ÜberLebensweg Tina S.

1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Ich bin in die Gemeinschaft hineingeboren worden. Mein Vater wurde über ein Heimbibelstudium angeworben und so wurde ich ab meinem 2. Lebensjahr in der Lehre der Zeugen Jehovas erzogen.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Ich war zwiegespalten. Einerseits habe ich wirklich an Jehova geglaubt und zu ihm auch eine tiefe Verbundenheit gespürt, vor allem in der frühen Kindheit. Aber auch das war schon zwiegespalten, weil Jehovas ja auch der alttestamentarische Rachegott für mich war, vor dem ich auch Angst hatte. Ich hatte schon als Kind psychosomatische Reaktionen, z. B. wenn ich in die Versammlung gehen sollte. Ich habe mich oft sehr unwohl gefühlt und auch die Brüder und Schwestern nicht als ehrlich zugewandt erlebt. Oft gab es in mir das dumpfe Erleben, dass „irgendetwas hier nicht stimmt“, was ich als Kind aber nicht richtig greifen konnte. Es war ein bisschen wie in dem Film „Die Truman Show“ – alles wirkte wie eine schöne Kulisse und irgendwie gespielt.

Ich habe viel Druck erlebt und oft das Gefühl gehabt, nicht gut genug zu sein. Jehova und der Versammlung und den Ältesten und meinem Vater nicht zu genügen. Es hat nie gereicht, egal wie sehr ich mich auch bemüht habe. In meinem Erleben waren es immer zu wenig Predigtdienststunden, zu wenig Kommentare sonntags beim Wachtturmstudium, zu wenig informelles Zeugnisgeben. Ein schlechtes Gewissen, Schuldgefühle und oft auch Scham haben mich meine Kindheit über begleitet. 

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Es war eher die Summe meiner leisen Zweifel und meines Bauchgefühls, das über die Jahre immer lauter zu mir gesprochen hat. Ich habe v.a. die massiven Spaltungsprozesse im Denken und im Verhalten der Zeugen Jehovas irgendwann kaum noch ausgehalten. Sehr beliebte Brüder wurden von einem Tag auf den anderen zu einer „Persona non grata“, nur weil sie die Gemeinschaft verlassen hatten. Die Verlogenheit und Unaufrichtigkeit unter den Brüdern und Schwestern war enorm, ebenso die wechselseitige Kontrolle, die aber immer als brüderliche Liebe euphemistisch umschrieben und umgedeutet wurde. 

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Als Kind habe ich aufrichtig an Jehova, Harmagedon und Satan geglaubt – wie hätte es auch anders sein können, bei dem Ausmaß an Indoktrination? Ich habe mich mit 13 Jahren taufen lassen, aber da hatte ich schon leichte Zweifel. Die Taufe war wie ein Überzeugungsversuch gegenüber mir selbst: „Wenn ich mich taufen lasse, dann muss das alles hier doch auch richtig sein“. Das hat dann aber nicht mehr lange getragen und während meiner Pubertät wurden meine Zweifel immer lauter. 

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ich habe mich aus der Organisation „rausgeschlichen“. Für mich war das damals die beste Methode. Ich bin einfach 300 km weit weggezogen, habe dort ein Studium begonnen, und auch wenn die Ältesten mich noch einmal besucht haben, so war ich doch zu weit weg. So konnte ich aber Kontakt zu meinem Vater halten, weil ich die Gemeinschaft eben nicht formell verlassen hatte. Das war wie ein unausgesprochener Deal zwischen uns: „Ich trete nicht aus – Du hältst den Kontakt zu mir“. Das hat viele Jahre gut funktioniert, bis ich das nicht mehr konnte. Ich hatte das Gefühl, meine Integrität dadurch zu verlieren. Ich musste meine eigene Wahrheit sprechen dürfen. Meine Angst, dass mein Vater den Kontakt zu mir abbrechen könnte, wandelte sich auf einmal in die Frage, ob ich eigentlich noch Kontakt zu meinem Vater halten möchte. Das hat meine Wahrnehmung einmal komplett auf den Kopf gestellt. Ich vermeide mittlerweile den Kontakt zu meinem Vater, weil er mir wie ein langjähriger Alkoholabhängiger erscheint, der fast jeden Bezug zum realen Leben verloren hat. Er tut mir einfach nicht gut. 

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Ängste und Schuldgefühle haben lange Jahre noch eine Rolle für mich gespielt. Ich war zwar mittendrin im „normalen“ Leben, aber zeitgleich war ich es nicht. Ich hatte immer Angst, dass Harmagedon doch kommt und es gab einen inneren Zensor in mir, der mich und mein Handeln und mein Denken kontrollierte und quälte, noch viele Jahre nach meinem Austreten. Ich hatte auch einige Jahre lang wiederkehrende Verfolgungsträume: Immer kam eine Gefahr vom Himmel, der ich nicht entfliehen konnte. Nach meiner ersten Psychotherapie waren diese Träume weg und es ging mir besser. Aber ich hatte auch mit Depressionen zu kämpfen. Heute geht es mir gut. Ich weiß, wer ich bin und vor allem habe ich nun klare Grenzen. Ich kann „nein“ sagen und mich behaupten, eine eigene Meinung vertreten und Konflikte austragen. Das musste ich alles nach dem Ausstieg erst lernen. 

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Es war schlimm. Aber es war auch nicht alles schlimm. Es gab auch gutes bei den Zeugen Jehovas. Ich glaube, dass wir sehr aufpassen müssen, dass wir – das uns so bitter antrainierte – spaltende Denken nicht nach dem Ausstieg fortführen und einfach nur die Seiten wechseln. Spaltendes Denken ist einfacher als Ambivalenzen zu ertragen. Ich möchte hier richtig verstanden werden: Es ist wichtig, ganz klar und deutlich den vielfältigen Missbrauch durch die Zeugen Jehovas zu benennen – vor sich selbst und der Gesellschaft. Und sich bestenfalls dafür einzusetzen, Menschen beim Ausstieg zu unterstützen. Aber die Heilung liegt immer im Dazwischen. Wenn ich nur das Schlechte sehen kann, dann bleibe ich in der Spaltung gefangen. Dann zerschlage ich mir weite Teile meines Lebens. Die Zeugen Jehovas haben mich auch zu der Person gemacht, die ich heute bin. Und da ich mich mittlerweile selber gerne mag, kann ich gut damit sein. Ich versuche immer einen Sinn in den Dingen zu sehen, die mir widerfahren. Heute helfe ich anderen Menschen, die auch emotionalen Missbrauch erlebt haben. Und ich kann diesen Menschen glaubwürdig vermitteln, dass ein eigenständiges und freies Denken und Leben möglich ist. Daraus ziehe ich meine Kraft. 

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Ich kann verstehen, warum man sich zu den Zeugen hingezogen fühlt. Sie versprechen viel. Es sind wunderbare Illusionen, die wir alle nur zu gern glauben möchten. Ihre Versprechen können die Zeugen Jehovas aber nicht halten, wie auch? Egal, was wir tun im Leben: Wir zahlen immer einen Preis. Der Preis, ein Zeuge Jehovas zu sein, ist zu hoch. Letztlich bezahlt man hier mit seiner eigenen Seele. 

Und an all jene, die zweifeln: Schön, dass Du Deine innere Stimme und Deine innere Weisheit wieder wahrnehmen kannst! Sie wird lauter werden und Dich führen. 

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