ÜberLebensweg – Stefan aus der Schweiz

Stefan
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Vor allem meine Mutter hatte nach dem Verlust ihres 3. Kindes viele Fragen, was nach dem Tod passiert. Sie haderte mit ihrer Situation. Und da standen eines Tages 2 Frauen an der Tür, die auf jede Frage eine Antwort kannten. Sie begannen ein „Bibelstudium“, dem sich mein Vater irgendwann auch anschloss.

Ich war 9 Jahre alt, als unsere Familie begann, die Versammlung im Ort zu besuchen. Für meine Eltern war dies die richtige Entscheidung. Sie hatten endlich die „Wahrheit“, den Sinn des Lebens gefunden. Für mich und meinen Bruder wollten sie natürlich nur das Beste. So geschah es, dass unsere Familie im sozialen Umfeld der Zeugen landete. Ich traf sogar einen Freund, welchen ich nach dem gemeinsamen Kindergarten aus den Augen verloren hatte.
Alles sah perfekt aus und fühlte sich auch so an. Man fühlte sich mit der weltweit vernetzten Gemeinschaft verbunden. Gemeinsam gegen den Rest der Welt…

Mit 20 Jahren ließ ich mich taufen. Rückblickend tat ich dies nur, um meinen Eltern zu gefallen. Ich war sehr angepasst. Im Alltag, wie auch im Glauben. Ich wollte keine Probleme verursachen. Ich wünschte mir Anerkennung und wollte als lieb und verlässlich gelten. Irgendwann hatte ich auch diesen Stempel. Ich konnte nur schwer „Nein“ sagen und wurde so in Dinge eingespannt, worin ich mich nie wirklich wohl fühlte.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Es war einerseits bequem, wenn auf alle auftauchenden Fragen irgendwo ein Artikel in einer internen Zeitschrift zu finden war, der einem genau erklärte, wie man sich zu verhalten hat. Irgendwann begann das Gefühl, dass ich trotz aller Bemühungen als Mensch nie reichen würde. Egal was ich tat, immer hätte man es noch besser machen können. Als Christ, als Ehemann, als Vater. In jedem Lebensbereich. Gleichzeitig hatte man kaum eine Chance, etwas auszuprobieren, um Erfahrungen zu sammeln. Alles war gefährlich, weltlich oder sogar vom Teufel arrangiert, um mich zu Fall zu bringen.

Meine Eltern lebten einen toleranten Alltag im Umgang mit Außenstehenden, worüber ich ihnen dankbar bin. Es wurde nicht alles verteufelt. Trotzdem oder gerade deshalb wuchs das schlechte Gewissen, mit Andersdenkenden engeren Umgang zu pflegen.

In der Schule war ich eher der Aussenseiter, machte aber vieles mit meiner hilfsbereiten Art wett. Das Gefühl, anders zu sein, ging jedoch nie weg.

Am meisten zu kämpfen hatte ich mit dem alleinigen Wahrheitsanspruch und dem elitären Gehabe. Gerade weil ich auch außerhalb des religiösen Umfelds viele rechtschaffene und ehrliche Menschen kannte.

Ich lebte in der Überzeugung, dass niemand in allem Recht behalten kann, durfte dies aber nicht bei allen erwähnen. Wer zweifelte, wurde umgehend gebrandmarkt.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Kognitive Dissonanz, jahrelange Zweifel und ein depressives Lebensgefühl begleiteten mich viele Jahre. Meine beiden Söhne entschieden sich dann im Teeniealter gegen den vorgegebenen Weg.

Ich stellte mich auf den Standpunkt, dass man an der Haustüre nicht immer von Freiwilligkeit reden kann und die eigenen Kinder dann dazu zwingt und respektierte ihren Entscheid. Nun wurde mir aber bewusst, dass ich mich zumindest mental von meinen Söhnen zu distanzieren hätte, weil sie als „schlechter Umgang“ gelten würden. Dies war für mich in keinster Weise denkbar.
Das ganze scheinheilige Getue punkto Familiensinn und Nächstenliebe brach auf einen Schlag zusammen.

