ÜberLebensweg – Rosina aus H.

Rosina


1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Meine Eltern haben sich, als ich ein Jahr alt war, taufen lassen.
Ich bin also quasi hineingeboren.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Von Kind auf habe ich meinen Alltag als sehr anstrengend wahrgenommen. Ich konnte als Kind nach der Schule nicht einfach mit meinen Schulfreunden spielen. Weil es weltliche Kinder waren und weil ich auch wenig Zeit hatte.
Jede Woche war völlig durchstrukturiert, der Fokus war der Glaube. Täglich die Bibel lesen, 3 mal die Woche zur Versammlung, sich jedesmal dafür vorbereiten, 1-2 mal die Woche in den Predigtdienst. Außerdem jederzeit jede Gelegenheit nutzen, um anderen deinen Glauben nahezubringen.

Für meine Hobbys gäbe es keine Zeit, das könne ich im Paradies machen, bis dahin muss man so vielen Menschen wie möglich helfen, die Wahrheit zu finden. Das waren die Worte meiner Eltern – gefühlt zu allem, was ich im Leben wollte. Im Laufe der Jahre wurde das immer schlimmer. Ich wollte nicht vor jedem Handeln, jedem Hobby überlegen, ob das den Lehren der Zeugen entspricht. Ich hatte keine Kraft, die Lieder die ich höre, die Filme die ich schaue, Bücher die ich lese, meinen Kleidungsstil, immer wieder zu hinterfragen und immer wieder mit meinem Glauben abzugleichen. Die ständige Angst, Fehler zu begehen und zu wissen, dass Jehova jeden deiner Fehler sieht. Es gab so viele Regeln, dass es eigentlich gar nicht möglich ist, fehlerfrei zu leben, schon gar nicht als Jugendlicher.

Ich wollte ein freies Leben führen. Mich selbst entfalten, selbst ausprobieren was ich mag und was ich nicht mag. Das war nicht erwünscht, was du darfst und was nicht, war schon vorgegeben. Nichts was mich als Person, mein Individuum bestärkt hätte, wurde gesehen. Ich habe mich gefühlt, als wäre ich nichts wert.
Man war einfach nur einer von vielen Zeugen Jehovas, die alle gleich aussehen, gleich handeln und denken, wo kein Raum für Persönlichkeiten ist.

Ich habe früh angefangen in zwei Welten zu leben. Ich war einerseits das vorbildliche Kind in der Versammlung und andererseits war ich in der Schule zwar immer das ‚Zeugen Jehovas Kind‘, aber ich habe mich so gut es ging angepasst, um niemals als Außenseiterin zu gelten. Das hat auch gut geklappt, ich war nie eine Außenseiterin und ich wurde wegen meiner Religion nie gemobbt. Aber das hatte einen Preis. Und zwar mein Gewissen. Ich war schon in früher Kindheit geplagt von Schuld- und Schamgefühlen gegenüber meinen Eltern, der Gemeinschaft und Jehova. Mir war die ganze Schulzeit bewusst, dass ich kein gutes Licht auf die Zeugen Jehovas werfe. Ich war mein Leben lang im Zwiespalt –  entweder gefalle ich meinen Eltern, der Gemeinschaft und Jehova, oder mir selbst.

Ich habe mich trotz allem mit 16 taufen lassen. Das ist sehr spät für ein Kind eines Ältesten und einer Pionierin. Ich wurde schon Jahre vorher dazu ermuntert und es wurde innerhalb der Versammlung ein immer größeres Thema, dass ich noch nicht getauft bin. Es hat nicht mehr ausgereicht, dass meine Eltern so ein gutes Vorbild sind, das gleiche wurde nun von mir erwartet. Ich habe mich für meine Taufe entschieden, um den anderen Mitgliedern zu gefallen. Damit meine Eltern und meine Brüder und Schwestern stolz auf mich sind. Damit ich nicht mehr die bin, die sich nicht taufen lässt. Damit alle sehen, dass ich ein Teil der Gemeinschaft sein möchte. Mit der Liebe zu Jehova hatte das gar nichts mehr zu tun. Und so habe ich mich mit 16 taufen lassen. Bei der Taufansprache hatte ich einen Moment, wo ich mich gefragt habe: Was mache ich hier bloß? Ich hatte eine kurze Hoffnung, dass mir nach der Taufe alles leichter fällt und ich glücklich werde. Im Nachhinein betrachtet, finde ich es sehr erschreckend, wie ich immer wieder versucht habe, bei den Zeugen Jehovas glücklich zu werden.

