1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?
Ich wurde in diesen Glauben hineingeboren. Meine Mutter war ursprünglich katholisch gewesen. Sie hatte unter anderem auch Angst vor der Hölle. Durch Zeugen Jehovas, die von Tür zu Tür gingen, gelangte sie an Literatur, die sie ursprünglich ignorierte. Irgendwann begann sie aber zu lesen und das gefiel ihr. Ich kann den Sprung vom Katholischen verstehen, dagegen wirkt das bei den Zeugen Jehovas doch viel freundlicher. Es gibt keine Hölle, sondern nur Paradies oder Tod.
Kurz nachdem sie sich taufen ließ begegnete sie meinem Vater, der ihr einredete, sie müsse ihn heiraten. Geliebt hat sie ihn nicht, aber sie fühlte sich verpflichtet einem Glaubensbruder zu helfen. Er war Witwer mit einer 10-jährigen Tochter.
Nach 3 Jahren schmuggelte ich mich ins Leben und ein halbes Jahr danach lief meine Mutter meinem Vater weg. Vater war Ältester und in seiner Versammlung sehr verehrt. Aber zuhause hatte er ein anderes Gesicht. Eines, das nicht wirklich zum Glauben passte.
Mutter floh zu ihren Eltern, die katholisch waren. Sie war in der eigenen Familie durch den Religionswechsel auch eine Art schwarzes Schaf. Durch ihre Flucht vor meinem Vater war sie unter den Zeugen Jehovas wiederum auch ein schwarzes Schaf.
Ich bin in Baden-Württemberg in der Umgebung von Pforzheim aufgewachsen. Mein Vater lebte in Ludwigsburg.
Versammlungen waren in Mühlacker und an Ende in Pforzheim, ich glaube Pforzheim West.
2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?
Mein Leben in der Gemeinschaft war von Angst geprägt. Mutter war ein umstrittenes Mitglied. Zum einen da sie meinen Vater verlassen hatte, was es so bei den Zeugen Jehovas eigentlich nicht geben sollte. Außer es hätte einen Ehebruch gegeben, was nicht der Fall war. Zum anderen war sie ein Mensch der trotz vieler Ängste einen eigenen Geist bewahrte und viel Kritik offen äußerte. Das wurde immer mal wieder mit Antwortverboten in der Versammlung belohnt.
Mutter nutzte mich dann manchmal, um das Antwortverbot zu umgehen, indem sie mir sagte was zu antworten war. Natürlich fiel das auf und dann wurde auch ich nicht mehr drangenommen.
Das schlimmste für mich war das Predigen gehen. Dieses von Haustür zu Haustür, immer Ablehnung bekommend. Ich war immer nur Mitläuferin beim Predigen gehen mit ihr und meine Mutter ließ das so zu. Ich beriet sie oft im Nachhinein, was sie hätte anders machen können.
Ich fand keine Kontakte innerhalb der Gemeinschaft, auch unter anderem dadurch, dass ich vom Alter her nicht reinpasste. Es gab einfach keine Jugendlichen oder Kinder in meinem Alter.
Eine kurze Zeit lang gab es manchmal Versammlungsfeste bei Glaubensbrüdern, die eine alte Bahnstation gemietet hatten. Das wurde dann aber wieder beendet, weil die Versammlungsleiter der Meinung waren, dass es nicht gut tut sich außerhalb des Glaubens so zwanglos zu treffen.
Bei Vater musste ich auch immer mit in die Versammlung, wobei ich das teilweise in dunkler Erinnerung habe. Zumindest wusste ich, dass das Klo ein Ort war, wo unruhige Kinder gezüchtigt wurden. Das kannte ich nur bei Vater, nicht bei Mutter.
Im Straßendienst, also Stehen an der Straße mit Zeitschriften in der Hand, ich hatte immer Angst, ich könnte angesprochen werden. Es war schlimm.