Ich entschied mich, meine Gedanken schriftlich darzulegen und so meinen Austritt öffentlich zu machen. Ich habe mich in meiner Krise viel mit dem Blick von außen auf diese Religion beschäftigt. Die vielen Lügen bestärkten mich in meinem Entschluss. Ich wollte nie mehr damit in Verbindung gebracht werden.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Rückblickend war es mein Glück, dass ich mich nie ganz zugehörig gefühlt habe. Es war mir eher peinlich, dazu zu stehen. Ich wehrte mich auch immer, in eine Vorbildfunktion gedrängt zu werden. Der Begriff „Verantwortung“ war für mich mit schlechten Gefühlen besetzt. Ich sah immer das Damoklesschwert des Versagens darüber drehen. Ich begnügte mich mit der Rolle des verlässlichen Kumpels.

Es tut mir heute noch leid für alle, die ich trotzdem mit reingezogen habe.
Irgendwann bekam ich eine Wut über mich selbst. Ich fühlte mich als Versager. Ich schien nichts im Griff zu haben. Die vielen Änderungen der Grundlehre und die unsägliche Erweiterung der Generationenlehre ließen mich dann irgendwann die Argumente der Gegner prüfen.
So führte eines zum anderen, bis ich die Kraft hatte, aufzustehen.
Nachdem ich und meine Exfrau langsam zu den Menschen wurden die wir eigentlich sind, trennten sich auch unsere Wege.
Ich war froh, dass meine Jungs damals gerade flügge wurden und aus dem gröbsten raus waren.

5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Sie befolgen interne Weisungen und wissen es nicht besser. Klar, mein gesamtes damaliges Umfeld hat sich ohne ein Wort verabschiedet. Von meinem Bruder habe ich bald 10 Jahre nichts mehr gehört oder gelesen. Seine Frau hat mir ab und zu geschrieben. Nachdem ich ihr meine ehrliche Meinung zur Motivation hinter diesen verkappten „Missionierungsbriefen“ mitgeteilt habe, herrschte Funkstille. Meine Mutter hat mir vor einiger Zeit ein Video meiner Neffen zugespielt. Ich hätte den Jüngeren nicht mehr gekannt…das tat unheimlich weh.

Meine Eltern halten sich nicht an das Kontaktverbot. Sie melden sich regelmäßig. Ab und zu verbringen wir ein paar Stunden bei einem gemeinsamen Nachtessen. Es fühlt sich noch etwas künstlich an und ich hoffe, dass in Zukunft etwas Lockerheit ins Spiel kommt. Meine jetzigen Schwiegereltern haben sie auch schon kennengelernt und meine Frau haben sie längst ins Herz geschlossen. Schlussendlich hat mein Vater beim damaligen Austritt Wort gehalten.
Er sagte mir damals: „Du warst immer mein Sonnenschein. Egal was passiert, du bleibst mein Sohn!“

b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?
Wie sind deine Gedanken dazu?