Aber vergeblich. Mir ging es mental immer schlechter, bis ich gemerkt habe, dass ich keinen Tag länger zu Hause unter dem Druck der Religion überlebe. Ich hatte lange mit der Entscheidung gehadert, ganz im Stillen. Mir war bewusst, dass ich in dem Moment alles und jeden verlieren werde. Der Druck in mir war jedoch irgendwann so stark, dass ich gehen musste, um weiterleben zu können. 

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Gab es ein ausschlaggebendes Ereignis?

Ich bin mit 17 ausgetreten und mit 18 ausgeschlossen worden. Für mich schon fast zu spät.

Ich war 17 als ich mein Gespräch mit dem Rechtskomitee hatte. Für mich selbst war alles klar, ich wollte nicht mehr bei den Zeugen Jehovas sein. Doch als die drei Ältesten vor mir saßen, die mich seit dem ich ganz klein bin kennen und ich deren Gesichter gesehen habe, die pure Enttäuschung ausstrahlten, wurde ich ganz klein. Es war eine Überwindung aber ich habe es endlich geschafft mich offiziell zu äußern, dass ich kein Mitglied mehr sein möchte. Ich habe an allem nicht mehr teilgenommen und scheinbar war ich zu dem Zeitpunkt auch schon kein Teil mehr für andere Mitglieder, denn es hat sich kaum jemand bei mir gemeldet. Ausgeschlossen wurde ich jedoch noch nicht, warum das nicht sofort erfolgte, ist mir selbst bis heute ein Rätsel. 

Kurze Zeit später habe ich meine Sachen gepackt, alles was mir wichtig war und ich tragen konnte und habe mein zu Hause verlassen, ohne zu wissen, wohin es geht. Am selben Tag habe ich eine dreimonatige stationäre Therapie angefangen. Dort hat man mir geholfen, einen Platz in einer Jugendwohnung zu finden, wo ich bis zum 19. Lebensjahr gelebt habe. 

Ausgeschlossen wurde ich mit 18, ungefähr 10 Monate nach dem Gespräch mit dem Rechtskomitee und meinem Auszug. In einem Moment, wo ich mir langsam was aufgebaut habe. Ich habe mich in der Jugendwohnung eingelebt, habe meine Ausbildung wieder angefangen, die ich abbrechen musste und habe meinen Freund kennengelernt. Da bekam ich plötzlich eine SMS von meiner Mutter, dass mein Ausschluss verkündet wurde. Obwohl mein Ausschluss längst überfällig war, war das nochmal wie ein letzter Schlag. Verändert hat sich in dem Moment für mich jedoch nichts. Ich wurde schon längst von allen geächtet und hatte auch mit meinen Eltern keinen Kontakt mehr.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Wie schon erwähnt war ich das Kind eines Ältesten und einer Pionierin. Ich hatte das Gefühl, dass von mir mindestens das gleiche Engagement erwartet wird, wie von meinen Eltern.

Ich habe mit 17 Jahren, mit meinem Austritt, wenig am Glauben selbst gezweifelt. Das war nicht die Intention meines Austritts. Ich wollte so nicht leben. Ich wollte frei sein, mehr wollte ich nicht. Dass die Lehren kompletter Blödsinn sind und ich in einer Sekte aufgewachsen bin, das wurde mir erst Jahre später bewusst.

Im Nachhinein betrachtet weiß ich, dass ich an einer Sache immer gezweifelt habe. Als Kind habe ich auch noch offen mit meinen Eltern darüber gesprochen. Meine Großeltern, die Eltern meines Vaters gehörten nie zu den Zeugen Jehovas und waren auch eher abgeneigt, aber wir hatten immer guten Kontakt. Meine Oma ist bis heute einer der wundervollsten Menschen, den ich jemals kennenlernen durfte. Für mich war es unvorstellbar, dass gute Menschen, wie zB. meine Oma, in Harmagedon sterben, nur weil sie keine getauften Zeugen Jehovas sind. Meine Eltern konnten mir nie eine befriedigende Antwort geben. Ich habe meinen Vater nie verstanden, wie man sich aufs Paradies freuen kann mit dem Wissen, dort ohne seine Eltern, seinen Bruder, oder mit sonst jemanden aus seiner Familie zu leben, die nie Teil der Gemeinschaft waren. Das Gefühl von ‚Das kann kein Gott so wollen‘ ist immer geblieben.

