1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?
Den ersten Kontakt hatte ich 1968 in Mailand, bei einer Nachbarin, die eine Zeugin Jehovas war. Mich beeindruckte, dass die Bibel eine Zeit ohne Schmerzen versprach, gerade weil ich damals oft unter Zahnschmerzen litt, aber ich ließ mich noch nicht zum Bibelstudium überreden. Monate später, arbeitslos, allein und vom Leben enttäuscht, unternahm ich einen Selbstmordversuch. Der Mann meiner Nachbarin besuchte mich und sagte mir, die Tatsache, dass ich überlebt habe, sei ein Beweis dafür, dass Jehova mich in seinem Volk haben wolle und mich segnen würde. Ich würde Arbeit, Glück und sogar einen Partner finden. Ich besuchte ihre Treffen und war beeindruckt von ihrem Eifer, ihrer Liebe und Fürsorge für mich. Nachdem ich das Buch „Wahrheit“ [„Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt“, auch „Blaue Bombe“ genannt – Anm. JZ Help e.V.] nur sechs Monate lang studiert hatte, ließ ich mich 1969 im Alter von zwanzig Jahren auf dem internationalen Kongress in Rom taufen. Das geschah gegen den Willen meiner Eltern. Die Worte meines Vaters trafen mich hart: „Du bist nicht mehr meine Tochter“.
Ein Jahr später wurde ich oft gerügt, weil ich Zusammenkünfte versäumte oder mich nicht dazu durchringen konnte, Pionier zu sein oder mehr Stunden dem Predigen zu widmen. Ich fühlte mich oft kontrolliert und die anfängliche Liebe der Gemeinde verschwand nach und nach. Ich war völlig entmutigt, als meine Nachbarin und Freundin, die mit mir das Bibelstudium durchgeführt hatte, mich mit Schreien und Drohungen beschuldigte, ihren Mann verführt zu haben, was natürlich nicht stimmte. So verschenkte ich alle Bücher der Gesellschaft und kehrte zu meinen Eltern zurück, die mich trotz der schwierigen Beziehung wieder aufnahmen.
Ich verliebte mich in einen „weltlichen“ jungen Mann, der mich jedoch verließ, als ich von ihm schwanger wurde. Auch wenn ich wusste, dass es schwer werden würde, beschloss ich, das Kind zu behalten. Im Jahr 1973 wurde ich alleinerziehende Mutter einer Tochter. Die Nachricht erreichte bald die Gemeinde und die Ältesten forderten mich auf, zurückzukommen und vor einem Rechtskomitee alles zu gestehen. Um meinen Vater nicht noch einmal zu enttäuschen, lehnte ich das ab. Kurz darauf teilten mir die Ältesten schriftlich mit, dass ich ausgeschlossen worden sei.
Es dauerte nicht lange, bis die Zeugen Jehovas an der Tür klingelten und mir vom Ende der Welt im Jahr 1975 erzählten, was mir große Angst machte. Die Angst vor der Vernichtung und die Verantwortung für meine Tochter ließen mich darüber nachdenken, in die Gemeinde zurückzukehren, aber das hätte mich erneut gegen meinen Vater aufgebracht, der für mich sorgte. Ich bekam Besuch von einem Ältesten und seiner Frau, die mir vorschlugen, einen Dienstgehilfen aus der Ortsversammlung zu heiraten, der Witwer mit vier Kindern war. Das hätte uns eine Unterkunft, Verpflegung und eine schnelle Wiederaufnahme sichergestellt. Da ich mich Jehova gegenüber schuldig fühlte und für meine Eltern eine finanzielle Last war, nahm ich das Angebot an. So wurde ich schnell wieder aufgenommen und hatte auf einmal eine siebenköpfige Familie, zu der nun also zwei einjährige Mädchen gehörten.
