1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?
Meine Eltern haben sich taufen lassen, da war ich ca. 4 Jahre alt. Im Haus-zu-Haus-Dienst wurden sie angesprochen und es wurde direkt ein Bibelstudium angefangen. Daraufhin haben sich meine Eltern bald taufen lassen. Das Paar vom Haus-zu-Haus-Dienst sind bis heute die engsten Freunde meiner Eltern.
2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?
Der Haus-zu-Haus-Dienst ist mir immer sehr schwergefallen. Ich hatte besonders als Kind und Jugendliche furchtbare Angst vor den Reaktionen der Anwohner. In meiner Jugendzeit wurde es zunehmend schwieriger. Aufgaben auf der Bühne fand ich furchtbar. Ich bekam Ticks, die ich nicht unterdrücken konnte. Diese wurden besonders schlimm, wenn ich auf die Bühne musste oder generell vor Menschen sprechen sollte. Es wurden Regeln aufgestellt, wie: „bei 2 Stunden Dienst in der Woche darfst du 2 Stunden Fernsehen!“.
Mein kleinerer Bruder hat sich mit den Versammlungsbesuchen besonders schwergetan. Er musste sich an die „2. Klasse“ (Nebenraum des Königreichssaals) als Prügelraum gewöhnen. Manchmal haben wir uns krankgestellt und durften zu Hause bleiben. Natürlich war das Fernsehen untersagt. Aus Angst, unsere Eltern könnten zur Kontrolle nach Hause kommen, haben mein Bruder und ich Schmiere gestanden und abwechselnd ferngesehen (inkl. Abkühlzeit des Fernsehers, 30 Min. bevor sie wie geplant wiederkamen).
Als ich erwachsen war, habe ich mir Aktivitäten außerhalb der „Verpflichtungen“ gesucht. Alles, was außerhalb der Versammlungen und Dienst stattfand, hat mir immer viel Spaß gemacht. Veranstaltungen wie Ausflüge, Feste, Einladungen habe ich gerne organisiert. Auch um Bedürftige sowie ältere Brüder und Schwestern habe ich mich gern gekümmert und sie umsorgt.
3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Meine Zweifel haben vor einigen Jahren begonnen. Den radikalen Kontaktabbruch zu Ausgeschlossenen habe ich nie richtig nachvollziehen können. Mir ist immer schwergefallen zu akzeptieren, wie mit ihnen umgegangen wird, wie sie gemieden werden. Dazu kam das Thema Blut, das präsenter wurde, als meine Kinder auf die Welt kamen. Ich hatte große Angst, meine Bedenken und Zweifel zu kommunizieren. Die Angst vor den Reaktionen war so groß, dass ich alles für mich behalten habe. Jede Aktivität fiel mir zunehmend schwerer, ich habe ständig über mein Bauchgefühl hinweg entscheiden müssen.
Ich fühlte mich als Rabenmutter, weil ich mein Kind müde in die Versammlung oder in den Dienst mitgenommen habe. Als Corona kam und die Versammlungen online stattfanden, habe ich mich immer mehr distanziert. Das war die Zeit, in der ich meinem Mann, meiner Familie und den Ältesten zum ersten Mal gesagt habe, dass ich wirklich Zweifel habe an der Organisation.
Ich hatte ein paar Ältestengespräche, sie haben wirklich lieb mit mir gesprochen. Von allen Seiten habe ich mir sagen lassen, wie gut es ist, wenn man zweifelt. Dass es sehr gut ist, dass ich mir Gedanken mache. Aber ich habe mir die ganze Zeit gedacht „natürlich ist das gut, solange ich mich für die richtige Seite entscheide“.
Als ich von den Missbrauchsfällen erfahren habe, bin ich aus allen Wolken gefallen. Ich habe die Ältesten und auch meinen Vater, der mittlerweile Jahrzehnte Ältester ist, gefragt, ob er davon wusste. Er hat nie davon gehört und es hat ihn auch nicht getroffen, denn „so etwas passiert überall“.
Grundsätzlich ist es so, dass es sehr wenig Toleranz und kein selbstständiges Denken gibt. Die Meinungsfreiheit ist zu stark eingegrenzt. Das, kombiniert mit den Vorfällen, die ich herausgefunden habe, war für mich dann der Zeitpunkt, an dem ich wusste, ich kann mich mit der Religion nicht mehr identifizieren.
4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?
