1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?
Ich wurde in die Gemeinschaft hineingeboren.
Meine Eltern waren die einzigen Zeugen Jehovas in unserer Familie.
2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?
Als Kind habe ich mich immer anders gefühlt, wurde in der Schule ausgegrenzt und hatte kaum Freunde. Ich war im Grundschulalter, als sich meine Eltern trennten und mein Vater plötzlich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurde. Ab diesem Moment galt er für mich als schlechter Einfluss. Ich konnte nicht verstehen, dass mein geliebter Papa mit einem Schlag „böse“ sein sollte. In der Gemeinschaft war ich weniger allein, aber trotzdem einsam. Diese Menschen sollten für mich eine Familie sein, meine Brüder und Schwestern, aber eigentlich waren sie nur Marionetten. Wächter, die darauf achteten, dass ich keine Sünden begehe oder vom Glauben abfalle. Ich fühlte mich überwacht und ständig auf der Hut. Mein Alltag war ausgefüllt von meiner theokratischen To-do-Liste und kein Ende war in Sicht. Ich war nicht glücklich.
Wenn ich mein Leben als Zeugin Jehovas in einem Wort beschreiben müsste, wäre es Zerrissenheit. Ich schwankte ständig zwischen dem Drang eine perfekte Christin zu sein und dem Zweifel und der Angst, dass alles, was ich glaube und tue, ein Fehler ist. Ich vermisste zwar meinen „abtrünnigen“ Vater aber wollte auch Jehova nicht enttäuschen.
Womit hattest du am meisten zu kämpfen?
Für mich war alles ein Kampf. Ich war unglaublich jung und doch schon so müde vom Leben. Ich konnte diesen ganzen Anforderungen und Erwartungen, die andere und ich selbst an mich hatten, einfach nicht gerecht werden. Meine Mutter ging sehr fanatisch im Glauben auf und ließ ihre ganze Wut und Unzufriedenheit an mir aus. Sie dachte, ich sei „in Satans Hand“ und dass Dämonen hinter mir her wären und die wollte sie mir mit Schlägen austreiben. Die Gewalt, die Schuldzuweisungen und der Hass haben mich so gebrochen, dass ich selbst mein größter Feind wurde. Ich war sehr depressiv und versuchte schließlich, im Alter von 13 mir das Leben zu nehmen.
3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Gab es ein ausschlaggebendes Ereignis?
Mit 17 Jahren habe ich mich als Zeugin Jehovas taufen lassen. Das ist verhältnismäßig spät, aber ich war lange Zeit nicht bereit diese Entscheidung zu treffen, weil ich wusste, was mich erwarten würde. Die Voraussetzung für meine Taufe bestand darin, dass ich jeglichen Kontakt zu meinem ausgeschlossenen Vater abbreche. Der Druck von außen war zu groß und ich wollte unbedingt die treue Christin sein, die alle von mir erwarteten und meinem Leben einen Sinn verleihen. Nach dem Kontaktabbruch rutschte ich wieder in eine schlimme Depression, die mich letztendlich alles in Frage stellen ließ und mir half aufzuwachen. Ich ignorierte meine Zweifel nicht länger, sondern versuchte, mir mein zukünftiges Leben in der Gemeinschaft vorzustellen, mit allen Regeln und Verboten. Das konnte ich nicht. Die Widersprüche waren zu groß und ich wollte endlich nicht mehr unglücklich sein. Ich wünschte mir ein zufriedenes Leben in Freiheit und erkannte, dass ich etwas ändern und für mein Glück kämpfen musste. Mit 18 Jahren verließ ich die Zeugen Jehovas.
4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Der Glaube war mein Lebensinhalt. Ich wäre sogar bereit gewesen, für Gott zu sterben. Die Religion stand für mich über allem und jedem, trotz der Zweifel.
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?
Als ich gemerkt habe, dass ich es trotz meiner Bemühungen nicht schaffe, zu 100% hinter meinem Glauben zu stehen und mich an all die Gebote zu halten. Mein Glauben war für mich immer mit sehr vielen Emotionen verbunden und besonders in der Zeit meiner Depressionen und meines missglückten Suizidversuches, war ich sehr enttäuscht von Jehova. Die Trauer und Wut in mir ließen Zweifel aufkeimen, dass er existiert und dass das die Wahrheit ist. Hinzu kam das Verhalten meiner Mutter und das vieler anderer Glaubensbrüder, was mir heuchlerisch erschien. Ich sah viele Widersprüche zu den eigentlichen Lehren der Bibel, aber traute mich lange Zeit nicht, das auszusprechen oder zu hinterfragen.
5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?
Ja, aber das ist für mich nicht tragisch. Meine Mutter ist die einzige Zeugin in meiner Familie und wir haben seit Jahren keinen Kontakt. Da ich mir ein komplett neues Leben aufgebaut habe, gibt es in meinem Leben zum Glück keine aktiven Zeugen, deren Ächtung mir das Herz brechen würde.
– Welche Menschen hast du durch dein Verlassen der Organisation verloren? Wie wirkt sich das aus?
Meine Mutter, all meine Freunde und meine „Glaubensfamilie“. Da ich viele von ihnen schon als Kind kannte, war es sehr schmerzhaft. Aber als ich die endgültige Entscheidung traf, die Gemeinschaft zu verlassen, wusste ich, was mich erwarten würde und habe versucht mich mental darauf vorzubereiten.