3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Ich war zwei Mal weg. Das erste Mal war, als ich durch meine Berufsausbildung und mehr Weltkontakte das Rauchen anfing. Dabei wurde ich gesehen. Ich war zu dem Zeitpunkt aber schon innerlich auch abgedriftet. Ich war der Meinung, ich bin ein schlechter Mensch. Das wird nicht mehr anders. Ich wurde vor das Komitee gebracht, das bei mir auch aus 3 älteren Männern bestand. Mit mir machten sie aber nicht viel Federlesen, sie fragten mich nur, ob ich noch Zeuge Jehovas sein will. ich sagte nein und die Sitzung war beendet.
Einige Jahre später kämpfte ich mich durch das Wiederaufnahmeverfahren. Ich hatte das Rauchen aufgehört. Es war hart, aber ich stand es durch. Ich wurde wieder aufgenommen.
Ende 2000 war ich psychisch an einem Punkt angelangt, dass ich nicht mehr konnte. Ich muss dazu erwähnen, dass ich in der Zeit, in der ich ausgeschlossen war, geheiratet hatte. Es war ein Alkoholiker. Ich war dennoch aber nicht von Mutter weg gekommen. Wir hatten zusammen ein Haus gekauft. In dieser Verstrickung zwischen Mutter und alkoholkrankem Mann war ich gefangen.
Ein Psychotherapeut sandte mich in ein anderes Bundesland in eine stationäre Psychotherapie und da wurde mir klar, ich darf alles, nur nicht wieder zurück. Auch nicht zurück zu dieser Religion. Ich bin bis heute nicht ausgeschlossen sondern ich entfloh räumlich, indem ich in dem anderen Bundesland ein eigenes neues Leben begann.
4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?
Ich war überzeugt, es sei die Wahrheit. Es gab für mich da eigentlich keinen Zweifel. Ich zweifelte nur an mir, weil ich gründlich lernte, dass ich kein guter Mensch bin. Selbstbefriedigung war ein Thema. Ich selber sehe es so, dass mir die Religion meine Unschuld genommen hat. Es war eine direkte Auswirkung davon, wie in der Religion mit diesem sehr intimen Thema, das zwar niemanden was angeht, aber das in einem Komitee sicher dennoch krass befragt worden wäre, umgegangen wird. Ein natürlicher Umgang mit dem Thema ist so gar nicht möglich. Außerdem erklärt es mein mieses Selbstbild als schlechter Mensch, denn außer dieser „Sünde“ hatte ich ursprünglich ja nix falsch gemacht. Diese Religion greift bis auf das Intimste in das Leben ihrer Mitglieder ein.
Ich habe mich dennoch mit 15 taufen lassen, unter anderem weil es einfach dazugehörte. Mit 17 wurde ich dann schon wieder ausgeschlossen.
Als ich 2001 weg ging, glaubte ich immer noch daran und hatte den Gedanken, ich nehme das Todesurteil Gottes an. Ich will halt das Leben in diesem Leben noch genießen und dann ist Schluss.
Ich machte viel Therapie, unter anderem in 3 Klinikaufenthalten und arbeitete viel an mir. Mit der Zeit musste ich mir überlegen, was ich glauben will und was nicht. Das Bild vom sündigen Menschen, der nur den Tod wert ist, war für mich nicht aufrecht zu erhalten, wenn ich seelisch gesünder werden wollte.
Ich begann die Wut auf mich selber auf Gott umzulenken. Den urteilenden und wertenden Gott, den ich in der Bibel kennengelernt hatte. Das führte dazu, dass ich irgendwann beschloss, dass es für mich Gott nicht gibt und falls ich mich da irren sollte, dann wollte ich mit diesem Gott nichts mehr zu tun haben.
Ich glaube inzwischen nur noch an den perfekten Kreislauf der Natur. Alles kommt und geht, und außer unseren dummen Gedanken geht nichts wirklich verloren. Damit geht es mir heute gut.