5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ich habe seit 15 Jahren keinen Kontakt zu meinen Eltern. Zu der Familie meiner Mutter ebenfalls nicht. Ich habe von einen auf den anderen Tag meine Eltern, meine Familie, meine Freunde, meine gesamten sozialen Kontakte und mein Zuhause verloren.
Man muss sich das kurz mal vorstellen. Ich bin bei den ZJ groß geworden. Meine einzigen Freunde sind bei den ZJ. Ich habe meine Versammlung, die Mitglieder, die wie eine Familie für mich sind. Kinder mit den ich aufgewachsen bin und andere die gesehen haben, wie ich groß werde. Menschen, mit denen ich sehr viel Zeit verbracht habe. Ich habe in 17 Jahren vermeintlich tolle Freundschaften geschlossen. Bis zu dem Tag als ich mich dazu entschlossen habe, die ZJ zu verlassen. Ab dann war komplette Funkstille.

Meine Eltern haben sich von mir verabschiedet, mit einem Fotoalbum mit Bildern von Zeugen Jehovas und mir, den Menschen, die mich ab jetzt ächten. Ich stand allein da in einer Welt, die ich nie kennenlernen durfte. Dieses Gefühl, was ich in der Zeit hatte, werde ich wohl nie vergessen.

b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?

Weil das ein krankes Spiel ist.
Man verliert alle sozialen Kontakte. Jeder kann sich in etwa vorstellen, wie schlimm das ist. Manche halten es auch nicht aus und kommen tatsächlich zurück oder gehen daran kaputt. Das ist so beabsichtigt, die Ausgeschlossenen sollen leiden, um wieder zurückzukehren. Sie sollen schmerzhaft spüren, was es heißt, nicht mehr im Schutz der Gemeinschaft zu leben.
Ich selbst habe ausgeschlossene Mitglieder geächtet. Nicht nur das, auch meine eigenen Familienmitglieder, wie meine Cousine und meinen Cousin.

Die Anweisungen waren für mich immer ganz klar. Du darfst mit einem ausgeschlossenen Zeugen Jehovas keinen Kontakt haben, bei Familienmitgliedern nur das Unvermeidliche. In meinem Fall, zwei Beerdigungen in 15 Jahren, wo ich meine Eltern gesehen habe.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Nach 15 Jahren kann ich sagen, mir geht es gut. Ich bin jedoch durch große Tiefen gegangen und hatte mehrmals therapeutische Hilfe. Es ist wie ein Prozess der Trauer, nur ist niemand gestorben.
Meine Eltern werden jetzt älter, ich kriege nichts davon mit. Genauso wie meine Eltern nichts von meinem Leben wissen. Damit muss ich mich abfinden. Das ist nicht immer einfach und ich weiß, in meinem Leben werden noch viele Situationen kommen, wo ich gerne meine Familie an meiner Seite hätte.
Das ist etwas, womit ich bis zum Ende meines Lebens leben werde.
Das sind die Auswirkungen für ehemaligen Zeugen Jehovas.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Mein Fazit, kurz und knapp:
Ich bin in einer Sekte aufgewachsen und stolz darauf, es rausgeschafft zu haben.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Vor allem an zweifelnde Mitglieder:
Wenn euch etwas zweifeln lässt und/oder ihr unglücklich seid, hört auf eure Gefühle. Es ist das schlimmste was mir im Leben passiert ist, alles zu verlieren und mit 17 komplett alleine von vorne anzufangen. Aber ich würde diese Entscheidung immer wieder so treffen! Ich habe nicht einen einzigen Moment meinen Entschluss bereut.
Ich wünsche mir für alle zweifelnden Mitglieder den Schritt zu wagen.
Ihr werdet es nicht bereuen.