weil ich heute viel mehr Zeit habe mich um meine Gesundheit zu kümmern und meine jetzige Frau als personal Trainerin mir sehr geholfen hat. Beim Burnout muss ich schon aufpassen, dass ich mich nicht wieder überlaste.
7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?
Ich führe jetzt ein selbstbestimmtes Leben, was ich vorher nicht machen konnte. Ich vermisse nichts aus dem ZJ-Leben. Das einzig gute ist, dass ich mit meinem Ausstieg meine jetzige Frau kennengelernt habe und erfahren darf, was Liebe wirklich sein kann. Bei ZJ gibt es nur bedingte Liebe, d.h. man wird nur und auch nur solange geliebt, wie man dieser Sekte hörig ist.
8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?
Informieren, informieren, informieren – aber nicht anhand der Wachtturm-Literatur – und lassen sie sich nicht vom Love Bombing fangen.
Wenn es überhaupt Sinn macht an die Bibel zu glauben, dann sind ZJ die Religion unter allen anderen Religionen, die die Bibel am meisten manipuliert, missinterpretiert und dazu noch andauernd ihre Lehren geändert haben. Dinge wofür man gestern bereit sein musste ins Gefängnis zu gehen – z.B. bei Ablehnung des Ersatzdienstes – oder sogar den Tod auf sich zu nehmen – z.B. bei Verweigerung von Blutbestandteilen – , sind heute erlaubt oder umgekehrt. Eine Entschuldigung oder Entschädigung ist nicht zu erwarten.
Präsenz in den Medien
2022
BR – Udo Obermayer – Mein Leben nach dem Ausstieg bei den Zeugen Jehovas
Schwäbische – Psychischer Druck zu groß – Früherer Zeuge Jehovas berichtet über Ausstieg
2021
ORF2 – Udo und Laila Obermayer bei Vera Russwurm im Interview
Heute – Österreich – Ex-Zeuge Jehovas: „Meine Kinder brachen den Kontakt ab“
SternTV – Bericht und Interview mit Udo Obermayer
Radio MK online – Podcast (Min. 5 – 10) und Artikel
Focus online
Interviews als Experte
2022
taz – Sexualisierte Gewalt bei den Zeugen Jehovas: Kein Schutz für die Opfer
2021
BR24 – Zeugen Jehovas: Missbrauch vertuscht? | Kontrovers
BR24 – Sekten: Für Aussteiger fehlt oft therapeutische Hilfe
2020
Aufarbeitungskommission zu Kindesmissbrauch – Expertenrunde zu Zeugen Jehovas
2019
SWR aktuell – Strafanzeige gegen führende Mitglieder der Zeugen Jehovas – Interview mit Udo Obermayer