6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?
Einige Jahre nach dem Ausstieg litt ich unter Angst, Verfolgungswahn und Panikattacken. Ich hatte Probleme, mich im Leben zurechtzufinden und musste mich erst einmal richtig selbst kennenlernen. Jahrelang indoktrinierte Ansichten und Werte musste ich loswerden und herausfinden, wer ich sein möchte und wie ich leben will. Es hat lang gedauert, bis ich mich endlich „normal“ gefühlt habe, in der realen Welt angekommen war und mich wohl in meiner Haut fühlte. Alpträume habe ich manchmal noch, und ab und zu kommt auch mal die Depression vorbei und klopft an meine Tür. Mittlerweile weiß ich, wie ich damit umgehe und es macht mir keine Angst mehr. Ich versuche mir vor Augen zu halten, was ich alles aus eigener Kraft geschafft habe. Ohne Jehova.
Heute kann ich voller Dankbarkeit sagen, dass ich ein Leben führe, von dem ich nie zu träumen gewagt hätte. Ich bin stolz, auf den Menschen, der ich geworden bin und auf all das, was ich bisher erreichen konnte. Seit ich mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen bin und mich getraut habe, über all die Dinge aus meiner Vergangenheit zu sprechen, für die ich mich so lange Zeit geschämt habe, bin ich endlich komplett. Es macht mich glücklich, anderen, die diesen Weg noch vor sich haben, beizustehen und etwas zur Aufklärung beizutragen. Ich freue mich unheimlich über die vielen Menschen, die mir schreiben, dass sie sich durch mein Buch oder meine Videos verstanden fühlen. Das Wichtigste ist, dass sich niemand allein fühlt.
Mir wurde mein Leben ein zweites Mal geschenkt und deswegen möchte ich etwas zurückgeben.
7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?
Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Man kann die Vergangenheit nicht ändern, aber was jeder für sich selbst daraus lernt und macht, ist seine eigene Sache. Die Narben werden ewig bleiben, aber sie sind der Beweis meiner Stärke.
8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?
Am liebsten würde ich laut rufen: „Lauft um euer Leben!“ Aber da das wohl niemand einfach machen wird, hier ein paar praktische Tipps:
Informiert euch unabhängig von den Veröffentlichungen der Organisation. Es gibt so viele Medienberichte, Dokumentationen oder Beratungsstellen, die einem dabei behilflich sind. Persönliche Erfahrungsberichte von Aussteigern sind Gold wert. Genauso wie ich, sprechen auch viele andere über ihre Erlebnisse bei YouTube, in Foren oder Selbsthilfegruppen. Ihr könnt gern z.B. meine Autobiografie lesen, die von Oliver Wolschke oder Misha Anouks Buch.
Sucht euch soziale Kontakte außerhalb von Jehovas Zeugen und sprecht offen mit eurem Umfeld darüber. Versucht herauszufinden, warum ihr euch zu der Organisation hingezogen fühlt. Was sucht ihr und was glaubt ihr, gibt sie euch, das euch in eurem Leben fehlt? Man findet keine Lösung für seine Probleme, indem man vor ihnen flieht – man gerät nur in noch größere Schwierigkeiten. Und der wichtigste Rat von allen: psychologische Hilfe! Ich werde nie müde zu erwähnen, wie essenziell es für geistige Gesundheit ist, sich professionelle Unterstützung zu holen! Es ist überhaupt nichts Schlimmes daran und der Nutzen ist enorm. Eine fremde Person, die sich kostenlos eine Stunde deine Probleme anhört und dir einen objektiven, geschulten Rat zu deinem Besten gibt – die großartigste Erfindung überhaupt! Ihr habt nur dieses eine Leben, macht das Allerbeste daraus!
Ihr seid stärker als ihr denkt und ich wünsche euch von Herzen viel Erfolg!
Weiterführende Links zu und rund um Sophie
Sophies lesenswerte Autobiografie
Erlöse mich von dem Bösen: Meine Kindheit im Dienste der Zeugen Jehovas
Sophie in Web & Social Media
Website: www.sophiejones.de
Youtube-Channel: www.youtube.com/sophiejones
Sophies bekanntestes Video: Zeugen Jehovas Realtalk ALLES über mein Leben in der größten Sekte der Welt! Aussteiger Sophie Jones – YouTube
Instagram: www.instagram.com/sophiejones.de
Wikipedia: Sophie Jones – Wikipedia
Sophie im TV, Radio & Podcasts
NDR Talkshow: „Zeugen Jehovas“-Aussteigerin und Autorin Sophie Jones | NDR Talk Show | NDR – YouTube
SternTV: Die Zeugen Jehovas: Was Aussteiger berichten | stern TV – YouTube
Riverboat: Riverboat | ARD Mediathek
SWR Nachtcafé: Das wahre Leben – Der NACHTCAFÉ Podcast · Zeugen Jehovas-Aussteigerin – Sophie Jones · ARD Audiothek
Deutschlandfunk: Sophie Jones: Zeugen-Jehovas-Aussteigerin über ihr Leben bei der „Sekte“, wie sie sagt · Dlf Nova (deutschlandfunknova.de)
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