Eine Woche nach der Hochzeit besuchte uns der Cousin meines Mannes (ein Aufseher einer nahgelegenen Versammlung) mit seiner Frau, um uns mitzuteilen, dass einem Wachtturm-Artikel zufolge die Notwendigkeit bestehe, seinem Schwager, einem ausgeschlossenen ehemaligen Ältesten, bei der Rückkehr zu Jehova zu helfen. Dieser Mann hatte Ehebruch begangen und seine Frau hatte einen Selbstmordversuch unternommen. Sie sagten uns, die Ursache sei die Tatsache, dass sie keine Kinder bekommen konnten. Da wir zwei gleichaltrige, kleine Mädchen hatten und es ihrer Meinung nach schwierig gewesen wäre, mit ihnen klarzukommen, hätten wir dem Paar eines „abgeben“ können, um ihre Ehe zu retten. Auf so eine Anfrage waren wir im Leben nicht vorbereitet! Sie versprachen uns, dass sie es nur für kurze Zeit in Pflege nehmen würden, sie aber immer unsere Tochter bleiben würde und wir sie besuchen könnten, wann immer wir wollten. Diese Geschichte hatte uns gerührt und irgendwie fühlten wir uns verpflichtet zu helfen. Wir ließen das Mädchen gehen, aber mit gemischten Gefühlen. Schon nach kurzer Zeit haben wir die Kleine vermisst und hatten Schuldgefühle. Also fuhren wir hin und sagten, dass wir das Mädchen nun wieder nach Hause mitnehmen würden.
Als es Zeit war zu gehen, rannte die Cousine meines Mannes weinend in Richtung der Bahngleise und schrie, dass sie sich ohne das kleine Mädchen umbringen würde. Schnell rannten ihre Brüder hinterher, um sie aufzuhalten. Was für eine schreckliche Szene! Ihr älterer Bruder schlug vor, das kleine Mädchen bei ihr zurückzulassen, um sie zu beruhigen, und nahm uns mit in die Versammlung, um zu beten. Nachdem wir gebetet hatten, sagte der Älteste: „Lasst die Kleine hier bei der Cousine, ihr tut es für Jehova“. So überzeugten sie uns also, das Mädchen bei der Cousine meines Mannes zu lassen. Wir verfassten eine unterschriebene Vollmacht für den Krankheitsfall und eventuelle Arztbesuche, auch eine Bluttransfusion zu verweigern. Nach zwei oder drei zunächst noch erfolgreichen Kontakten wurde es im Laufe der Zeit immer schwieriger, sie zu sehen.
Da in der Versammlung darüber geklatscht wurde, und mein Mann keine Arbeit fand, fühlten wir uns gezwungen, nach Deutschland zu ziehen.
Auch in der neuen Versammlung in Deutschland sah man es nicht gut, dass eine Tochter nicht bei uns lebte, was meinen Mann daran hinderte, Vorrechte zu bekommen. Es gab mehrere Treffen und Überlegungen mit Ältesten, wie man das Mädchen ohne Streit und Schmach über Jehova zu ihrer ursprünglichen Familie zurückholen könnte. Es gab sogar ein Treffen mit sieben Ältesten in Italien, aber die Cousins meines Mannes erschienen nicht einmal. Mit Hilfe eines Ältesten, der auch Anwalt war, klagten wir schließlich gegen das Paar. Wir gewannen den Prozess und nach einem Monat sollte das kleine Mädchen mitkommen. Ich weiß nicht wie, aber einen Monat später wurde das kleine Mädchen praktisch adoptiert und verlor sogar den Nachnamen ihres Vaters. Der Kontakt zu uns wurde von den Adoptiveltern komplett abgebrochen. Das war ein schwerer Schlag für die Familie, denn alle unsere Hoffnungen waren zunichte gemacht. Ab jetzt führten wir nun jedes Problem entweder auf das Fehlen des Mädchens oder auf dämonischen Einfluss zurück. Einige Jahre später erfuhren wir, dass die Adoptivmutter auch nach der Adoption des Kindes erneut einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Mein Wunsch, eine geeinte und glückliche Familie zu gründen, wurde nie verwirklicht und ich leide bis heute darunter.
Abgesehen von dieser Geschichte waren wir eine Familie voller psychischer, finanzieller und familiärer Probleme. Die Gehorsamkeit und Loyalität (heute würde ich es Abhängigkeit nennen) drängten uns dazu, nur den Ältesten um Hilfe zu bitten. Wir hätten zu Psychologen und Fachleuten gehen sollen, aber die Ältesten der Organisation rieten uns immer davon ab, um den Namen Jehovas nicht zu entehren. Wir Eltern waren mit all den Problemen überfordert, und wussten es nicht anders, als schreckliche Erziehungsmethoden zu verwenden: Fasten, Schläge, Bestrafungen oder irgendwelche Bibelverse vorlesen. Das Ergebnis war nur noch mehr Unwohlsein und Depressionen, aber wir merkten das nicht.