Wie bereits erwähnt, gehorcht das Fussvolk ihren Führern, um nicht selbst in Ungnade zu fallen. In internen Zeitschriften, in ihrem „geheimen“ Ältestenbuch (Hütet die Herde Gottes), sowie in Videos und auf Kongressen, werden Ausgetretene Mitglieder als „Unkraut“, als „Küchenhelfer Satans“ u.v.m. bezeichnet. Von jeglichem Kontakt zu Familienmitgliedern wird dringend abgeraten. Dieser Aufruf zu Mobbing wird dann als Gottes Liebe erklärt. In der Hoffnung auf die Rückkehr der verlorenen Söhne und Töchter. Ich nenne es mentale Erpressung und Rufmord.
Für mich ist diese Vorgehensweise der beste Beweis, dass es sich um eine Sekte handelt. Wer wirklich im Besitz der Wahrheit ist, kann in sich ruhend dem Ganzen seinen Lauf lassen und muss nicht auf Ausgrenzung und Spaltung zurückgreifen.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Seit ich mein Leben in die eigenen Hände genommen habe, geht es mir sehr gut. Nach meinem Weggang habe ich mich gefragt, was ich schon immer gerne gemacht hätte.
In einem Chor habe ich die Liebe meines Lebens gefunden. Nun leben wir in einem gemeinsamen Bandprojekt unsere Liebe zur Musik.
Ich darf selbst entscheiden, was ich mache. Ich darf Erfahrungen sammeln. Ich darf scheitern, ohne vor den Konsequenzen einer bedingten Liebe Angst zu haben. Das Verhältnis zu meinen Söhnen ist auf Augenhöhe und ich beobachte mit Stolz ihre Entwicklung. Ich freue mich für sie, wie sie die Welt entdecken dürfen und bin immer für sie da. Ich habe mich von allem Religiösen losgesagt und erlebe eine einmalige Freiheit. Ich sehe nicht mehr ein, weshalb ich mich für Versprechungen, die ihren Beweis schuldig bleiben, einem Gott unterordnen sollte. Ich werde niemals beweisen können, dass es ihn nicht gibt.

Hin und wieder spüre ich wiederkehrende Gefühle der Minderwertigkeit. Dann hadere ich damit, in meiner Jugend auf jene gehört zu haben, die ein baldiges Ende der Welt prophezeiten und weiterführende Ausbildungen nicht nur als unnötig, sondern auch als Beweis, zu wenig in ihren Gott zu vertrauen, betrachteten. Heute kenne ich die Gründe dafür. Dann führe ich mir vor Augen, was ich in den letzten Jahren bewältigt habe. Dies hilft mir, Stück um Stück meinen Wert zu erkennen.

Ich lasse mir nicht mehr so schnell einen Bären aufbinden. Ich hinterfrage vieles und stehe ohne Angst zu meiner Meinung.
„Rise and rise again, until lambs become lions“ ist zu meinem Wahlspruch geworden.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Es war nicht alles schlecht. Auch aus dem Negativen kann ich heute positive Schlussfolgerungen für mich ziehen. Die erlebte Gedankenkontrolle hilft mir heute, vieles zu hinterfragen und nicht einfach so anzunehmen. Freiheit bedeutet mir viel und ich würde mich niemals mehr einer Religion anschließen.
Das gilt auch für politische Fragen. Weshalb soll ich mich einer Partei anschließen? Nur, um dann deren Programm durchzudrücken?

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Konfrontiert die Mitglieder mit den unbequemen Themen wie dem vertuschten Kindesmissbrauch, ständige Änderungen/Erweiterungen der Lehre und beobachtet ihre Reaktion.

Stellt die richtigen Fragen:
– Warum wird den Mitgliedern in Anbetracht des gottwollten Systemwechsels inklusiv Tötung aller Andersgläubigen ein bescheidenes Leben nahegelegt und gleichzeitig baut man eine neue Weltzentrale in Millionenhöhe?
– Warum werden Straftäter in Bezug auf Kindesmissbrauch selten den Behörden gemeldet und lieber einer internen Gerichtsbarkeit zugeführt?
– Warum erhält man als Mitglied keine Auskunft, wie die Organisation finanziell dasteht?
– Warum wird auf dem eigenen Webauftritt ein Kontaktverbot zu Ausgetretenen verneint, in der Praxis aber von den verbliebenen Mitgliedern verlangt?
– Wenn diese Religion die absolute Wahrheit kennt und vertritt, wovor hat sie bei Ausgetretenen Angst?

Viele erleben Zeugen Jehovas im Alltag als zuvorkommend und verlässlich. Sie haben Mühe, die Ausgrenzung, das Kontaktverbot und das Mobbing als Tatsache zu sehen. Solchen Menschen kann ich nur eines sagen: studiert mit ihnen die Bibel, lasst euch taufen und kritisiert danach einen oder mehrere Punkte in der Lehre. Erst dann werdet ihr die „Liebe“ dieser Religion spüren.

Es ist die kognitive Dissonanz, die viele immer wieder austreten oder krank werden lässt!