5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?
Meine Mutter hat mich nie geächtet. Sie meinte immer, ihr Glaube sei stark genug, dass sie sich nicht fürchten müsste abtrünnig zu werden. Ab und an versicherte sie sich bei mir, dass eine Ächtung ihrerseits mich nicht zum Glauben zurück gebracht hätte, wie manche ja denken. Ich hatte bis zu ihrem Tod ein intensives Verhältnis mit ihr und habe ihren Glauben genauso respektiert, wie sie am Ende meinen Unglauben.
Wer leider keinen Kontakt zu mir will ist meine Halbschwester. Wir hatten nach meinem Ausschluss sporadisch Kontakt über Briefe, aber seit ich ihr gegenüber mal kritisierte, dass man durch die Ächtung alles verliert und ich das ungerecht finde meinte sie, Gott verteidigen zu müssen und sie will keinen Kontakt mehr. Das ist eine tiefe Wunde in meinem Herzen, die sicher nie ganz heilen wird.
Andere Glaubensbrüder mieden mich in der Zeit in der ich ausgeschlossen war komplett. Da war es mir aber egal.
b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?
Es ist definitiv von oben angeordnet und wurde in den Versammlungen immer wieder so gelehrt, dass man die Versammlung reinhalten muss, und dass man mit Abtrünnigen nicht mal gemeinsam eine Mahlzeit einnehmen sollte.
Es wird auch klar gemacht, dass man Gefahr läuft, den eigenen Glauben zu verlieren, wenn man sich quasi in schlechte Gesellschaft begibt.
Außerdem wird behauptet, man zeige den Ausgeschlossenen damit seine Liebe, denn sonst würde man sie im falschen Weg bestärken. Meidet man sie, mache man ihnen die Rückkehr leichter.
6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?
Ich bin auf Psyche berentet, weil ich eine spezielle Art von Sozialphobie habe. Diese entstand auch durch den Einfluss der Religion, wenn auch nicht nur.
Ich habe immer noch ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität. Ich fühle mich immer noch sündig, wenn ich zugeben sollte, dass ich Sex gut finde. Das behindert mich total darin, Sexualität genießen zu können.
Dennoch geht es mir inzwischen hervorragend. Ich habe ein eigenes Leben. Habe mir mein eigenes Ich zurückerobert. Bin auf meinem Weg. „OnMyWay“ ist auch überall im Internet mein Nickname. Ich bin glücklich verheiratet und habe gute Freunde. Auch wenn ich innerlich immer noch ein wenig abseits der Gesellschaft lebe, weil ich immer ein wenig anders bleiben werde, bin ich sehr glücklich.
7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?
Meine Vergangenheit hat mich geformt. Es hat Spuren hinterlassen. Einige meiner heutigen Eigenschaften, auf die ich sehr stolz bin, entwickelten sich vermutlich nur durch die schwere Zeit, die ich durchgemacht habe.
Ich habe gelernt, dass das wichtigste ist, seinen eigenen Weg zu finden im Leben, nicht Wege, die andere einem vorgeben wollen.
Ich bin weder verbittert noch böse, ich bin dankbar, die heutige Freiheit gewonnen zu haben.
8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?
Ich kann nur raten: Hört nicht auf, selbst zu denken und eine eigene Persönlichkeit zu sein. Das eigene Ich ist so wichtig. Das wird in dieser Religion nicht gern gesehen, es wird gesagt man müsse die neue Persönlichkeit anziehen, sich selbst anerziehen. Aber ihr verliert euer wahres Ich.
Wäre es die Wahrheit und euer Glaube stark genug, bräuchtet ihr nichts zu fürchten und könntet andere Menschen dennoch respektieren in ihren Ansichten und in ihrer Einzigartigkeit.
Ein wahrhaft liebender Gott würde nie so böse handeln und Menschen grundlos verurteilen.
Das ist keine Liebe, das ist herrschen wollen!