2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt? Womit hattest du am meisten zu kämpfen?
Der Predigtdienst bereitete mir manchmal Freude, aber die Verpflichtungen waren viel, die Erwartungen hoch und unmöglich zu erfüllen. Ich hatte immer das Gefühl, nie genug für Jehova getan zu haben, woran ich auch während den Versammlungen und Hirtenbesuche regelmäßig erinnert wurde. Aus Angst vor dem Weltuntergang habe ich nachts oft nicht geschlafen. Sehr enttäuschend war für mich, dass ich nie wieder die anfängliche Wärme und Liebe gespürt hatte, was ja ursprünglich der Grund war, warum ich dieser Gemeinschaft beigetreten bin. Ich fühlte mich immer allein. Wenn ich die Ältesten um Unterstützung und Rat bat, war die Antwort, dass ich mehr studieren müsse oder dass es definitiv „Störungen durch Dämonen“ gäbe.
3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist? Gab es ein ausschlaggebendes Ereignis?
Als nach und nach die Kinder von zu Hause gingen, wurde mir klar, dass meine Ehe am Ende war. Die Auseinandersetzungen wurden immer häufiger und heftiger. Als mir klar wurde, dass mein eigenes physisches und psychisches Leben in Gefahr war, trennte ich mich von meinem Mann und nahm nicht mehr an den Versammlungen in meiner Stadt teil. Hin und wieder besuchte ich einige entfernte Gemeinden, wenn ich meine Kinder besuchte. In diesen Momenten, überwältigt von Einsamkeit und Entmutigung, dachte ich oft darüber nach, mein Leben zu beenden. Aber zu meinem Glück begann ich mit einer Psychotherapie.
In dieser Zeit erfuhr ich, dass einer meiner Familienangehörigen, ein Minderjähriger, und andere Kinder in der Gemeinde vom Ehemann einer Glaubensschwester (der kein Zeuge Jehovas war) sexuell belästigt worden waren. Auch wenn die Ältesten nicht einverstanden waren, ermutigte ich die Eltern, die Angelegenheit der Polizei zu melden, und die Person wurde zu einer Entschädigung und einem Annäherungsverbot verurteilt. Dies wurde aber in der Versammlung nicht respektiert. Ein paar Jahre später baten die Ältesten den Vater des Opfers, dem Täter zu vergeben und ihm bei Versammlungen die Hand zu schütteln, um die Einheit der Versammlung und den guten Namen Jehovas zu wahren. Während der Täter ein verstärktes Bibelstudium erhielt, hatte das Opfer Mühe, die Räume der Versammlung zu betreten. Dieses abscheuliche Verhalten raubte mir den Schlaf und vom selben Abend an betrat ich nie wieder einen Königreichssaal. Kurz darauf erfuhr ich, dass der Vater des Opfers zum Dienstamtsgehilfen ernannt wurde. Wer weiß, ob der Täter inzwischen getauft ist und vielleicht noch Kinder belästigt!
Im Jahr 2015 erzählte mir mein bereits ausgeschlossener Sohn von den wirtschaftlichen Investitionen der Wachtturm-Gesellschaft und dem australischen Kindesmissbrauchsprozess. Das öffnete mir die Augen und gab mir das Gefühl, zu einer schmutzigen Organisation zu gehören. Ich begann zu recherchieren und erkannte, dass diese Organisation nichts mit der „Wahrheit“ und mit Gott zu tun hatte. Obwohl ich wusste, dass ich den Kontakt zu all den Menschen verlieren würde, die ich in den letzten 50 Jahren getroffen hatte, Kinder und Enkel eingeschlossen, wollte ich dieser unreinen Organisation nicht mehr angehören.
Ich bin 2018 mit 70 Jahren ausgestiegen.
4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? Wann und warum hast du begonnen, zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?