Meine Eltern waren von Anfang an sehr engagiert. Mein Vater ist schnell Ältester geworden. Ein Leben außerhalb der Versammlung war kaum möglich. Freundschaften außerhalb der Versammlungen durfte ich nicht schließen. Keine Übernachtungen bei Klassenkameradinnen, keine Klassenfahrten.
Als ich 17 Jahre alt war, habe ich gemeinsam mit anderen Zeugenkindern angefangen zu begreifen, was Leben bedeutet, und habe Versammlungen immer weniger besucht, war auch keine ungetaufte Verkündigerin mehr. Mein Vater hat mich mit 17 Jahren von zu Hause rausgeschmissen und ich bin zu meiner ungläubigen Oma gezogen. Ich bin bald wieder regelmäßiger in die Versammlung gegangen, um guten Willen zu zeigen und weil ich meine Familie vermisste. Mir haben alle sehr gefehlt, Freundschaften in der Welt hatte ich ja nie. Der Kontakt zu meinen Eltern wurde auch wieder besser. Mit 20 bin ich ein Jahr ins Ausland gegangen und wurde wieder ungetaufte Verkündigerin. Meine Eltern haben sich sehr gefreut, dass ich Kontakte zu Brüdern aufgenommen habe und sie mich in Sicherheit wussten.
Als ich wieder nach Deutschland kam, habe ich meinen Mann kennengelernt und habe mich bald taufen lassen. Da habe ich meinen Vater zum ersten Mal weinen sehen. Es war unglaublich ergreifend und rührt mich jetzt noch zu Tränen zu sehen, wie wichtig es für ihn war.
5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?
Meine engste Familie, meine Eltern, Geschwister, Angeheiratete und deren Kinder, und alle Freunde aus der Glaubensgemeinschaft haben radikal nach meinem Ausschluss den Kontakt zu mir abgebrochen. Meine Kinder sind davon noch nicht betroffen, jedoch ist deren Verbindung zu den Glaubensbrüdern enger denn je, weil sie ihnen eine Stütze sein wollen, jetzt wo ich ihnen das mit meinem „weltlichen“ Lebenswandel nicht mehr sein kann.
Für mich war das ein klares Zeichen, dass die Organisation nicht richtig ist. Sie meiden mich, damit ich wieder aufwache und zurückkehre, doch mir zeigt es erst recht wie falsch das Ganze ist. Für mich hat das nichts mit Liebe zu tun. Das ist eine Liebe an Bedingungen geknüpft. Bedingungslose Liebe gehört nur Jehova und das finde ich insbesondere innerhalb der Familie und engsten Freunden schlicht und ergreifend falsch.
Das fällt mir sehr schwer hinzunehmen. Es ist ungerecht und unmenschlich.
Den Kontaktabbruch hält meine Familie bis heute durch.
6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?
Mir geht es besser, weil ich frei sein kann. Sagen kann, was ich denke. Mir fehlen meine engsten Familienangehörigen sehr, die bis heute keinen Kontakt zu mir haben. Bei mir spielt Verlustangst eine große Rolle, was meine Kinder betrifft. Angst davor, dass der Kontakt abgebrochen wird, wenn sie sich irgendwann taufen lassen möchten.
Allerdings hatte ich damals größere Angst vor meinem Ausschluss. Angst davor, die Familie und Freunde zu verlieren, wenn ich sage, was wirklich in mir vorging. Ich befand mich fünf Jahre lang in Therapie, die mir geholfen hat, diesen Schritt zu wagen und meine Gedanken zu teilen.
Meine Angst, die Menschen zu verlieren, die mir geblieben sind und die mir wichtig sind, ist grösser geworden. Aber ich denke, das ist das Leben, Menschen kommen und gehen. Manche bleiben. Meine Verwandten aus den USA haben mit Zeugen nichts zu tun und sind für mich da.
7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?
Dadurch, dass ich viele Jahre die meiste Zeit in die Organisation gesteckt habe, habe ich viel an Berufserfahrung nachzuholen. Es gibt so viele Dinge, die für uns nie Thema waren, wie z. B. Studium und Politik. Ich möchte so viel noch wissen und lernen.
Ich bedaure es, dass ich so viele Jahre in die Organisation gesteckt habe, hinter der ich nun gar nicht mehr stehen kann. Aber ich habe den 1. Schritt gewagt und begonnen, Vieles nachzuholen.
8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?
Selbst denken!