Ich habe blind alles geglaubt, was ich in Zeitschriften gelesen und in Versammlungen gehört habe. Auch wenn ich mich von der Gemeinschaft nicht völlig akzeptiert gefühlt habe, tat ich alles, was ich konnte, um zu dieser großen Familie zu gehören.
Mein Glaube geriet schon Anfang der 2000er Jahre ins Wanken, nachdem zwei meiner Kinder aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurden und ich mit dem inneren Kampf begann, ob ich sie gemäß den Lehren der Leitenden Körperschaft ausgrenzen soll oder auf mein mütterliches Herz hören sollte.
5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?
Ja, weitgehend. Seitdem ich ausgestiegen bin, habe ich jeglichen Kontakt zur gesamten Familie verloren, die noch ZJ sind: fünf Kinder, neun Enkelkinder, Schwiegersöhne und Schwiegertöchter.
Der emotionale Schmerz ist unbeschreiblich und die Folgen wie Schuldgefühle, Traurigkeit und Einsamkeit machen das Leben schwer.
b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?
Ich bin sicher, dass sie einer Anweisung der Leitenden Körperschaft folgen. Als ich Zeuge war, habe ich mich auch strikt an diese Regel gehalten. Ich ächtete enge Freunde, denen die Gemeinschaft entzogen worden war, und weigerte mich sogar, sie zu begrüßen, wenn ich sie traf.
6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?
Ich kämpfe immer noch mit Depressionen, Panikattacken, Angstzuständen, Essstörungen, Traurigkeit und Einsamkeit. Obwohl ich wusste, worauf ich mich mit dem Ausschluss einlasse, ist die Realität eine große Last. Nach so vielen Jahren dort stehe ich vor einer sozialen Wüste und ohne Rente, weil ich die Zeit genutzt habe, um die Zeitschriften der Zeugen Jehovas zu studieren und die Lehre der Zeugen von Haus zu Haus zu tragen. In meinem Alter ist es nicht einfach, ohne Familie und ohne Freunde neu anzufangen.
Trotz allem habe ich heute ein reines Gewissen und darf mit meinem Kopf denken. Ich fühle mich frei, erwacht aus den Täuschungen und „Wahrheiten“, an die ich jahrelang geglaubt habe. Mit Hilfe der Psychotherapie versuche ich mit Schmerz, Traurigkeit und Einsamkeit umzugehen, und ich habe gelernt, mich jemandem anzuvertrauen. Mein Wissensdurst, den ich zuvor mit ihren Lehren befriedigt hatte, ersetze ich mit Lesen und neuen Erkenntnissen über die Natur. Und mit den wenigen Familienmitgliedern, die mir noch verbleiben, verbringe ich glückliche, interessante und aufrichtige Momente.
7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?
Abgesehen von ein paar Momenten der Freude habe ich meine ganze Energie in den Dienst einer Organisation gesteckt, die auf Illusionen und Manipulation basiert. Es war ein Leben voller Frustrationen. Hinter dem glücklichen Schein verbergen sich Lügen, Unterdrückung, Intrigen und Verrat aller Art. Liebe ist nur die Fassade einer Organisation mit dem Ziel der Verbreitung und des Profits für diejenigen an der Spitze.
Als ich dort ausgestiegen bin, fand ich mich ohne Gott, ohne Wahrheit, ohne Hoffnung wieder und außerdem verlor ich auch meine Familie.
8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?
Der Schein trügt! Akzeptiert am besten kein Bibelstudium und lasst sie nicht in euer Leben, denn nach und nach werdet ihr manipuliert. Es gibt dort keine Wahrheit. Sobald ihr ihre Lehren mit der Taufe angenommen habt, müsst ihr blind allen Regeln gehorchen, die euch auferlegt werden, und ihr werdet euch in einem Käfig wiederfinden.
Wenn ihr Zeugen seid und Zweifel habt, recherchiert gründlich über alle Aktivitäten der Gesellschaft, das Internet ist voll davon. Holt euch Hilfe von Stellen wie jz.help und versucht ein Leben außerhalb der Versammlung aufzubauen. Sobald ihr die Antworten gefunden habt, geht in die Freiheit und Autonomie.